Historisches Rathaus Münster
Zweiter Tag: Mittwoch, 30. Oktober 2019
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Galerie Tag 2
Am Morgen des zweiten Konferenztages empfing Münsters Bürgermeisterin Wendela-Beate Vilhjalmsson die Tagungsteilnehmenden im Friedenssaal des
Historischen Rathauses.
Bürgermeisterin Wendela-Beate Vilhjalmsson bat Christopher R. Browning und die Initiatorinnen und Initiatoren der Tagung sich im Goldenen Buch der
Stadt Münster einzutragen.
Svenja Bethkes referierte über den "jüdischen Ordnungsdienst" in den Ghettos Litzmannstadt, Warschau und Wilna.
Die Polizei des spanischen Franco-Regimes habe eng und aus freien Stücken mit der deutschen Gestapo kooperiert, erklärte Patrick Bernhard.
Nach seinem Vortrag über die niederländische Polizei unter deutscher Besatzung diskutierte Guus Meershoek (rechts) mit dem Moderator Martin Cüppers
(links), den anderen Podiumsgästen und dem Publikum.
Der Chor des Münsteraner Gymnasiums Paulinum begleitete unter der Leitung von u.a. Konstantin Voßhoff den Festakt zu Ehren Christopher R. Brownings
musikalisch mit Liedern von Gegnern und Verfolgten des Nationalsozialismus.
Münsters Stadträtin Cornelia Wilkens und Staatssekretär Klaus Kaiser im Gespräch nach ihren Eröffnungs- und Grußworten.
Norbert Frei hielt die Laudation auf Christopher R. Browning.
Der Vortrag von Christopher R. Browning im Historischen Rathausfestsaal interessierte nicht nur die Tagungsteilnehmenden, sondern auch Münsters
Bürgerinnen und Bürger.
Thomas Pegelow Kaplan stellte den, dem Ehrengast Christopher R. Browning gewidmeten, Sammelband "Beyond 'Ordinary Men'" vor.
Am Morgen des zweiten Konferenztages empfing die Bürgermeisterin Münsters, Wendela-Beate Vilhjalmsson, die Tagungsteilnehmenden im Friedenssaal des Historischen Rathauses. Sie erklärte, dass an diesem historischen Ort – und im nahen Osnabrück – 1648 der Westfälische Frieden geschlossen und damit der Dreißigjährige Krieg beendet wurde. Abschließend bat sie Herrn Browning und die Initiatorinnen und Initiatoren der Tagung, sich im Goldenen Buch der Stadt Münster einzutragen.
Der "jüdische Ordnungsdienst" als Ghettopolizei
Mit ihrem Input über die "jüdischen Ordnungsdienste" in den Ghettos Litzmannstadt, Warschau und Wilna stellte Svenja Bethke einen besonderen "Graubereich der (Mit-)Täterschaft" vor, so der Titel des dritten Panels. Die deutschen Besatzer verlangten eine jüdische Ghettopolizei als Exekutivorgan, was ein neues Phänomen gewesen sei, erläuterte die Dozentin für Neuere Europäische Geschichte der Leicester University. Diese Ordnungsdienste hatten durchaus Handlungsspielräume, da die deutschen Besatzer zwar die Einrichtung einer Ghettopolizei befohlen hatten – wie diese konkret ausgestaltet werden sollte, überließen sie den sogenannten Judenräten im Ghetto jedoch selbst. Dies lasse sich aber weniger als Großzügigkeit denn als Desinteresse der Besatzer verstehen, betonte Bethke. Die Befehle und Aufgaben des Ordnungsdienstes änderten sich im Laufe der Besatzung drastisch. Sollten anfangs vor allem Ruhe und Ordnung aufrechterhalten werden, mussten diese Polizisten und Polizistinnen schließlich an der Beschlagnahme von Wertgegenständen der Ghettobevölkerung wie auch an Deportationen mitwirken.
