Stella Nikiforova
Geboren am 29. Juli 1939, in Antwerpen (Belgien)
Ich bin am 29. Juli 1939 in Antwerpen geboren. Dort hatten meine Eltern als spanische Juden nach dem Bürgerkrieg Zuflucht gefunden. Ich war kaum ein Jahr alt, als die Deutschen Belgien besetzten. Meine Mutter hat ihre Eindrücke über die schrecklichen Ereignisse dieser Tage und die Flucht nach Ostende in einem Tagebuch festgehalten. Bei der Verhaftung meiner Eltern haben Freunde dieses Tagebuch versteckt: Es ist mir gewidmet. Meinen zweiten Geburtstag konnten wir noch zusammen begehen. Als hätte mein Vater die schreckliche Zukunft vorausgeahnt, sagte er zu mir: "Denk daran, wenn irgend etwas passiert: Du heißt Stella." Kurz darauf wurde mein Vater wegen Sabotage verhaftet, meine Mutter und ich wurden nach Deutschland deportiert. Ich war vier Jahre alt, als ich ins KZ Ravensbrück kam.
Mein schönes langes Haar wurde abgeschnitten und mit einer stinkenden Flüssigkeit übergossen. Meine schwerkranke Mutter sah ich noch zweimal ganz kurz im Krankenrevier. Eines Tages sagte eine Frau zu mir: "Stella, Deine Mutter haben sie verbrannt." Diese Worte nahm ich ruhig hin, ich konnte ihre Bedeutung einfach nicht verstehen. Andere Frauen kümmerten sich um mich: Ständig spürte ich ihre Fürsorge und bekam ein Stückchen Brot von ihnen, das sie sich vom Munde abgespart hatten. Wie grausam waren dagegen die SS-Aufseherinnen. Wenn sie mit Proviant im Netz an uns vorbeischlenderten und wir Kinder uns ihnen, vom Hunger wie magisch angezogen, näherten, in der Hoffnung, vielleicht etwas davon abzubekommen, traten sie nach uns mit ihren blank geputzten Stiefeln.
Nach 20 Jahren konnte ich meinen Vater umarmen
Zu Beginn des Jahres 1945 wussten auch wir Kinder, dass sich die Rote Armee näherte. Auf einem Karren verließen wir im April das Lager und erlebten auf dem Marsch Bombardierungen. Die Russin Olimpiada Tscherkassova kümmerte sich wie eine liebevolle Mutter um uns Kinder. Unser Weg führte über Polen in die Sowjetunion. In Briansk gab mich "Tante Lipa" in ein Kinderheim und machte sich auf die Suche nach ihren eigenen Kindern. Zehn Jahre blieb ich in dem Kinderheim, und nur wenige von uns Heimkindern haben ihre Eltern wiedergefunden. Unvergesslich bleibt für mich ein Neujahrsfest: In einem Raum mit einem Weihnachtsbaum war es schön warm und im Ofen brannten Holzscheite. Da wurde mir klar, dass meine Mutter auch so gebrannt hatte. Ich begann vor Entsetzen zu schreien. Seitdem wird dieser Tag für mich unvergesslich bleiben.
Stella Nikiforova (© privat)
Stella Nikiforova (© privat)
Als ich 16 Jahre alt wurde sollte ich einen Pass bekommen und damit auch einen Vaters- und Familiennamen. Nach langem Grübeln fanden wir auch einen: Stella Vladimirovna, Vladimir Lenin zuliebe, geboren am 1. Mai 1939. Im Sommer 1961 fand in Moskau ein Treffen der Ravensbrückerinnen statt. Dort begegnete ich Erika Buchmann, die meine Mutter gekannt hatte. Sie knüpfte für mich Kontakte nach Belgien. Am 22. Dezember 1962 erfuhr ich die Adresse meines Vaters, der inzwischen in Brasilien lebte. Nach 20 Jahren konnte ich meinen Vater umarmen. Auch meine Geburtsstadt Antwerpen besuchte ich. Seit langem bin ich auch Mutter zweier Kinder, und meine Kinder, Artjom und Valentina, sind ohne Krieg groß geworden. Doch meine zerstörte Kindheit und die bittere Zeit als Waise lässt sich nicht vergessen.
Quelle: Frauenkonzentrationslager Ravensbrück - Kalender 2000, Senatsverwaltung für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen, Berlin, 1999