Wie kein anderer Ort steht Auschwitz für die Verbrechen der Nationalsozialisten und für den Völkermord an den europäischen Juden. In Deutschland ist diese Verbindung durch den zentralen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar sogar gesetzlich manifestiert. Viele andere Orte nationalsozialistischer Verbrechen geraten dabei jedoch in Vergessenheit und stehen damit "im Schatten von Auschwitz". Im Schatten steht damit aber auch die Erinnerung an die Opfer, die an diesen Orten ermordet wurden. Die Idee der Fachtagung und des Buches "Im Schatten von Auschwitz" war das Anliegen, auch diese anderen Orte in den Fokus zu rücken, erklärten Hans-Georg Golz und Hanne Wurzel von der Bundeszentrale für politische Bildung zur Eröffnung der Tagung. Martin Langebach, der die Veranstaltung gemeinsam mit Hanna Liever geplant und auch mit ihr zusammen das Buch dazu herausgegeben hat, fügte hinzu, Ziel der Tagung sei es, einen Rahmen für Austausch zu bieten, indem sich Kontakte knüpfen lassen, und über Programme zu informieren, die Studienfahrten zu weniger bekannten Gedenkstätten anbieten.
Das Auschwitz nicht nur in Deutschland zu dem zentralen Synonym des industriellen Massenmordes und damit auch des Gedenkens an die Opfer geworden ist, daran erinnerte auch Hanna Liever noch einmal: Mehr als doppelt so viele Menschen als zu allen anderen Gedenkstätten in Polen zusammen, besuchen jährlich die Gedenkstätte Auschwitz.
Im Rahmen der Fachtagung konnten die Teilnehmenden auch die Ausstellung "Im Schatten von Auschwitz" des Fotografen Mark Mühlhaus besuchen. Die Aufnahmen entstanden auf einer Exkursion im Frühjahr 2016 zu neun, in Deutschland wenig oder völlig unbekannten Orten in Osteuropa - nach Chelmno, Belzec, Sobibor, Treblinka, Lublin-Majdanek, Maly Trostenez sowie nach Babyn Jar, Kamjanez-Podilskyj und Lwiw-Janowska. Mühlhaus gelang es dabei, eigene Zugänge zu diesen unterschiedlichsten Orten der Erinnerung zu finden.
Die Ausstellung kann kostenfrei ausgeliehen werden, es fallen lediglich Lieferkosten an. Kontakt zum Fotografen und Ausstellungsmacher: E-Mail Link: Mark Mühlhaus, Externer Link: www.attenzione-photo.com
Susanne Heim: Die nationalsozialistischen Massenmorde in Osteuropa
Inhaltlich startete Susanne Heim vom Institut für Zeitgeschichte in Berlin die Fachtagung. Sie lieferte den thematischen Rahmen für die Veranstaltung und informierte die Teilnehmenden über den aktuellen Forschungsstand.
"Raub, Vertreibung und Genozid waren Konzept der Nationalsozialisten, sie galten als probate Mittel zur Ausdehnung des Lebensraums", erklärte Heim zu Beginn ihres Vortrags. Aber eine Erfindung der Nazis sei die Idee von der Ausdehnung in den Osten mitnichten gewesen. Schon während des Ersten Weltkriegs hätten deutsche Akademiker Osteuropa zum "natürlichen Siedlungsgebiet der Deutschen" deklariert. Ebenso wenig sei die Idee der deutschen Überlegenheit eine neue gewesen. Auch früher schon habe der Westen als Gegenbild des "wilden Ostens" gegolten. Der "Ostjude" sei innerhalb dieser Gedankenwelt zur Inkarnation dessen geworden, was Schlechtes über den Osten gesagt wurde: "Armut, Schmutz, Fremdheit - eine Gedankenwelt, die in ihrer Verbindung mörderisch wurde", so die Forscherin.
"Wertes" und "unwertes" Leben
Wie kein anderer Ort stehe Auschwitz heute für die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten. Begonnen habe diese Politik aber nicht in Auschwitz, und nicht erst 1940. Schon unmittelbar nach der "Machtergreifung" habe die nationalsozialistische Politik Leben in "wert" und "unwert" unterschieden, konkret mit dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14. Juli 1933. Neben Menschen mit erblich bedingten Krankheiten zählten die Nazis auch Alkoholiker zu "Erbkranken" oder Frauen, denen häufig wechselnde Geschlechtspartner nachgesagt wurden.
