Historisches Rathaus Münster
Dritter Tag: Donnerstag, 31. Oktober 2019
/ 7 Minuten zu lesen
Galerie Tag 3
Simon Lengemann (bpb) hieß die Tagungsteilnehmenden am letzten Konferenzmorgen willkommen.
Thomas Pegelow Kaplan fragte, wie und ob sich eine Universalisierung des Holocaust zum "moralischen Standard" in der öffentlichen Wahrnehmung
entwickelt habe.
Panel-Moderatorin Mirjam Zadoff stellte eine Nachfrage an Thomas Pegelow Kaplan.
Peter Römer, vom Geschichtsort Villa ten Hompel, stellte zwei "I’s" als Gelingensfaktoren für die historisch-politische Bildung vor: Irritation
und Individualisierung.
Eine in San Francisco von Shoah-Überlebenden gegründete Organisation bietet ein Programm an, in dem Nachkommen von Überlebenden darauf
vorbereitetet werden, öffentlich über ihre Familienhistorie sprechen zu können, erklärte Alexis Herr
Joel Zisenwine sprach über seine Arbeit in der Abteilung zur Ehrung der "Gerechten unter den Völkern" in Yad Vashem und über die wenigen
Polizeibeamten, denen dieser Titel verliehen wurde.
Eine Podiumsdiskussion über didaktische Vermittlungsstrategien schloss die Tagung ab. Dabei (v. l. n. r.) Moderatorin Sabine Mecking, Dervis Hizarci,
Sybille Steinbacher, Christopher Browning, Elke Gryglewski, Yariv Lapid und Christoph Spieker.
Am Morgen des dritten und damit letzten Konferenztages stand das Panel "Holocaust Education und Menschenrechte" auf dem Programm. Dieses leitete die Moderatorin Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München, mit der paradoxen Feststellung ein, dass zwar die Holocaustforschung anwachse, das allgemeine Wissen in der Bevölkerung über die Shoah aber scheinbar weniger werde.
Der Holocaust als moralischer Standard?
Dies aufgreifend ging der Direktor des Center for Judaic, Holocaust and Peace Studies der Appalachian State University, Thomas Pegelow Kaplan, der Frage nach, wie und ob sich eine Universalisierung des Holocaust zum "moralischen Standard" in der öffentlichen Wahrnehmung entwickelt habe. Am Beispiel eines Radiobeitrages des Journalisten und Kriegsberichterstatters Edward R. Murrow über die Befreiung des KZ Buchenwald, zeigte Kaplan, dass im öffentlichen Diskurs der unmittelbaren Nachkriegszeit vor allem über die Nationalitäten, über die Berufe und Herkunftsstädte der nun Befreiten gesprochen worden sei – nicht jedoch über Juden und die Shoah. Dies stehe im Kontrast zur heutigen Ausstellung der Gedenkstätte Buchenwald, die den Holocaust in den Mittelpunkt stelle.
Er machte verschiedene Entwicklungsstufen aus, in denen der Holocaust langsam ins Zentrum der Erinnerung gerückt sei. Im Kontext des beginnenden Kalten Krieges standen die selektiven kollektiven Erinnerungen von Überlebenden und ihren Verbänden größeren Narrativen gegenüber: In den Nürnberger Prozessen wurde die universalistische Interpretation des Krieges als Kampf "Gut gegen Böse" oder "Demokratie gegen Totalitarismus" laut. Platz für die Erinnerung jüdischen Leidens gab es dabei kaum. In der Bonner Republik wurde die kollektive Erinnerung in der Populärkultur eher trivialisiert und trug apologetische Züge. Eingebettet in den globalen Konflikt wurden deutsche, lediglich ihre Pflicht erfüllende Soldaten den NS-Gräueltaten gegenübergestellt. Dies habe sich langsam mit den großen Gerichtsverfahren um den Auschwitz- und den Eichmann-Prozess gewandelt. In der US-amerikanischen und der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit wurden nun langsam die Verbrechen gegen Jüdinnen und Juden von allgemeinen Kriegsverbrechen getrennt. Während Eichmann zum Symbol des Schreibtischtäters geworden war, gelang es langsam, die jüdische Bevölkerung als primäres Opfer des Nationalsozialismus anzuerkennen.