Werfe man heute die Frage nach Handlungsspielräumen des "jüdischen Ordnungsdienstes" auf, werde häufig auf diese Mitwirkung an Deportationen angespielt. Bethke stellte jedoch klar, dass dies eine retrospektive Interpretation sei – als die Ordnungsdienste eingerichtet wurden, war eine solche Entwicklung und spätere Aufgabe nicht abzusehen. Sowohl die Judenräte als auch die Ghettopolizei agierten in einem als Zwangsgemeinschaft zu verstehenden Sozialraum und könnten ex post nicht allein nach moralischen Maßstäben bewertet werden. Stattdessen lohne es, zu fragen, wie die Ordnungsdienste zeitgenössisch ihre eigenen Handlungsspielräume eingeschätzt hätten, inwiefern sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten versuchten, zum Wohle der Ghettobevölkerung zu wirken oder wie sich das Wissen um die Shoah auf die Judenräte und Ordnungsdienste in den Ghettos auswirkte. Die Zuständigkeiten der Ghettopolizei umfassten dabei ein breites Spektrum. So mussten sie zum einen die Weisungen der deutschen Besatzer an die Judenräte durchsetzen – wie beispielsweise die Umsetzung der Kennzeichnungspflicht oder die Sicherung der Ghettogrenzen – zum anderen auch die Forderungen der Judenräte. Sie wurden tätig bei klassischen Delikten wie Handgreiflichkeiten und Gewalt. (
Kollaboration des Franco Regimes mit der nationalsozialistischen Polizei
Mit seinem Blick auf die Kollaboration des spanischen Regimes Francisco Francos mit der deutschen Polizei, vor allem der Gestapo, und deren Unterstützung bei der Verfolgung von Jüdinnen und Juden, wandte sich Patrick Bernhard gegen eine Forschungstradition. Lange habe die Forschung die Haltung des Franco-Regimes zur Verfolgung der europäischen Jüdinnen und Juden als widersprüchlich charakterisiert. De facto sei die Haltung der spanischen Diktatur kohärenter und unnachgiebiger gewesen als bisher vermutet, so die These des Osloer Professors für Neuere Europäische Geschichte. Die spanische Polizei habe aktiv mit der Gestapo zusammengearbeitet sowie Techniken und Strukturen der nationalsozialistischen Polizeiarbeit übernommen.
Aufgrund der geringen Größe der jüdischen Gemeinde in Spanien werde in Teilen der Historiographie von einem "rhetorischen" oder "abstrakten" Antisemitismus gesprochen. Auch bestehe kein Zweifel darüber, dass Spanien während des Zweiten Weltkrieges Jüdinnen und Juden aufgenommen oder deren Durchreise erlaubt habe. Doch dies sei als Annäherung des Regimes an die USA zu verstehen, sagte Bernhard. Auch habe diese Durchreiseerlaubnis bis zur "Genesis der Endlösung" nicht gegen nationalsozialistische Interessen verstoßen. Vielmehr habe das Franco-Regime die Vision einer "bereinigten spanischen Nation" verfolgt und zu diesem Zweck die Zusammenarbeit mit der Geheimen Staatspolizei gesucht. Die spanische Polizei habe sich und ihre Strukturen während der Kollaboration mit der NS-Polizei professionalisiert. Anfangs sei die deutsche Hilfe vor allem hinsichtlich der Verfolgung politischer Gegner angenommen worden, die Vision der "bereinigten Nation" habe aber auch die jüdische Bevölkerung Spaniens betroffen.
Der binationale Austausch habe sowohl zu Strukturreformen innerhalb des spanischen Polizeiapparats als auch zu einer – im Rahmen der spanisch-deutschen Polizeivereinbarung von 1938 beschlossenen – institutionalisierten Zusammenarbeit geführt. Im Zuge der Kollaboration sei es der Gestapo erlaubt worden, Jüdinnen und Juden auf spanischem Territorium aufzuspüren und zu ergreifen. Insgesamt solle das franquistische Verhältnis zum Holocaust vielmehr als Komplizenschaft verstanden werden, plädierte Bernhard abschließend. Die verbreitete Interpretation des spanischen Antisemitismus als "passiv" oder den deutschen "nachäffend" werde zum einen der historischen Realität nicht gerecht und sei zum anderen als politisch genehmes Nachkriegsnarrativ zu verstehen.