Zu Beginn der nationalsozialistischen Euthanasiepolitik seien Menschen, die von den Nationalsozialisten als nicht oder weniger lebenswert eingeordnet wurden "nur" sterilisiert worden, später dann auch ermordet. Lange bevor an der Rampe von Auschwitz-Birkenau selektiert wurde, seien in Einrichtungen mitten in deutschen Städten Menschen in "wert" und "unwert" getrennt worden.
Susanne Heim zeichnete im Folgenden die Stationen der nationalsozialistischen Euthanasiepolitik nach. Sie sprach über die mit Beginn des Zweiten Weltkriegs einsetzenden Patientenmorde, durch die zwischen Januar 1940 und August 1941 70.000 Menschen mit Giftgas ermordet wurden, über die Unterbrechung des Programms nach öffentlichem Protest des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen und über die spätere dezentrale Fortsetzung. Einen "Testfall" hätten die Nationalsozialisten mit dem Euthanasieprogramm initiiert, erklärte Heim: "Für die Nazis stand fest: Sollte die Bevölkerung sich nicht auflehnen, wenn Verwandte und Bekannte verschwinden, dann werden sie es sicher auch nicht bei den Juden tun".
Aussiedlungspolitik
Zu Beginn ihres Vortrages hatte die Historikerin bereits die Lebensraumideologie der Nationalsozialisten angesprochen. Umgesetzt werden sollte Hitlers Idee von einer ethnographischen Neuordnung in Osteuropa von Heinrich Himmler, der dafür zum "Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums" ernannt wurde. Er sollte die Aussiedlungspolitik koordinieren und steuern. Die Idee der Nazis sei gewesen, ganze Gebiete "einzudeutschen." Dafür sollten Angehörige der deutschen Minderheiten, die zuvor in anderen Gebieten Süd- und Osteuropas gelebt hatten, "heim ins Reich" geholt werden. "Gelockt" worden seien sie mit den Höfen, Geschäften und Wohnungen der Menschen, die zuvor vertrieben worden waren. "Dies geschah auf Kosten eines Großteils der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung sowie nahezu aller Jüdinnen und Juden." Bereits in der ersten Dezemberhälfte 1939 seien so 88.000 Menschen aus den annektierten westpolnischen Gebieten deportiert worden – langfristig sahen die Pläne die Vertreibung allein von 3,4 Millionen Menschen vor. Zwar sei bei der Planung dieser Maßnahmen das Töten von Menschen nicht das Ziel gewesen, zumindest aber im Ural und in der Eismeerregion sei das Sterben bewusst in Kauf genommen worden.
Der verbleibenden slawischen Bevölkerung sei in den Plänen zur Neuordnung Osteuropas nur die Rolle von Arbeitssklaven zugedacht worden. Bei dem gigantischen Ausmaß der deutschen Kolonisierungspläne sei darauf nicht zu verzichten gewesen – eine "Ausrottung" also nicht infrage gekommen. Um der einheimischen Bevölkerung jedoch nicht auf Dauer unterlegen zu sein, seien Strategien zur "Schwächung des russischen Volkskörpers" angewendet worden. So sei für die zu kolonisierenden Gebiete der Erlass ausgesprochen worden, dass bei Verbrechen gegenüber der Bevölkerung kein Verfolgungszwang bestehe. Für die deutschen Soldaten eine Art "Vorab-Persilschein", erklärte Susanne Heim. Zudem sei die heimische Bevölkerung zu Pogromen gegen Juden angestachelt worden, "das Pogrom von Lemberg 1941 ist ein Beispiel". Kriegsgefangene Soldaten der Roten Armee habe man zudem einfach verhungern lassen, Juden und Partisanen - und wer dafür gehalten wurde - seien ausnahmslos getötet worden.
Als "wertvoll" erachtete Völker sollten hingegen eingedeutscht werden, denn es gab "zu wenig Volk für den ganzen Raum", sagte Susanne Heim über die Pläne der Nationalsozialisten.
