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"Holocaust" und politische Bildung | Die Serie "Holocaust" | bpb.de

Die Serie "Holocaust" Film: „Wie ,Holocaust‘ ins Fernsehen kam“ Film und Fernsehen als Medien der gesellschaftlichen Vergegenwärtigung des Holocaust Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft Begleitmaterial zur Erstausstrahlung: "Holocaust kontrovers" Film: "Endlösung" Befragungen zur Ausstrahlung "Holocaust" im Spiegel der Teleskopie-Zahlen "Holocaust" und politische Bildung - Ergebnisse der dritten Befragungswelle "Holocaust" und politische Bildung Die Reaktionen auf "Holocaust" "Holocaust" in der Bundesrepublik Redaktion

"Holocaust" und politische Bildung

Tilman Ernst

/ 12 Minuten zu lesen

In diesem Text der Zeitschrift MEDIA PERSPEKTIVEN aus dem Frühjahr 1979 gab Tilman Ernst einen Überblick über die wichtigsten Erkenntnisse aus der Begleitforschung zu der Ausstrahlung von "Holocaust".

Hinweis

Dieser Text von 1979 liefert heute einen Einblick in die damaligen Ansätze der politischen Bildung und der empirischen Sozialforschung und spiegelt dabei die Sprache und die Perspektive des damaligen wissenschaftlichen Diskurses wider. Bei einigen Begriffen hat die Redaktion Links zu aktuellen Inhalten eingefügt, und zur besseren Lesbarkeit wurde der Text an die neue deutsche Rechtsschreibung angepasst.

Statement "Mit ihren Ideen stiften Juden nur Unfrieden." und "Die Juden arbeiten mehr als andere mit Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen." kontextualisieren!

Ziele der Untersuchung

Der Untersuchungsansatz der Begleitforschung für die Fernsehserie "Holocaust" ist bereits in dem Interner Link: Beitrag von Uwe Magnus, S. 226 dieser Ausgabe dargestellt worden. Die Grundstruktur der Untersuchung und die Entscheidung für repräsentative Stichproben verdeutlichen, dass die Interner Link: Bundeszentrale für politische Bildung in der Interner Link: Ausstrahlung des Fernsehfilms "Holocaust" eine wertvolle Chance pädagogischer Breitenwirkung gesehen hat. Diese Einschätzung verdeutlicht auch die Zusammensetzung der Beratergruppe, die zur inhaltlichen Ausgestaltung der Begleitforschung wesentlich beigetragen hat und in der Kommunikationswissenschaft, Interner Link: Medienpädagogik, Interner Link: Extremismus- bzw. Interner Link: Totalitarismus-Forschung, sowie politisch-pädagogischen Didaktik auch personell vertreten waren.

Zitat

Vorrangig: Gewinnung aussagefähiger Datenbasis für politische Bildung

Ziel der Begleituntersuchung zu "Holocaust" war es nicht in erster Linie akademische Interessen zu befriedigen, sondern praxisorientierte Ergebnisse zu liefern. Für die Bundeszentrale für politische Bildung war vorrangiges Ziel die Erarbeitung einer detaillierten und aussagekräftigen Datenbasis, um darauf aufbauend Begleitmaßnahmen zu dem Schwerpunktthema "Nationalsozialismus und seine Bedeutung für die heutige Zeit" weiter- bzw. neu entwickeln zu können. Nicht zuletzt war das Engagement der Bundeszentrale auch verknüpft mit der Hoffnung, das Interner Link: Massenmedium Fernsehen als "Verbündeten" bei der Behandlung eines gesellschaftlich relevanten Themas zu gewinnen. Denn trotz umfangreicher Bemühungen aller Institutionen der politischen Bildung und sicher auch der Schulen ist die Annahme begründet, dass demokratische Prinzipien und die repräsentative parlamentarische Organisation von Entscheidungen von beträchtlichen Teilen der Gesellschaft auch heute noch in Zweifel gezogen werden. Damit stellt sich die Frage, wie die Gruppe derjenigen, die nach wie vor oder schon wieder im Kern Interner Link: faschistischen Ideologien anhängen, erreicht werden kann.