Ein Schritt zur Entkontextualisierung und hin zur Universalisierung war erreicht, als in verschiedenen Protesten gegen den Vietnamkrieg das Agieren der USA mit dem NS-Angriffskrieg gleichgesetzt worden sei. Dennoch setzte sich langsam die Annahme der Singularität des NS-Vernichtungskrieges durch. Dazu habe auch die TV-Serie "Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss" beigetragen, deren Soap-Form eine Identifikation mit dem Schicksal der fiktiven Familie Weiss erlaubt habe. Die Serie popularisierte auch den Begriff. Heute habe die Shoah einerseits eine globale Dimension, andererseits sei sie für Europa und auch die EU zu einem identitätsstiftenden Emblem geworden – dies zeige sich beispielsweise daran, dass dem 27. Januar, Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Ausschwitz’, international gedacht werde. Dabei stehe die europäische Perspektive in Osteuropa oftmals in Konkurrenz zum Gedenken an stalinistische Verbrechen. Auch in Afrika oder Asien spiele die Shoah oftmals kaum eine Rolle, konstatierte Kaplan.
Pädagogische Auseinandersetzung mit polizeilicher Täterschaft im Nationalsozialismus
Über die "Auseinandersetzung mit polizeilicher Täterschaft im Nationalsozialismus in Gedenkstätten und der Polizeibildung in Deutschland heute", ob diese eher "Aushängeschild oder Auslaufmodell" seien, referierte Peter Römer, pädagogisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geschichtsort Villa ten Hompel. Er merkte an, dass die "grüne Polizei" als NS-Tätergruppe in der deutschen Öffentlichkeit weniger bekannt sei – was durchaus ein Überraschungspotential für heutige Polizeibeamte bei der Beschäftigung mit dem Thema berge. Schließlich hätten die NS-Verbrechen auch heute noch Implikationen für die Ausübung staatlicher Macht. Die Arbeit mit Vertretern der Polizeibehörden in Seminaren setze auf Rollen und deren Reflexion. Diese sei in jedem System die gleiche gewesen: die Durchsetzung von Gesetzen. Daher erscheine ein Wertekanon weniger veränderlich als Gesetze. Als Gelingensfaktoren für die historisch-politische Bildung mit Polizeibediensteten machte Römer zwei "I"s aus: Irritation und Individualisierung. Gerade letztere laufe aber der eigentlichen Polizeiausbildung zuwider, in der die Zugehörigkeit zum (Polizei-)Kollektiv wichtig sei. Methodisch werde in der Villa ten Hompel mit konkreten Quellen, beispielsweise mit Feldpostbriefen gearbeitet, in denen auch (eigene) Verbrechen thematisiert werden würden. Ziel dabei sei es, den "moralischen Kompass" und die moralische Autonomie zu stärken, Urteilsfindungen zu ermöglichen, Selbstreflexion auszulösen und Handlungsspielräume historischer Personen aufzuzeigen. Letzteres sorge wieder für Irritationen und helfe, Mythen wie den Befehlsnotstand zu dekonstruieren. Zwar sollen die polizeilichen Seminarteilnehmenden auch für kritische Gegenwartssituationen sensibilisiert werden, Parallelisierungen sollten jedoch vermieden werden. Dabei würde häufig aus der Teilnehmendengruppe heraus eine Aktualisierung oder ein Vergleich historischer mit heutiger Polizeiarbeit erfolgen, die von der pädagogischen Begleitung als Diskussionsanstoß aufgenommen werden würde, erklärte Römer.
Die prominent von Browning aufgeworfene Frage, wie Menschen zu Tätern werden könnten, schwinge immer mit. Auch sei die Frage nach Legalität oder Legitimität polizeilichen Handelns zeitlos. In der Polizeibildung den moralischen Kompass und die Individualisierung zu betonen, könne zum Aufbrechen der sogenannten Cop Culture beitragen und den Polizeibeamten bei der Ausübung ihrer Rolle helfen.
Die nächste Generation: Familienmitglieder von Holocaustüberlebenden teilen ihre Familiengeschichte
Einen anderen Vermittlungsansatz für eine gänzlich andere Zielgruppe verfolgte die kalifornische Holocaust-Historikerin Alexis Herr. Sie stellte ein Projekt aus San Francisco vor, in dem die Nachkommen von Shoah-Überlebenden ein Trainingsprogramm oder Coaching für öffentliches Sprechen erhalten können. Ihnen solle so geholfen werden, besser über ihre Familiengeschichte erzählen zu können. Organisiert und getragen wird dieses Programm vom Holocaust Centre in Nordkalifornien. Dieses Zentrum war Ende der 1970er aus dem Protest von ausgewanderten Holocaustüberlebenden und ihren Familien gegen einen NS-verherrlichenden Buchladen hervorgegangen.