Die niederländische Polizei unter deutscher Besatzung zwischen Resistenz und Kollaboration
Ende 1942 sei für die niederländische Polizei der "Moment der Wahrheit" gekommen, führte Guus Meershoek, Dozent für Polizeigeschichte an der niederländischen Polizeiakademie, in seinen Input ein: Vorgeblich zum Arbeitseinsatz, ordnete die deutsche Besatzung die Deportationen von niederländischen Jüdinnen und Juden an. In Amsterdam und Den Haag wurden dafür aus niederländischer Initiative Polizeieinheiten abgestellt – somit handelten niederländische Polizisten klar entgegen jener Gesetze, die sie zu schützen angetreten waren und hatten somit einen konkreten Anteil am Holocaust. Einen besonderen Stellenwert bei der Kollaboration mit der deutschen Besatzung sei Polizisten aus den Reihen der Kolonialarmee zugekommen. Diese hätten eine antikommunistische Prägung mitgebracht und einen großen Anteil zu den Deportationen beigetragen, meinte Meershoek.
Rückblickend seien für viele Polizisten die Beteiligungen an den Deportationen traumatisch gewesen. Es sei geschrien und protestiert worden. Die Erinnerung daran werde jedoch häufig mit positiven Erinnerungen wie die der Kameradschaft überlagert, erklärte Meershoek. Auch sei die historische Realität ambivalenter: Verweigerung und Widerstand habe es in der niederländischen Polizei ebenfalls gegeben. Vor allem seitdem die deutsche Kriegsniederlage wahrscheinlicher erschien, habe sich die öffentliche Meinung gegen Deportationen gewandt und der Widerstand innerhalb der "Politie" sei von individueller Verweigerung zu Gruppenprotesten angewachsen. Bis zum Sommer 1943 veränderte sich auch das Auftreten der Besatzung, sie wurde repressiver – sich verweigernde Polizisten wurden inhaftiert Schlossen sie sich dem Untergrund an, trafen die Repressionen auch ihre Familien. Verschiedene Faktoren hätten Einfluss auf die Kollaboration mit den deutschen Besatzern gehabt, resümierte Meershoek: das Verständnis der Polizeiarbeit als professionelle Disziplin, die Loyalität zur eigenen Führung, aber auch die Isolation der Polizeikräfte von der Gesellschaft sowie mangelnde Erfahrungen mit sozialen Konflikten.
Abschließend wurde das Spannungsfeld zwischen (Polizei-)Organisationen und den beteiligten Akteuren als wiederkehrender Diskurs aufgefasst, in dem verschieden ausgeprägte Handlungsspielräume gegeben waren: diese konnten der Intention folgen, die Effekte der NS-Herrschaft abzumildern – wie dies im Rahmen des jüdischen Ordnungsdienstes wenigstens versucht wurde – oder durch die Initiative von besonders ehrgeizigen und radikalen Polizisten zu einem gesteigerten Verfolgungsdruck führen – wie beispielsweise in Spanien.
"Fateful months", "ganz normale Männer" und die Spurenbeseitigung von NS-Massenverbrechen
Das anschließende Panel setzte sich mit multiperspektivischen Quellenlagen, -problemen und -zugängen auseinander. Dafür würdigte der Hamburger Historiker Andrej Angrick Brownings Wirken mit besonderer Betonung dessen früherer Veröffentlichungen. So habe Brownings Essaysammlung "Fateful Months. Essays on the Emergence of the Final Solution" von 1985, vor allem hinsichtlich seiner Untersuchung des Vernichtungslager Semlins, "einen grundlegenden Beitrag zur Genese der NS-Vernichtungspolitik geleistet". Als erster habe Browning die Bedeutung der "schicksalhaften Monate" ("fateful months") des Spätsommers und Herbstes 1941 für die Genese der "Endlösung" erkannt. Sowohl im polnischen Chełmno ("Kulmhof"), als auch in Semlin, nahe Belgrad, seien "frühzeitig die Hinrichtungsmethoden entwickelt [worden], die als letzte Zwischenstufe vor der Einrichtung der Aktion Reinhardt-Lager und Birkenau zu verstehen sind", so Angrick. Das Vernichtungslager Semlin habe in der Forschung nicht die gleiche Aufmerksamkeit erfahren wie Chełmno – trotz der Untersuchungen Brownings. Auch dort seien die "ganz normalen Männer" eines Reserve-Polizeibataillons an der Ermordung von tausenden Jüdinnen und Juden beteiligt gewesen.