Unstrittig sei, dass die Brutalität mit der die Ausweitungspolitik betrieben wurde im Reich selbst bekannt war. Auch die Massenerschießungen - spätesten ab August 1941 war das Morden auch auf jüdische Frauen und Kinder in den gerade eroberten Gebieten ausgeweitet worden - seien kein Geheimnis gewesen, heimkehrende Soldaten hätten darüber berichtet. Bisweilen sei Berichterstattung sogar Teil der NS-Propaganda gewesen. Der Osten sei jedoch als "blühende Landschaft" beschrieben worden: "Bauer in den Ostgebieten, als Kind wollte man das später werden. Über die Menschen, die dafür weichen mussten, wurde nicht gesprochen", so Heim.
Vernichtung
Bei der Wannseekonferenz im Januar 1942 sei es dann nicht mehr um das "ob", sondern nur noch um das "wie" gegangen. "Besprochen wurden hier nur noch die Modalitäten. Das Protokoll ist da völlig eindeutig, auch wenn darin nicht namentlich von Mord gesprochen wird. Im Nachgang rollten Eisenbahnwagons durch ganz Europa."
Zum Abschluss erinnerte Susanne Heim daran, wie lange auch Deutschland gebraucht habe um sich kritisch mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen und seiner Verantwortung zu stellen. Beispielhaft nannte sie dafür den Fall des Architekten Gerhard Ziegler, der als Landesplaner mit dem Bau des Konzentrationslagers Auschwitz beschäftigt war, später als Mitläufer eingestuft wurde und 1966 das Große Bundesverdienstkreuz erhielt.
In der anschließenden Diskussion ging die Historikern noch einmal darauf ein, dass es wichtig sei, sich mit der Vielzahl der Orte nationalsozialistischer Verbrechen zu beschäftigen: "Oradour-sur-Glane kennt man, und auch Lidice. Aber unzählige Dörfer und Landstriche in Osteuropa, in denen SS, Wehrmacht und auch Polizei systematisch mordeten, die kennt keiner. Von vielen habe auch ich noch nicht gehört, und das obwohl ich mich seit Jahren damit beschäftige." Auf die Internationalisierung der Forschung angesprochen verwies Heim auf die große Bedeutung dieser Entwicklung, betonte jedoch, dass dies nicht zu einer Relativierung der Verbrechen führen und nicht davon ablenken dürfe, dass es den Holocaust ohne die Deutschen nicht gegeben hätte, "egal wie stark sich auch andere an der Vernichtung beteiligt haben."
Auch im Zusammenhang mit der Internationalisierung der Forschung kam die Frage nach heute noch bestehenden Forschungslücken auf und ob neue Ergebnisse eigentlich noch zu erwarten seien. Heim bejahte das mit Nachdruck: Rumänien sei ein Beispiel dafür, dass in manchen Ländern bislang wenig geschehen sei, viel noch ungesehen in den Archiven liege. Manches sei vielleicht von einzelnen Forschern ausgewertet worden, in Deutschland bekannt seien solche Arbeiten aber oft nicht. Auch heute würde man selbstverständlich noch viel Neues entdecken, das würde sie selbst bei der eigenen Forschung regelmäßig feststellen. Sicher würde das nicht zu einer neuen Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkriegs und der Massenvernichtung durch die Deutschen führen, aber es gebe noch viel herauszufinden: über das Verhältnis der jeweiligen Bevölkerung zu den Besatzern, zu kollaborierenden Institutionen und zu den Stimmungen in der Bevölkerung. Sicher sei auch einiges zu finden, das sich heute noch keiner vorstellen könne. Beispielsweise sei die massenhafte Enteignung der Juden noch in den 1990er-Jahren kaum Forschungsgegenstand gewesen, da sie neben dem Völkermord keine Bedeutung zu haben schien; "heute ist das ein großes Forschungsgebiet". In einigen Ländern sei jedoch auch immer wieder der Trend zu beobachten, das "Rad zurückdrehen" zu wollen - "alles so schlimm nicht gewesen, schon gar nicht die Beteiligung der einheimischen Bevölkerung". Es gebe also noch "reichlich zu tun", auch heute könne Forschung noch Überraschendes zu Tage bringen.
Für den Band
Jörg Ganzenmüller: Erinnerung und Gedenken in Osteuropa
Der nationalsozialistische Massenmord forderte seine Opfer überall in Europa. Die Geschichte dieser Länder nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sorgte jedoch für ganz unterschiedliche Arten der Aufarbeitung und wirkt in der nationalen Erinnerungskultur bis heute fort. Wie wichtig es ist, über diese Unterschiede zu informieren, darüber sprach Prof. Jörg Ganzenmüller von der Stiftung Ettersberg in Weimar.