Das Programm habe vor der Frage gestanden, was mit der "Holocaust Education" geschehe, wenn es keine Überlebenden mehr gebe, die ihre Geschichte(n) erzählen können. Dabei sei zu beobachten gewesen, dass die Vortragenden, die Überlebenden, eine emotionale Verbindung zu den US-amerikanischen Schülern aufbauen konnten und einen nachhaltigen Eindruck auf diese hatten. Das 2018 eingerichtete Trainingsprogramm solle die Nachkommen befähigen, ihre eigene Geschichte – aber auch die ihrer Familie – zu erzählen. Im Zentrum solle dabei die Frage stehen, was sie dazu bewege über diese Geschichte sprechen zu wollen. Was wollen sie den Schülern und Schülerinnen mitgeben? Die Zeitzeugen – wie auch ihre Nachkommen – hätten zwar keine fachliche Expertise, aber ihre persönliche Beziehung zur Geschichte enthalte eine Chance der Vermittlung, schloss Herr.
Polizisten unter den "Gerechten unter den Völkern"
Das Panel abschließend berichtete Joel Zisenwine über seine Arbeit als Direktor der Abteilung zur Ehrung der "Gerechten unter den Völkern" des World Holocaust Remembrance Center Yad Vashem. Bereits 1953 habe die Knesset (Einkammerparlament des Staates Israel) die Gedenkstätte Yad Yashem damit beauftragt, jene mit dem Titel "Gerechte unter den Völkern" zu ehren, die selbst nicht jüdischen Glaubens waren, aber "die ihr Leben riskierten, um Juden zu retten". Der Ehrentitel werde nach einer Prüfung durch eine Kommission an Individuen, nicht aber an Organisationen vergeben, erklärte Zisenwine. Unter den über 27 000 Menschen, die den Titel "Gerechte unter den Völkern" tragen, befänden sich auch etwa 84 Polizisten. Diese stammten aus verschiedenen Regionen und waren dort mit unterschiedlichen Aufgaben betraut worden. Als Beispiele führte Zisenwine den Schweizer Grenzpolizisten Paul Grüninger an, der durch das Vordatieren und Fälschen von Einreisedokumenten mehrere hunderte jüdische Menschen gerettet hatte, sowie den österreichischen Polizisten Oswald Bosko, der vielen bei der Flucht aus dem Ghetto Krakau geholfen hatte. Es habe also "Gerechte" unter Polizisten gegeben, doch sie waren die Ausnahme, betonte Zisenwine.
Abschlussdiskussion: Diversifizierende Täterforschung, didaktische Vermittlungsstrategien und ethische Konsequenzen heute
Eine Podiumsdiskussion schloss die Konferenz ab (
Die Diskrepanz zwischen fachwissenschaftlicher Expertise und in der breiten Bevölkerung populären Geschichtsbildern griff Yariv Lapid auf, Direktor des William Levine Family Institute for Holocaust Education am USHMM (
Auf eventuelle Unterschiede zwischen Gedenkstättenbesuchenden – mit und ohne sogenannten Migrationsgeschichte – hinsichtlich des Interesses für die Shoah angesprochen, hob Elke Gryglewski von der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz hervor, dass die Geschichte des Holocaust im Grunde alle Weltregionen tangiere. Auch hätten jene, die die deutsche Geschichte infrage stellen würden, zumeist keine Migrationsgeschichte. Der Antidiskriminierungsbeauftragte des Berliner Senats, Dervis Hizarci, verdeutlichte die Bedeutung dieser Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht nur für die Wissens- sondern auch für die Identitätsvermittlung. Doch auch diese Geschichtsvermittlung sei kein Allheilmittel: "Man braucht nichts über die deutsche Geschichte zu wissen, um zu wissen, dass man ein Asylheim nicht anzündet", spitzte Hizarci zu.
Mit der Öffnung der Runde für das Publikum wurden weitere Themen der Tagung diskutiert: Wie kann man eine Klammer für Opfer- und Täterforschung finden? Wie divers ist die Bildungsarbeit eigentlich und wie können Perspektiven jenseits der Mehrheitsgesellschaft stärker gemacht werden? Was sollte sich ändern, damit unser Wissen um den Holocaust vertieft und damit dieses Wissen noch mehr in die Gesellschaft getragen wird?
absolvierte seinen B.A. in Geschichte und Neuere Deutsche Literatur in Freiburg, studiert Interdisziplinäre Antisemitismusforschung in Berlin und Bildungswissenschaft in Hagen. Seit 2016 arbeitet er als freier Mitarbeiter u. a. für die bpb.
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).
Vielen Dank für Ihre Unterstützung!