Doch nicht nur bei der Ermordung, auch bei der Spurenbeseitigung hätten Ordnungspolizisten die personelle Basis gestellt. So auch im Rahmen der sogenannten Aktion 1005, bei der systematisch Beweise für die Massenverbrechen vernichtet wurden – vor allem die Beseitigung der Massengräber. Den Beginn der Aktion könne man auf März 1942 datieren, analysierte Angrick. Für die technische Umsetzung wurde im Vernichtungslager Chełmno experimentiert und schlussendlich die Verbrennung von Leichen auf geschichteten Eisenbahnschienen als praktikabel angesehen. Bei ihrem Einsatz im sogenannten Generalgouvernement, in der besetzten Sowjetunion oder in Serbien hätten Ordnungspolizisten die Wachen und "somit das Gros des Personals" gestellt, fasste Angrick eines seiner Forschungsergebnisse zusammen. Ohne sie wären weder der Holocaust noch die ihn zu vertuschen versuchende "Aktion 1005" möglich gewesen. "Das Regime bedurfte der normalen, willfährigen, autoritätshörigen und im Korpsgeist ausgebildeten Männer, da der Genozid mit einer Gruppe NS-motivierter Psychopathen und Fanatiker gar nicht hätte organisiert und umgesetzt werden können." Die Arbeiten Christopher Brownings hätten dazu beigetragen, so schloss Angrick, unseren Blick genau dafür zu schärfen.
Zeugnisse von Tätern und Geschlecht
Während Angrick vor allem über die Spurenbeseitigung gesprochen hatte, stellte Wendy Lower, Inhaberin des John K. Roth Lehrstuhls für Geschichte am kalifornischen Claremont McKenna College, Zeugnisse in den Vordergrund. Vor allem sogenannte Ego-Dokumente wie Tagebucheinträge, Briefe, Memoiren oder Interviews. Dabei sei jedoch zu beachten, dass diese Quellengattung zumeist mit dem Wissen um ein Publikum produziert werde. Neben Brownings Leistung innerhalb der Täterforschung sei hervorzuheben, dass er auch methodisch für die Rekonstruktion von Mikro-Historie, basierend auf Opfer- und Täter/innen-Zeugnissen, bedeutendes geleistet habe. Auch habe er in "Ordinary Men" Gender-Dynamiken erkannt und beschrieben. Einen solchen Bezug auf die analytische Kategorie Geschlecht verfolge sie selbst. Dabei machte sie vor allem auf drei Merkmale aufmerksam: die Perversion von Geschlechterrollen, die geschlechtsspezifische Dynamik zwischen Männern und Frauen sowie die geschlechtsspezifischen Einschätzungen Dritter, wie Beobachter oder Ermittler nach dem Weltkrieg.
Als wichtigen Punkt einer geschlechtsspezifischen Dynamik zwischen Männern und Frauen im Rahmen des Holocaust machte Lower den Wunsch aus, sich vor dem jeweils anderen Geschlecht beweisen zu wollen. Auch wurden Frauen während des Krieges von Männern – sei es durch Ehegatten oder beispielsweise während ihrer Tätigkeit als Krankenpflegerinnen – Informationen über deren Gräueltaten anvertraut. Dies war auch wertvoll für Ermittlungen nach dem Krieg. "Wie Priester Beichten abnahmen, hörten Ehefrauen Geständnisse und es wurde erwartetet, dass sie ihren Ehemännern vergeben, dass sie Absolution erteilen und nicht die Scheidung einreichen." Ferner lasse sich eine Dynamik der Geschlechterbeziehungen im Rahmen von intimen und sexuellen Verhältnissen ausmachen. Zum sogenannten Ostrausch hätten nicht nur Alkohol- und Machtexzesse gehört, sondern auch Sex. So wurden zum Teil Sekretärinnen zu Geliebten und diese mit weitreichenderem Wissen ausgestattet als für diese Position üblich. Wurde nach dem Krieg gegen sie ermittelt, so versuchten Angehörige beider Geschlechter ihre individuelle Rolle klein zu reden. Diesbezüglich könne also kein geschlechtsspezifischer Unterschied festgestellt werden. Doch es gab durchaus spezifisch weibliche Verteidigungsstrategien, die ihre Unerfahrenheit und Naivität oder ihre jeweilige Rolle als Ehefrau und Mutter in den Mittelpunkt stellten. Auch wurden weibliche Angeklagte in der Öffentlichkeit anders beurteilt: ihre Taten wurden im Kontext ihrer Partnerschaft interpretiert, ihre Verteidiger versuchten sie als unpolitisch oder ausschließlich im privaten Raum tätig darzustellen. Frauen, die sich wie Männer benommen hatten, erschienen undenkbar.
