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Palästina als Zufluchtsort der europäischen Juden bis 1945 | Gerettete Geschichten: Elf jüdische Familien im 20. Jahrhundert | bpb.de

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Palästina als Zufluchtsort der europäischen Juden bis 1945

Kim Wünschmann

/ 6 Minuten zu lesen

Unter den vielen Ländern, in denen europäische Juden vor der nationalsozialistischen Verfolgung und Vernichtung Zuflucht fanden, nimmt Palästina einen besonderen Stellenwert ein. Flüchtlinge, die nach Palästina emigrierten, hofften darauf, in Zukunft Bürger/-innen eines jüdischen Nationalstaats zu sein, während sie in allen anderen Exilländern auch weiterhin zu einer gesellschaftlichen Minderheit gehören würden.

Emigranten aus Deutschland bei der Passkontrolle im Hafen von Jaffa (© National Photo Collection Israel )

Nach dem Ende der osmanischen Herrschaft übertrug 1922 der Völkerbund das Mandat für Palästina an Großbritannien. Die Briten sollten hier die Balfour-Deklaration verwirklichen, in der sie 1917 die „Gründung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk“ versprochen hatten. Für den Zionismus, der politischen Bewegung, die auf die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina abzielte, war die Balfour-Erklärung eine wichtige Anerkennung. Bis zur Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948 kämpften die Zionisten um die Einlösung des Versprechens.

Zionismus und Auswanderung nach Palästina

Ein wichtiges Ziel des Zionismus war und ist es, die Alija nach Eretz Israel, die Auswanderung (wörtlich „Aufstieg“) von Juden ins Land Israel, zu fördern. In mehreren Einwanderungswellen kamen seit den 1880er Jahren bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland über 200.000 Juden nach Palästina. Sie organisierten sich in einer Gemeinschaft mit vorstaatlichen Strukturen, dem sogenannten Jischuw. Bis 1933 kamen die meisten Einwanderer aus Osteuropa. Polen war das Zentrum zionistischer Aktivität. Zionisten in Polen waren in zahlreichen Parteien, Vereinen und Jugendbewegungen organisiert. Mit den gemischt polnisch- und hebräischsprachigen Tarbut-Schulen verfügten sie auch über ein eigenes Erziehungssystem. Im Film über ihr Leben erzählt die im polnischen Riwne geborene Interner Link: Haya-Lea Detinko vom Besuch der Tarbut-Schule und ihrem Beitritt zur sozialistisch-zionistischen Jugendorganisation Hashomer Hatzair, der auch ihre ältere Schwester angehörte. Ihr Bruder Aron entschied sich für die Mitgliedschaft im Betar, der Jugendorganisation des revisionistischen Flügels im Zionismus. In der zionistischen Jugendbewegung fanden die Geschwister ihre Freunde. Gemeinsam sammelten sie Spenden für Palästina, nahmen an Pionierlagern teil und bereiteten sich auf die Auswanderung vor.

Vor 1933 war der Zionismus eine Minderheitenbewegung, die überwiegend junge Leute anzog, welche bereit waren, sich den Herausforderungen zu stellen, ein neues Leben mit vielen Entbehrungen in einem umkämpften Land fern der Heimat aufzubauen. Den meisten Juden, die Europa verließen, waren die Aussichten für eine Ansiedlung in Palästina zu unsicher. Ihr Hauptziel war Nordamerika, wohin fast drei Millionen auswanderten. Die Situation ändert sich, als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen und Juden offen verfolgten. Die USA, wie auch viele andere Länder, stellten nur eine beschränkte Zahl von Einreisevisa zur Verfügung – nicht genug, um den großen Strom der Flüchtlinge aufzunehmen. Um nationalsozialistischer Gewalt und gesetzlichen Diskriminierungen zu entkommen, wurden viele Juden zu Zionisten wider Willen. In den Jahre 1933 bis 1936 war Palästina das wichtigste Exilland für Flüchtlinge aus Hitlers Machtbereich. Unter den Einwanderern waren auch viele Kinder und Jugendliche, die von ihren Familien getrennt mit der Jugend-Alija ins Land kamen. Wie der junge Interner Link: Kurt Brodmann, der 1938 ohne seine Eltern und seinen älteren Bruder aus Wien nach Palästina geflüchtet war, fanden sie Aufnahme in einem Kibbuz, den ländlichen Kollektivsiedlungen der Zionisten sozialistischer Orientierung.

