"Holocaust" im Spiegel der Teleskopie-Zahlen
Einschaltquoten und Sehbeteiligung
Uwe Magnus
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Dieser Text von Uwe Magnus erschien Anfang 1979 in der Zeitschrift MEDIA PERSPEKTIVEN und zeigte die ersten quantitativen Resonanzen auf die Ausstrahlung der Serie "Holocaust".
Hinweis
Dieser Text liefert heute einen Einblick in die Ansätze der Medienforschung der 1970er Jahre und spiegelt dabei die Sprache und die Perspektive des damaligen wissenschaftlichen Diskurses wider. Bei einigen Begriffen hat die Redaktion Links zu aktuellen Inhalten eingefügt, und zur besseren Lesbarkeit wurde der Text an die neue deutsche Rechtsschreibung angepasst.
Mit Überraschung sind von den weitaus meisten Beteiligten und Interessierten die Einschaltquoten für die Interner Link: Fernsehspiel-Serie "Holocaust" aufgenommen worden: 31, 35, 37 und 40 Prozent für die vier in einer Januarwoche, Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag ausgestrahlten Folgen. Nur wenige hatten mit einer derart starken, geschweige denn noch stärkeren Resonanz gerechnet.
Zieht man die verfügbaren empirischen Indizien heran, so gelangt man im wesentlich zu drei Faktoren, die gemeinsam zu einer Erklärung hinführen.
Zu nennen ist dabei ohne Zweifel das Thema, die Interner Link: Judenverfolgung und -vernichtung, das auf ein bestehendes oder stimuliertes Interesse traf. Ein Beleg dafür ist die respektable Einschaltquote von 20 Prozent, die von der in der Vorwoche ausgestrahlten vorbereitenden Interner Link: Dokumentation "Endlösung" erreicht wurde. Noch schlüssiger spricht dafür, dass nach den "Holocaust"-Folgen zur anschließenden Diskussion bis Mitternacht im Durchschnitt 14,3 Prozent aller Geräte eingeschaltet blieben.
Als zweiter Faktor darf die Spielhandlung bezeichnet werden, die zu der unerwartet großen Resonanz beigetragen hat. Diese Resonanz wäre wahrscheinlich nicht zustande gekommen, wenn der Themenkomplex in Form einer Dokumentation in das Programmangebot aufgenommen worden wäre. Als ein kleines Indiz dafür darf gelten, dass bei der Folge 1 von "Holocaust" nennenswerte Gruppen von Zuschauern zunächst die teilweise parallel ausgestrahlte Spielserie "Liebe zu Lydia" bevorzugten, dann aber umschalteten, so dass die Quote bei "Holocaust" während der Sendung von 23 auf 33 Prozent anstieg.
Zitat
Voraus-Publizistik
Der dritte wesentliche Faktor schließlich war offensichtlich die immense und bisher wohl kaum dagewesene Voraus-Publizistik, die der Serie gewidmet worden ist.
Akzeptiert man diese drei zusammenwirkenden Faktoren, so verbietet sich jede monokausale Erklärung wie etwa durch Hinweis auf die von den Amerikanern gewählte Darstellungsform der Dramatisierung und Personalisierung des Themas, bei deren Beschreibung einzelne Stimmen nun fast schon dazu neigen, sie für künftige Produktionen für verbindlich zu erklären.
Zitat
Kein neuentdeckter dritter Einschaltknopf
Antwort geben die Erfahrungen mit "Holocaust" aber auch noch auf eine andere, im Vorhinein viel diskutierte Frage: die der Platzierung in den Dritten Programmen. Es waren stets schon die Programmangebote in den Dritten und nicht die Dritten Programme als solche - wie häufig angenommen - von denen die Resonanz beim Publikum bestimmt wurde. Den unentdeckten dritten Knopf am Fernsehapparat gab es aus der Perspektive des Zuschauers nicht. "Holocaust" hat dies erneut offenbart.
Zitat
Regionale Unterschiede in der Resonanz
Dass die Einschaltquoten in den verschiedenen Sendegebieten unterschiedlich waren, ist wohl zum Teil dadurch zu erklären, dass auch die Voraus-Publizistik nicht überall gleiche Intensität aufwies; so ist denkbar, dass sie in Nordrhein-Westfalen, dem Standort des die Serie betreuenden WDR, am stärksten war, was sich in der entsprechenden regionalen Quote niedergeschlagen haben könnte. Stärkere Schwankungen der Quoten in kleineren Sendegebieten wie Westberlin oder Saarland gehen wohl auf die kleineren regionalen Haushalts-Stichproben zurück, die zu größeren Fehlertoleranzen führen. Ein deutlicherer Indikator für die Aktivität Fernsehen als die Einschaltquote ist die Sehbeteiligung (sie fällt deshalb niedriger aus als die Einschaltquote, weil praktisch nie alle Haushaltsmitglieder zusammen vor dem Apparat sitzen - zwar schon im Einzelfall, nie aber im Durchschnitt).