Lower hielt fest, dass es "keine harte Linie zwischen den Geschlechtern" gebe: auch Frauen haben gemordet – nicht nur im Privaten, sondern auch zum Beispiel im Euthanasieprogramm. Eine Gender-Dynamik lasse sich für verschiedene Bereiche ausmachen: der Wunsch, sich vor dem anderen Geschlecht beweisen zu wollen, die oftmalige Zuhörerinnenposition von Frauen sowie sexuelle Beziehungen, in deren Folge Frauen häufig Aufgaben anvertraut wurden, die als "unweiblich" angesehen wurden. (
Den letzten Tätern auf der Spur. Erfahrungen eines Staatsanwalts
Der Dortmunder Oberstaatsanwalt und Leiter der Zentralstelle im Land NRW für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen, Andreas Brendel, gab in seinem Input einen Einblick in die Arbeit seiner Ermittlungsbehörde. Während die "Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" (oder kurz: Zentrale Stelle) in Ludwigsburg 1958 gegründet worden war, um als Vorermittlungsbehörde lokalen Staatsanwaltschaften bei der Ermittlung gegen NS-Täter zuzuarbeiten, wurde 1961 die Schwerpunktstaatsanwaltschaft in Dortmund gegründet, für die Brendel tätig ist. Diese behandelt die Ermittlung und Vorbereitung von Verfahren zu NS-Massenverbrechen gegen Täter und im Land NRW. Damit sollte juristische Kompetenz gebündelt werden.
Seit dem Urteil gegen John Demjanjuk, der 2011 aufgrund seiner Tätigkeit im Vernichtungslager Sobibor wegen Beihilfe zum Mord verurteilt worden war, erhalte seine Behörde von der Ludwigsburger "Zentralen Stelle" noch mehr Anregungen für Verfahren und fertige Ermittlungsakten. Dabei können sich Staatsanwaltschaften ausschließlich mit Morden beschäftigen, da andere Straftaten verjährt sind. Der Mord-Paragraf §211 des Strafgesetzbuches aber wiederum sei an sich problematisch, erklärte Brendel. Dieser stamme aus der NS-Zeit und beschreibe durch die Formulierung "Mörder ist, wer …" nicht die Tat, sondern den Täter, bzw. die Täterin. Die Verfolgung der Taten – auch fast 75 Jahre danach – ergebe sich nicht nur aus moralischer Pflicht, sondern auch aus dem Legalitätsgrundsatz. Demnach sei die Staatsanwaltschaft dazu verpflichtet, Straftaten nachzugehen, berichtet Brendel. Zeitlich sei die Strafprozessordnung offen, lediglich die Verhandlungsfähigkeit von Angeklagten kann eine zeitliche Begrenzung darstellen. Die Ermittlungsmethoden reichen von Archivbesuchen, Besichtigungen ehemaliger Konzentrations- und Vernichtungslager – wobei auch die Frage wichtig sei, was die dort eingesetzten Täterinnen und Täter eigentlich wissen konnten –, Vernehmungen, Durchsuchungen, Öffentlichkeitsfahndungen und Telefonüberwachungen. Letztere hätten gezeigt, dass ein reges Netzwerk unter den NS-Tätern bestanden habe. Die Auseinandersetzung mit dem Thema, aber auch vor allem mit Zeitzeugen und -zeuginnen sei mitunter emotional. Prozesse gegen Täter könnten jedoch auch dabei helfen, die Taten im Bewusstsein der Bevölkerung wachzuhalten.
In der Fragerunde zeigte sich, dass für die anwesenden Personen aus der Forschung nicht nur konkrete Fälle, sondern vor allem Sperr- und Aufbewahrungsfristen von Interesse sind. Herr Brendel erläuterte, dass seine Behörde Materialien, die für Ermittlungen genutzt werden, zwar ungefähr 30 Jahre aufbewahre, die wissenschaftliche Forschung jedoch unter Umständen trotzdem auf diese zugreifen könne. (Zum Experteninterview mit Andreas Brendel)
Christopher Browning zum 75. Geburtstag (im Historischen Rathausfestsaal)
"Still, still, lasst uns schweigen,
Gräber wachsen hier.
Die Feinde haben sie gepflanzt,
wachsen sie grün ins Himmelblau."