Neuanfang im Heiligen Land

Bis Ende 1938 wanderten über 200.000 Juden aus West- und Mitteleuropa nach Palästina ein. Ihr vergleichsweise hoher Bildungsgrad, ihre beruflichen Qualifikationen und Erfahrungen förderten die Wirtschaft, den Aufbau des Gesundheits-, Bildungs- und Verwaltungswesens sowie die Kultur der Jischuw-Gemeinde. Vielen Juden aus Deutschland, in Palästina als „Jeckes“ bezeichnet, fiel die Anpassung an den mediterranen Lebensstil und das heiße Klima nicht leicht. Durch ihre steifen Umgangsformen, ihren bürgerlichen Kleidungsstil, ihre übertriebene Höflichkeit und ihr Festhalten an der deutschen Sprache fielen sie auf. Für viele war die Übersiedlung mit einem Statusverlust verbunden. Die in Berlin geborene Rosa Rosenstein erzählt im Film von den Schwierigkeiten ihrer Familienmitglieder, in den 1930er Jahren in Palästina Fuß zu fassen. Als ihr Schwager keine ihm angemessene Arbeitsstelle finden konnte, musste er Zeitungen austragen. Ihre Schwester arbeitete als Putzfrau. Auch Interner Link: Jindřich Lion aus Prag, der als 16-jähriger in Palästina eintraf und dort eine Schlosserlehre anfing, erinnert sich, wie schwer es anfangs war, sich auf Hebräisch zu verständigen. Interner Link: Herbert Lewin, der 1939 nach Palästina kam, berichtet vom Heimweh der Neueinwanderer, die sich abends nach der Arbeit trafen und Lieder aus der alten Heimat sangen.

Die britische Einwanderungspolitik und ihre Grenzen

Wer nach Palästina einwandern wollte, brauchte ein Zertifikat der britischen Mandatsregierung. Diese Zertifikate wurden im Rahmen einer Quotenregelung vergeben, die sich am Vermögen oder der beruflichen Eignung der Bewerber orientierte. Um ein sogenanntes „Kapitalistenzertifikat“ zu bekommen, musste ein Mindestkapital von 1.000 Pfund aufgebracht werden. Als für die jüdische Siedlung wichtige Tätigkeiten galten vor allen landwirtschaftliche oder handwerkliche Fertigkeiten, die sich Auswanderungswillige auf speziellen Lehrgütern praktisch aneignen konnten. An einer solchen Hachschara, der Tauglichmachung für das Leben in Palästina, nahmen vor allem Jugendliche teil. Interner Link: Herbert Lewin arbeitete von 1937 bis 1939 auf einem Gut im jugoslawischen Subotica, das von der zionistischen Organisation Hechaluz betrieben wurde. Hier lernten die jungen Männer und Frauen, das Weingut und die Äcker zu bewirtschaften, für die Tiere zu sorgen und den Hof zu führen. Herbert Lewin kochte und backte Brot für die Gemeinschaft. Da die Briten jedoch die Einwanderung immer stärker einschränkten, blieb Lewin und seinen Freunden nur der Versuch, ohne rechtsgültiges Zertifikat nach Palästina zu gelangen. Wie tausende andere Juden wanderten sie illegal ein.