Tabelle 1: Einschaltquoten und Sehbeteiligung bei "Holocaust" und den anschließenden Diskussionen
Eingeschaltete Geräte in %
Erwachsene ab 14 Jahre
Kinder
8-13 Jahre
3-7 Jahre
in %
in Mio
in %
in Mio
in %
in Mio
1. Folge "Holocaust" "Anruf erwünscht"
31 11
24 7
10,16 2,96
4 0
0,21 0,05
1 0
0,04 0,00
2. Folge "Holocaust" "Anruf erwünscht"
35 13
28 9
11,66 3,93
7 0
0,41 0,002
2 0
0,05 0,05
3. Folge "Holocaust" "Anruf erwünscht"
37 15
31 12
13,21 4,95
9 1
0,53 0,70
2 1
0,07 0,02
4. Folge "Holocaust" "Anruf erwünscht"
40 18
32 15
13,43 5,59
15 2
0,89 0,10
2 0
0,06 0,00
Diese exaktere Resonanzmessung relativiert - wie immer - den Eindruck, der von der Einschaltquote ausgeht. Trotz des überraschenden Anklangs, den "Holocaust" fand, saß nach diesen Zahlen aber doch nicht die Mehrheit der Nation vor den eingeschalteten Dritten Programmen, sondern - was als überaus respektabel bezeichnet werden sollte - jeweils ein Viertel bis ein Drittel. Dies darf auch als eine milde Warnung vor der quantitativen Überschätzung der Spontan-Reaktionen in Gestalt von Anrufen und Zuschriften verstanden werden.
Nun sagen diese Sehbeteiligungswerte noch nichts darüber aus, wer überhaupt "Holocaust" gesehen hat, und es interessiert, wie groß die Gruppen der Zuschauer waren, die jeweils eine, zwei, drei oder alle vier Folgen gesehen haben. Dies zeigt der folgende Überblick. (Vgl. Tabelle 2)
Nach diesem Resultat, das die "Gesamt-Reichweite" der Sendungen zeigt, ist erneut zu relativieren - diesmal in der anderen Richtung: 48 Prozent, das heißt fast die Hälfte der erwachsenen bundesrepublikanischen Bevölkerung hat "Holocaust" gesehen; - dies ist erstaunlich und ermutigend, auch im Vergleich mit anderen Serien, die mit gleicher Anzahl von Folgen zu höheren Gesamt-Reichweiten - zum Beispiel "Roots" mit über 60 Prozent - gelangt sind.
Tabelle 2: Sehbeteiligung bei "Holocaust"
Es haben...
Erwachsene ab 14 Jahre
in %
in Mio
eine Sendung gesehen
14,3
6,0
zwei Sendungen gesehen
10,8
4,6
drei Sendungen gesehen
10,5
4,4
alle vier Folgen gesehen
12,6
4,3
somit überhaupt "Holocaust" gesehen
48,1
20,3
Abschließend soll die Frage interessieren, bei welchen demographischen Gruppen Männer, Frauen, Ältere, Jüngere - die Serie stärkeren oder geringeren Anklang gefunden hat.
Zitat
Überdurchschnittliche Sehbeteiligung bei: Personen zwischen 30 und 50 Jahren
Eine geringfügige Abweichung von der durchschnittlichen Sehbeteiligung bei Männern und Frauen ergibt keine Basis für Interpretationen; die Resonanz war bei beiden Geschlechtern praktisch gleich.
Bei den Altersgruppen ist zu konstatieren, dass die Älteren (ab 50 Jahre) deutlich unter- und die mittleren Jahrgänge (30 bis 49 Jahre) stark überrepräsentiert sind - zum einen eine tendenzielle Abwehrhaltung bei Zuschauern, die sonst überdurchschnittlich viel fernsehen, andererseits überdurchschnittlich starkes Interesse. Dass die Jüngeren (14 bis 29 Jahre) eine nahezu durchschnittliche Sehbeteiligung aufweisen, sollte positiv bewertet werden, da diese Gruppe mit starker Affinität zum Hörfunk im Fernsehpublikum meist oder fast immer unterrepräsentiert ist.
Zitat
Personen mit mehr als Volksschulbildung
Wird nach Bildungsgraden untergliedert, so bilden die beiden oberen Bildungsgruppen in stärkerem Umfang als im Durchschnitt das Publikum von "Holocaust", wohingegen die untere Bildungsschicht sich dem Programmangebot tendenziell eher entzogen hat.
Tabelle 3: Durchschnittliche Sehbeteiligung in Untergliederung nach demographischen Gruppen in %
Männer Frauen
29,5 28,0
Altersgruppen
14 - 29 Jahre
27,5
30 - 49 Jahre
34,5
50 Jahre und älter
24,25
Bildungsgruppen
Volksschule o. Lehre
24,75
Volksschule o. Lehre
31,25
weiterführende Schulen
29,25
allgemein im Durchschnitt
28,75
Zitat
Kontinuierlicher Anstieg der Sehbeteiligung von Kindern
Als bemerkenswert sei zum Abschluss die Sehbeteiligung der 8 bis 13-jährigen Kinder angefügt. Sie stieg von vier Prozent bei der ersten Folge über sieben und neun auf 15 Prozent bei der vierten Folge. Mag zwar zur letzten Sehbeteiligungsquote (Freitagabend) das nahende Wochenende beigetragen haben, so lässt der Anstieg insgesamt auf wachsende Bekanntheit der Serie und zunehmendes Interesse daran schließen.
Quelle: Media Perspektiven 2/1979, Uwe Magnus: "Holocaust im Spiegel der Teleskopie-Zahlen", S. 77ff
Dr. Uwe Magnus war beim WDR in Köln Leiter des Medienreferats in der Intendanz und bis 1970 in der Stabsstelle des Spiegel-Verlages für Prognoseplanung und redaktionelle Forschung zuständig. Er gehörte neben Tilman Ernst von der Bundeszentrale für politische Bildung und Peter Märthesheimer von der Bavaria München zum Projektteam der Begleitforschung.
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