Mit einer Übersetzung des jiddischen Liedes "Shtiler, Shtiler – Stiller, stiller" eröffnete der Chor des Münsteraner Gymnasiums Paulinum den Festakt zu Ehren Christopher Brownings, der im Mai seinen 75. Geburtstag gefeiert hatte. Münsters Stadträtin Cornelia Wilkens erläuterte in ihrem Grußwort den Entstehungskontext des Liedes. Dieses war für einen Wettbewerb des Judenrats von Vilnius vom elfjährigen Alek Wolkowisky komponiert worden und thematisierte – mit dem Text von Shmerke Kaczerginski – die Massaker, die deutsche Einsatzgruppen im litauischen Ponary verübt hatten. Ferner betonte Wilkens die Bedeutung, die Brownings Pionierstudie für die Gründung der Villa ten Hompel gehabt habe.
Auch der Parlamentarische Staatssekretär im Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, Klaus Kaiser, drückte seinen Dank an Browning aus. Er betonte vor allem den Wert von Brownings Arbeit für die Forschung und Gedenkstätten. Nicht zuletzt das Herausarbeiten von individuellen Handlungs- und Entscheidungsspielräumen sei als individuelle Verantwortung wichtiger Bestandteil jeder politischen Bildung. Dabei müssten, so Kaiser, die Handlungskontexte rekonstruiert werden, denn auch in Demokratien sei Polizeigewalt möglich und vorauseilender Gehorsam sei kein NS-spezifisches Phänomen, sondern sehr wohl aktuell.
Laudatio auf Christopher R. Browning von Norbert Frei
In der anschließenden Laudatio formulierte Norbert Frei, Professor für Neuere und Neueste Geschichte in Jena, seine Aufgabe für den Abend: Er überbringe Browning den Dank der Geschichtswissenschaft für sein Œuvre (
Den Erfolg der "Ordinary Men" sah Frei auch darin, dass Browning einen Nerv getroffen habe. Nicht ideologisierte Nazis sondern "ganz normale Männer" wurden als Täter ausgemacht. Dabei habe Brownings Erklärung mehrere Faktoren umfasst: die Entmenschlichung der Opfer, die Gewöhnung an Gewalt und Kameraderie. Und auch noch heute entwickle sich Brownings Werk weiter. Browning bleibe nicht stehen, sondern wende seine Erkenntnisse auf die heutige Zeit der USA Donald Trumps und dem Vordringen illiberaler Demokratien an, schlug Frei abschließend den Bogen zur Gegenwart.
Christopher R. Browning: Eine Generation nach "Ordinary Men"
Anekdotisch führte der Ehrengast Browning in seinen Vortrag ein (
Browning arbeitete die aktuelle Bedeutung heraus, die damaligen Mörder als "Ganz normale Männer" statt als "pathologische Sadisten oder ideologische Fanatiker" zu verstehen. Einerseits helfe dies, Bewusstsein und Sensibilisierung für diese Realität zu erweitern. Dafür hätten Forschung und Bildung große Schritte unternommen. Andererseits helfe dieses Verständnis zu erkennen, dass "Regime, die Massenmorde oder Genozide begehen wollen, nicht am Fehlen williger Henker scheitern. Ein Mangel an Mördern ist nie ein großes Hindernis für mörderische Regime." Daher sei die erste Verteidigungslinie die Erhaltung einer demokratischen Kultur, welche Regierungen stütze, die sich den Menschenrechten verpflichten würden. Diese Kultur und die Menschenrechte, so schloss Browning, würden derzeit wieder angegriffen werden. Illiberale, autoritäre Regime würden wieder populärer, weshalb unsere Bildungsaufgabe wichtiger denn je werde. (
Den Abend abschließend leitete der gymnasiale Chor mit "Bella Ciao", dem Lied des italienischen Partisanen, zum Geschichtsprofessor Thomas Pegelow Kaplan über. Dieser übergab dem Ehrengast, den von ihm mitherausgegebenen Sammelband "Beyond 'Ordinary Men'", womit der offizielle Teil des Abends beendet wurde. (
absolvierte seinen B.A. in Geschichte und Neuere Deutsche Literatur in Freiburg, studiert Interdisziplinäre Antisemitismusforschung in Berlin und Bildungswissenschaft in Hagen. Seit 2016 arbeitet er als freier Mitarbeiter u. a. für die bpb.
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