Sogar zwischen den alten und neuen Ländern der Bundesrepublik könnte man Unterschiede im Gedenken an die Verbrechen und die Opfer des Nationalsozialismus festmachen. Umso weniger dürften Unterschiede im nationalen Gedenken also verwundern, erklärte Ganzenmüller. Seine Ausführungen stützen sich vor allem auf zwei Reisen an Orte der Shoa nach Polen im Jahr 2014 und in die Ukraine im Sommer 2017. Was ist an den Orten passiert und wie sehen sie heute aus? Diese Fragen leiteten ihn während der Forschungsreisen. Denn heute erzählten diese Orte erst einmal gar nichts über ihre Geschichte. Das läge an den Tätern, die ihre Spuren nach dem Zweiten Weltkrieg zu verwischen wussten, oft auch an der Natur, die sich die Orte zurückgeholt habe, aber manchmal eben auch den Gedenkstätten selbst. Um die Gestaltung der Orte heute zu verstehen, müsste man sich daher mit ihrer Geschichte nach 1945 beschäftigen, genauso wie mit der Shoa.
Beschäftigung mit Nachkriegsgeschichte zentral
Wichtig bei der Auseinandersetzung mit der Thematik sei, sich bewusst zu machen, dass der deutsche Fall im internationalen Vergleich eine Ausnahme bilde und Vergleiche deutscher Erinnerung mit der anderer Nationen daher immer mit besonderer Vorsicht geschehen müssten. Die intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte aus deutscher Perspektive habe dazu geführt, dass die gesamte Shoa in Deutschland als Teil der deutschen Geschichte betrachtet und immer auch in Verbindung mit den Traditionen des Antisemitismus in Deutschland und Europa behandelt würde. Andere nationale Perspektiven, welche die Opferrolle der Juden weniger zentral behandelten, würden daher von Deutschen oft nicht verstanden.
Gerade beim Besuch von Gedenkstätten außerhalb Deutschlands würde sich das bemerkbar machen. Die Art der Erinnerung würde von Deutschen oft mit Skepsis und Unverständnis betrachtet. Als Vorbild für andere Gesellschaften dürfte die deutsche Art und Weise des Erinnerns aber nicht dienen: ein solcher Ansatz würde vielmehr in eine "intellektuelle Sackgasse" führen, da Unterschiede dann automatisch als Rückständigkeit gedeutet würden.
Jörg Ganzenmüller sprach anschließend konkret über die Unterschiede der polnischen, ukrainischen und weißrussischen Erinnerung. Um diese zu verstehen, müsse man sich zunächst der Unterschiede in der historischen Perspektive bewusst werden. So sei die polnische Erinnerung geprägt von den Schrecken der deutschen Besatzung und - so wie auch die ukrainische und weißrussische - heterogen. Schon während des Zweiten Weltkriegs habe es in Polen unterschiedliche Auffassungen darüber gegeben, inwieweit es sich bei jüdischen und nicht jüdischen Polen um eine gemeinsame Schicksalsgemeinschaft handeln würde. So gebe zum einen die Erzählung von der einen, durch die deutsche Terrorherrschaft verbundenen Gemeinschaft, als auch die von Juden als Opfern antisemitischer Polen: Polen als Mittäter, mitverantwortlich für den Tod tausender polnischer Juden.
Bis heute würden diese beiden zeitgenössischen Sichtweisen die geschichtswissenschaftliche Debatte prägen. Gegen eine kritische Geschichtsschreibung würden sich Verfechter eines nationalen Geschichtsbildes jedoch vehement wehren. Ähnlich kompliziert sei auch die Debatte über das Verhältnis von nationalpolnischem Widerstand und jüdischer Bevölkerung. Beide seien jedoch Opfer des Nationalsozialismus - an Orten der Shoa. Der Fokus der Erinnerung liege dort jedoch heute oft nicht auf den jüdischen Opfern, sondern auf "nationalen Heldenmythen", so Ganzenmüller.
Dies gelte genau so auch für die Ukraine und Weißrussland. Diese daraus resultierende "Opferkonkurrenz" geht im Falle der Gedenkstätte Auschwitz weit zurück, nämlich bis in das Jahr 1946, als die Gedenkstätte unter der Überschrift "Vernichtung von Millionen" gegründet wurde. Der Ermordung der Juden wurde nicht gesondert gedacht.
