Schura Terletska
Geboren am 3. Juni 1927, in Odessa (Ukraine)
Nachdem Deutschland die Sowjetunion überfallen hatte, schickten meine Eltern mich und meinen jüngsten Bruder zu den russischen Großeltern nach Konstantinovka bei Odessa. Mein Vater war Soldat bei der Armee, meine Mutter kam in das jüdische Ghetto Bogdanovka, wo später alle ermordet wurden. Durch die Ereignisse gewarnt, verschwieg ich im KZ meine jüdische Abstammung.
Auch auf dem Land waren Kinder und Jugendliche nicht vor Übergriffen der Deutschen sicher. Anfang Oktober 1942 wurde ich im Alter von 15 Jahren auf offener Straße verhaftet, in einen von vielen Eisenbahnwaggons getrieben und nach Deutschland deportiert. In der Nähe von Stuttgart habe ich als Zwangsarbeiterin für Bosch gearbeitet, ich musste täglich zwölf Stunden an der Werkbank stanzen und bohren. In den Lagerbaracken waren 200 bis 300 Menschen untergebracht, alles Russen. Da uns niemals ein Grund für unsere Verschleppung genannt worden war, beschlossen wir, von der Lagerleitung eine Auskunft zu verlangen. Als wir keine Antwort bekamen, weigerten wir uns, morgens zur Arbeit zu gehen. Die Gestapo kam mit Hunden ins Lager. Eine Freundin und ich wurden vorgeschickt, um mit den Gestapo-Männern zu sprechen. Die Folgen waren uns nicht klar. Die Gestapo vermutete einen organisierten Widerstand, und wir beide wurden auf der Stelle verhaftet.
Die Aufseherinnen in Neubrandenburg prügelten noch mehr als in Ravensbrück
Wir kamen zunächst ins Gefängnis nach Stuttgart, dann nach etwa drei Wochen gemeinsam mit anderen Russinnen in Güterwagen über Halle und Leipzig nach Ravensbrück. Ich bekam die Häftlingsnummer "17999". Die ersten Monate musste ich dort schwer arbeiten, unter anderem auch die riesige Walze ziehen, mit der die Lagerstraße planiert wurde. Wir Russinnen wurden besonders grausam behandelt. Wenn ich nicht Ende 1943 in das Außenlager Neubrandenburg abkommandiert worden wäre, hätte ich nicht überlebt. Dort stand ich am Fließband der Mechanischen Werkstätten mbH, drehte zusammen mit Frauen aus vielen Ländern Teile für die Rüstungsindustrie. Auch in Neubrandenburg fiel mir auf, dass die Russinnen besonders gemein behandelt wurden. Täglich mussten wir Frauen nach der Arbeit noch mehrere Stunden Appell stehen, die Aufseherinnen in Neubrandenburg prügelten noch mehr als in Ravensbrück.
Am 29. April 1945 befreite uns die Sowjetarmee. Bitter war es, dass wir Zwangsarbeiterinnen von den eigenen Soldaten als Verräter betrachtet wurden. Man unterstellte uns, dass wir freiwillig für die Kriegsproduktion der Deutschen gearbeitet hätten. Viele Verhöre und Untersuchungen folgten, ich kam in ein Lager bei Warnemünde, und erst nach einem Jahr konnte ich in meine Heimat zurückkehren. Der Neuanfang in Odessa war nicht leicht: keine Wohnung, kein Pass und regelmäßige Kontrollen beim NKWD, der russischen Geheimpolizei, denn der Verdacht einer Verräterin lastete weiterhin auf mir. In Odessa fand ich meinen Bruder und meine Großmutter wieder. 1949 heiratete ich und bekam 1951 eine Tochter. Ich arbeitete als Buchhalterin. Erst unter Nikita Chruschtschow ließen die Repressionen nach, aber zu einer vollständigen Rehabilitation der "Ostarbeiter", der Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion im Dritten Reich,kam es erst während der Perestroika. 1985 wurde ich als Kriegsveteranin anerkannt. Seit Juni 1994 lebe ich mit meiner Tochter und mit meinem Schwiegersohn in Berlin.
Quelle: Frauenkonzentrationslager Ravensbrück - Kalendarium 2000, Senatsverwaltung für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen, Berlin, 1999