Die Alija Bet, die illegale Einwanderung, war ein gefährliches Unternehmen, denn die Flüchtlingsschiffe konnten jederzeit von britischen Patrouillenbooten, die die Küste Palästinas bewachten, entdeckt werden. In nicht wenigen Fällen scheiterte der Versuch, heimlich an Land zu gelangen und die Flüchtlinge wurden zurückgeschickt oder interniert. Mit ihrer restriktiven Immigrationspolitik reagierten die Briten auf den wachsenden Unmut, mit dem die arabische Bevölkerung in Palästina der zunehmenden Zahl jüdischer Einwanderer begegnete. 1936 brach ein bewaffneter Aufstand aus, der sich in einer Serie von Gewaltakten gegen Juden und die britische Mandatsmacht bis 1939 hinzog. Von Oktober 1939 bis April 1940 verhängten die Briten eine Einwanderungssperre. Während des Zweiten Weltkriegs kamen noch einmal ungefähr 80.000 Juden nach Palästina, davon der überwiegende Teil auf illegalem Wege.

Die Situation nach dem Krieg

Mit dem Ende des Krieges im Mai 1945 war nicht gleichzeitig auch die jüdische Flüchtlingsfrage gelöst. Ganz im Gegenteil: die Massenflucht jüdischer Holocaustüberlebender aus Osteuropa, vor allem aus Polen und Rumänien, in die westlichen Besatzungszonen Deutschlands, Österreichs und Italiens verschärfte die Lage. In allen drei Ländern wurden Auffanglager für diese sogenannten „Displaced Persons“ (DP) eingerichtet. Welches Land sollte sie aufnehmen? Nur etwa 3.000 jüdischen DPs wurde zwischen 1945 und 1950 die Einreise nach Großbritannien erlaubt. Rund eine Viertelmillion warteten in den DP-Lagern zum Teil jahrelang auf die Chance, sich in einer neuen Heimat ein neues Leben aufzubauen. Erst mit der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 fielen die Schranken. Bis Ende des Jahres trafen mehr als 100.000 jüdische Neueinwanderer in Israel ein; bis Dezember 1951 stieg ihre Zahl auf nahezu 700.000.

Die meisten Einwanderer kamen aus Osteuropa, wo sie ihre Existenz verloren hatten und von neuer anti-jüdischer Gewalt bedroht waren. Deutlich weniger Juden wanderten aus Westeuropa ein. Interner Link: Rosa Rosenstein, die sich nach dem Krieg mit ihrem Mann in Wien niederließ, beschreibt die Entscheidung gegen ein Leben in Israel. Während sie selbst gerne dorthin gegangen wäre, um mit ihrer Familie wiedervereint zu sein, entschied ihr Mann, dass er ohne das nötige Eigenkapital in Israel als Geschäftsmann keinen Erfolg haben würde. Der Wunsch, den einstigen Lebensstandard in Europa zurückzugewinnen und die Sehnsucht nach der alten Heimat und ihrer Muttersprache, ließ einige Juden das weniger entwickelte und politisch umkämpfte Israel wieder verlassen. Unter den Rückwanderern waren auch Interner Link: Jindřich Lion und Interner Link: Herbert Lewin.

Nach dem Ende des Kommunismus in Osteuropa 1989/90 brachte eine riesige Einwanderungswelle noch einmal etwa eine Million Menschen nach Israel. Vorher hatte die Sowjetunion Juden nur sehr beschränkt erlaubt, auszureisen. Zeitweise wurden Zionisten wie Interner Link: Haya-Lea Detinko auch wegen ihrer angeblich anti-sowjetischen Einstellung verfolgt. Wie ihre Freunde aus dem Hashomer Hatzair, wurde sie 1941 verhaftet. Sie durchlitt lange Jahre in Lagerhaft und anschließender Verbannung in Sibirien. Nach 1989 fühlt Haya-Lea Detinko sich zu alt für die Einwanderung nach Israel. Sie nutzt aber ihre neue Freiheit und besucht ihre Familie im Heiligen Land.

Fussnoten

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Die Historikerin Dr. Kim Wünschmann ist Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg. Sie forscht zur Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust, zur jüdischen Geschichte und Kultur, zum Schicksal von Zivilist:innen im Krieg und zu Geschichte im Comic.
Email: E-Mail Link: kim.wuenschmann@igdj-hh.de