Opferkonkurrenz
In Polen sei Auschwitz über die Jahre zum Symbol für die Leiden der Bevölkerung unter deutscher Besatzung geworden. Ganz anders also als in Deutschland, wo kein Ort so sinnbildlich für den Holocaust und den Massenmord an den Juden Europas stehe. Um das verstehen und einordnen zu können, sei es wichtig, über die deutsche Besatzungsherrschaft in Polen Bescheid zu wissen. Gleichzeitig sei es problematisch, wenn Deutsche in Auschwitz eine rein jüdische Opferperspektive einnähmen und dabei das Leid, das die deutschen Besatzer über die polnische Bevölkerung gebracht haben, außer Acht ließen. Noch problematischer sei es, wenn deutsche Besucher im gleichen Atemzug auch die Frage nach der polnischen Mitverantwortung stellten.
In der Sowjetunion sei die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg eine Erinnerung an die "Verteidigung des Vaterlandes" gewesen. Opfer seien gleichermaßen "Opfer des Faschismus", individuelles Gedenken dabei kaum möglich gewesen. Als Beispiel dafür nannte Ganzenmüller das 1976 errichtete Denkmal von Babyn Jar, das an die mehr als hunderttausend Bürger von Kiew sowie Kriegsgefangenen erinnerte, die von Deutschen ermordet wurden. "Falsch" sei das nicht, aber es greife nicht weit genug, schließlich seien in Babyn Jar im September 1941 in zwei Tagen mehr als 33.000 Kiewer Juden erschossen worden - die bis zu diesem Zeitpunkt größte Massenerschießung der deutsche Besatzer.
Heute würden in der Ukraine sehr widersprüchliche Geschichtsbilder herrschen. Babyn Jar sei in gewisser Weise Ausdruck dessen: Dort existiere inzwischen ein ganzer "Denkmalpark", da eine Vielzahl geschichtspolitischer Akteure dort versuche, den Ort mit einem ganz bestimmten Opfernarrativ zu verknüpfen.
In Belarus hingegen gebe es bis heute keine gesellschaftliche Debatte über den Zweiten Weltkrieg, weshalb das Gedenken weiterhin in den "sowjetischen Formen" stattfinde: "Sowjetischer Heldenkult und individuelles Totengedenken sind amalgamiert", also miteinander verschmolzen, formulierte Ganzenmüller.
Seinen Vortrag zusammenfassend erinnerte der Historiker noch einmal daran, dass die unterschiedlichen Perspektiven auf den Zweiten Weltkrieg und die Shoa lokal und von den jeweiligen Nachkriegserfahrungen geprägt seien, und dass die jeweiligen Gedenkstätten im Kontext dieser Erfahrungen stünden. Um das verstehen zu können, müsse man die jeweiligen Kontexte kennen. Und dennoch sei es wichtig, Gedenkstätten auch kritisch zu begegnen. Dafür seien zwei Fragen hilfreich, die man an jede Einrichtung - unabhängig von Ort und Kontext - richten könne: Dies sei zum einen die Frage nach der Wahrung der Würde der Opfer: Wird die Totenruhe respektiert und werden Gräber geschützt? Wird darauf verzichtet, die Opfer zu vereinnahmen? Und zum anderen die Frage nach dem Umgang mit den Besuchern: Werden sie durch Gräuelgeschichten überwältigt oder gar indoktriniert? Oder wird Raum für eigenständiges Denken gelassen? Entscheidend - so sagte Ganzenmüller abschließend - sei es, dass Gedenkstätten eine Haltung zur Shoa einnähmen. An den allermeisten Orten der Erinnerung in Osteuropa sei das der Fall.
Deutsche Erinnerungskultur kein Maßstab
In der anschließenden Diskussion betonte Ganzenmüller noch einmal seinen Standpunkt, die eigene deutsche Art der Erinnerungskultur sei selbstverständlich kein Maßstab für das Gedenken in anderen Ländern. Auch an der Entwicklung der deutschen Erinnerungskultur gebe es viel zu kritisieren. So seien zum Beispiel die Verbrechen an Nichtjuden im deutschen Bewusstsein nicht verankert. Auch sei es problematisch, dass deutsche Akteure Gedenkstätten in Osteuropa mit solchen in Deutschland vergleichen würden. Das sei falsch, denn auch deutsche Gedenkstätten hätten Besonderheiten, weil sie eben die deutsche Debatte widerspiegelten und die würde anders geführt, als zum Beispiel die polnische. Gedenkstättenarbeit in Polen müsse also sogar anders sein. Und dennoch sollte man auch aus deutscher Sicht Gedenkstätten in Polen und anderen osteuropäischen Ländern kritisch betrachten können, gerade um nicht überheblich, sondern um auf Augenhöhe zu debattieren.
