Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten fast drei Viertel der 11 Millionen Juden Europas in den drei großen Vielvölkerstaaten der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, dem russischen Zarenreich und dem Osmanischen Reich. Diese Herrschaftsgebiete erstreckten sich über weite Teile Mittel-, Ost- und Südosteuropas.
Sephardim und Aschkenasim
Vor allem im Osmanischen Reich lebten die Nachkommen der Juden, welche 1492 aus Spanien vertrieben worden waren, die Sepharden. Im Film über ihr Leben erzählt
Aschkenasische Juden siedelten traditionell vor allem in Mittel- und Osteuropa. Neben den ihnen eigenen religiösen Bräuchen waren sie durch die jiddische Sprache verbunden. Jiddisch wurde in den ”Schtetln” gesprochen, jenen Dörfern und Kleinstädten Polens, Litauens, der heutigen Ukraine oder Weißrusslands, die einen hohen jüdischen Bevölkerungsanteil hatten. Jiddisch hörte man aber auch in den jüdischen Vierteln westlicher Metropolen wie Berlin, Paris oder London. Migrantinnen und Migranten aus Osteuropa hatten es als ihre Alltagssprache mitgebracht. Im Straßenbild waren diese sogenannten “Ostjuden” durch ihren traditionellen Kleidungsstil deutlich sichtbar.
Tradition und Moderne
Während viele europäische Juden sich bis in die 1930er und 1940er Jahre einen traditionell-religiösen Lebensstil bewahrten, führte gleichzeitig der Einfluss der Moderne zu einer zunehmenden Verweltlichung jüdischen Lebens. Nachdem Juden im 19. Jahrhundert in den meisten Ländern die bürgerliche Gleichberechtigung erhalten hatten – Ausnahmen bildeten bis 1908 das Osmanische Reich, bis 1917 Russland und bis 1918 Rumänien –, strebten sie nach einer Vollendung der Emanzipation durch Anpassung auch an die Gesellschaft und Kultur der jeweiligen Nation, der sie sich zugehörig fühlten. Grundsätzlich verstanden sich die westeuropäischen Juden überwiegend als Angehörige einer Religionsgemeinschaft und gleichzeitig als loyale Staatsbürger ihres Landes – der 1893 in Deutschland gegründete ”Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens” drückt diese Einstellung schon im Namen aus. Dieses Selbstverständnis unterschied sich von dem der ost- und südosteuropäischen Juden, welche sich als nationale Gemeinschaft, als Angehörige einer jüdischen Nationalität betrachteten. Eine Säkularisierung fand nichtsdestotrotz auch in Osteuropa statt. Juden organisierten sich in sozialistischen, kommunistischen oder zionistischen Parteien. Viele begannen, auch samstags, am Ruhetag Schabbat, zu arbeiten, um im vollen Maße vom wirtschaftlichen Aufschwung zu profitieren.
Schließlich kam es mit Beginn des 20. Jahrhunderts auch häufiger vor, dass Juden sich taufen ließen beziehungsweise, wie im Film über die
Erster Weltkrieg und Zwischenkriegszeit
Einen tiefen Einschnitt nicht nur im Leben der jüdischen Bevölkerung stellte der Erste Weltkrieg 1914 bis 1918 dar. Von der anfänglichen Kriegsbegeisterung wurden genauso Juden ergriffen. Sie hofften in der Uniform des Soldaten endlich als vollwertige Mitglieder der nationalen Gemeinschaften anerkannt zu werden. In Deutschland kämpften etwa 85.000 jüdische Soldaten in der kaiserlichen Armee; 12.000 fielen für ihr Vaterland. In Frankreich zählte man 46.000 jüdische Soldaten, in Großbritannien 40.000 und annähernd 300.000 Juden trugen die Uniform der österreichisch-ungarischen k.u.k. Armee – unter letzteren befanden sich auch die Väter von
Der Krieg veränderte die europäische Landkarte radikal. Die drei großen multi-nationalen Reiche Österreich-Ungarn, Russland und das Osmanische Reich zerfielen und stattdessen entstanden neue Staatengebilde wie die Sowjetunion, Jugoslawien, Litauen und die Tschechoslowakei. Polen erlangte seine Unabhängigkeit zurück, das Staatsgebiet Rumäniens wurde deutlich vergrößert, Ungarn verkleinert und Österreich blieb als Rumpfstaat erhalten. Diese territorialen Neuordnungen in Ost-, Mittel- und Südosteuropa führten dazu, dass Juden in nationalen Konflikten sich oft zwischen den Fronten wiederfanden. In der Ukraine kam es zu zahlreichen Pogromen, die zehntausende Opfer forderten. Auch die über 3 Millionen Juden Polens waren in den späten 1930er Jahren mit einem gewalttätigen Antisemitismus konfrontiert.
Die Zwischenkriegszeit in Europa war nicht zuletzt auch eine Blütezeit jüdischen Geistesschaffens. Jüdische Intellektuelle, Künstler/-innen und Wissenschaftler/-innen nahmen führende Rollen im europäischen Kulturleben ein. Das Judentum selbst erfuhr eine Renaissance und wurde von einer Generation, die bereits ohne Religion aufgewachsen war, wiederentdeckt. Bis 1933 in Deutschland die Nationalsozialisten den Antisemitismus zur Staatsdoktrin machten, die Emanzipation zurücknahmen und Juden offen verfolgten, konnte man glauben, dass die Geschichte der Juden Europas auf eine Überwindung der traditioneller Schlechterstellung und auf eine Eingliederung in die nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaften hinauslaufe.