Aufgegriffen wurde auch die letzte Anmerkung Ganzenmüllers zu den beiden Fragen, die man über den nationalen Kontext hinweg gegenüber jeder Gedenkstätte stellen sollte. In diesem Zusammenhang fragten die Teilnehmenden der Fachtagung nach konkreten Beispielen der Überwältigung im Gedenkstättenbereich. Beispielhaft nannte der Historiker das Haus des Terrors in Budapest (Terror Háza Múzeum), eine museale Gedenkstätte in deren Gebäude während des Zweiten Weltkriegs die Faschisten, und nach Kriegsende die kommunistischen Sicherheitsbehörden ein Foltergefängnis unterhielten. Dort seien er und seine Gruppe während einer Führung in einen Aufzug geleitet worden, der unangekündigt so langsam in den nächsten Stock fuhr, dass ein sehr unangenehmes Gefühl der Beklommenheit bei den Teilnehmenden entstanden sei. Als sich die Tür wieder öffnete, habe man ihnen gesagt, nun wüssten sie, wie es ist, eingesperrt zu sein.
Ein weiteres Beispiel sei das Museum des Warschauer Aufstandes (Muzeum Powstania Warszawskiego). Auch hier würden die Besucher symbolische Überwältigung erfahren. Vergleichbares finde man in ganz Europa und wahrscheinlich auch weltweit, und das dürfe man natürlich kritisieren. Aber, daran erinnerte Ganzenmüller zum Abschluss, auch in Deutschland würden Debatten über die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg kontrovers geführt. Dies sei kein Spezifikum eines bestimmten Landes.
Ein Interview mit
"...Maly was?" Ausgewählten Erinnerungsorten nationalsozialistischer Massenmorde in Osteuropa heute begegnen
Viele Orte nationalsozialistischer Verbrechen in Osteuropa sind in Deutschland bekannt. Auschwitz kennt jeder, Trebklinka die meisten und viele auch Majdanek. Weniger werden es schon bei Babyn Jar. Maly Trostenez kennt beinahe niemand mehr - daran angelehnt stand der Titel des Weltcafés, das das Programm des Nachmittags bestimmte.
Museum des ehemaligen Vernichtungslagers Kulmhof am Ner
Anna Ziółkowska stellte das Vernichtungslager Kulmhof in Polen vor. Das Lager wurde 1941 auf Geheiß des Gauleiters des "Reichsgaus Wartheland", Arthur Greiser, in der Stadt Chełmno nad Nerem auf dem sogenannten "Schlossgelände", einem unbewohnten Gutshaus mit Park und Wirtschaftsgebäuden errichtet und bestand in zwei Phasen. Die erste Phase dauerte vom 8. Dezember 1941, der Ankunft des ersten Transports, bis zum 11. April 1943, der Sprengung des Krematoriums. Die Menschen aus den Transporten wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in Gaswagen ermordet und daraufhin im sogenannten Waldlager in Massengräbern verscharrt. Im Rahmen der Auflösung des Massenvernichtungsortes wurde am 7. April 1943 auch das Gutshaus gesprengt. Nach der Auflösung des Ghettos Litzmannstadt (Łódź) im April 1944 wurde Kulmhof noch einmal genutzt, um zwischen dem 23. Juni und 14. Juli 1944 Juden aus dem aufgelösten Ghetto zu ermorden. Einen Überblick über die Arbeit des seit 2014 bestehenden Museum des ehemaligen Vernichtungslagers Kulmhof am Ner gab Bartłomiej Grzanka. Er beschrieb die pädagogischen Möglichkeiten, die das Museum den Besuchern der Gedenkstätte bietet. Dazu gehören insbesondere Führungen und Workshops in polnischer und englischer Sprache sowie eine Ausstellung, in der Alltagsgegenstände gezeigt werden, die bei archäologischen Ausgrabungen auf dem Gelände geborgen wurden. Das Museum besteht aus zwei Teilen, dem ehemaligen Gutshaus und dem Waldlager, das einige Kilometer entfernt liegt.