Zitat

Forderungen an "Holocaust": Sensibilisierung breiter Teile der Bevölkerung, Verbreitung historischen Wissens, Transport gesellschaftlich relevanter Themen

Mit Blick auf politische Bildung hat "Holocaust" vor allem drei positive Funktionen:

  1. "Holocaust" gibt allen pädagogisch Verantwortlichen die Gelegenheit, Themen im Zusammenhang mit der Entstehung, den Taten und den Konsequenzen des Nationalsozialismus aufzugreifen. "Holocaust" schafft die hierfür unbedingt notwendige Sensibilisierung breiter Teile der Bevölkerung. Politische Bildung muss für diesen Themenbereich nicht mehr mühsam erst Interesse schaffen, vielmehr kann sie für millionenfach ablaufende Diskussionen im alltäglichen Bereich rationale Argumente anbieten, Hintergründe und Gesamtzusammenhänge thematisieren und auf Konsequenzen für heute hinweisen.

  2. "Holocaust" deckt Defizite auf und zeigt Ansatzpunkte für politische Bildung, die sowohl im Bereich des historischen Wissens als auch der sozialen Einstellungen liegen. Nachdem die Interner Link: "Hitler-Welle" einen Interner Link: Markt für den Nationalsozialismus durch zum Teil heroisierende und verharmlosende Publikationen, Filme und Tondokumente geöffnet hatte, der gerade auf Jugendliche anzielte, war es an der Zeit, einige der schlimmsten Ereignisse der Nazi-Herrschaft sinnlich erfahrbar zu machen und als Gegengewicht zu verankern.

  3. Medien- und programmpolitisch ist die Sendereihe "Holocaust" als exemplarischer Fall eines intensiven thematischen Angebotes des Fernsehens zu werten, das gesellschaftspolitische Interessen verfolgt. Wenn der Erfolg von "Holocaust" die Möglichkeiten politischer Bildung multipliziert und verbessert, dann bildet das eine Basis, anderen gesellschaftlich relevanten Themen vergleichbare Chancen zu eröffnen.

Ergebnisse: "Holocaust" hat aktiviert

Es bedarf fast keiner empirischen Erhebung zu diesem Problem: "Holocaust" hat in ungezählten Diskussionen Gesprächsstoff geliefert und Interesse an weiterführenden Informationen geweckt. Hierzu gehören auch die Interner Link: von der Bundeszentrale für politische Bildung und den Landeszentralen bereitgehaltenen Materialien. Allein die Bundeszentrale hat über 105.000 Anfragen nach Begleitmaterial erhalten. (Rechnet man alle Anfragen an die Bundes- und die Landeszentralen, insbesondere in Nordrhein-Westfalen, zusammen, ergeben sich ca. 450.000 Anfragen.) Ganz besonders hervorzuheben ist dabei, dass von diesen 105.000 Anfragen ca. 70.000 von Ausbildern bzw. Lehrern gekommen sind (Schulen: 83 Prozent, außerschulische Jugendarbeit: 11 Prozent, Bundeswehr: 3 Erwachsenenbildung: 3 Prozent). Ein großer Teil der Anfrager nimmt zu dem Film "Holocaust" selbst Stellung, aber auch zu daraus sich ergebenden Problemen wie den Fragen "Wie konnte es soweit kommen?" und "Was können wir für heutige Probleme daraus lernen?".

105.000

Anfragen nach Begleitmaterial, davon 70.000 von Lehrern

Aus der Begleituntersuchung selbst ergeben sich folgende Werte:

Frage: "Hat "Holocaust" Sie angeregt, mehr über die Themen Nationalsozialismus und Judenverfolgung erfahren zu wollen?"

Total14 - 19
Jahre
20 - 29
Jahre
30 - 39
Jahre
40 Jahre
und älter
Basis1.014122150202540
Ja36 %62 %53 %36 %27 %
Nein63 %39 %45 %64 %73 %

Diese Zahlenverhältnisse korrespondieren sehr gut mit den Erfahrungen der Bundeszentrale, die aus Briefen deutlich wurden. Viele Lehrer schrieben, dass ihre Schüler das Thema "Holocaust" im Unterricht geradezu forderten; viele Eltern schrieben, dass sie für ihre Kinder das Begleitmaterial haben wollen, weil diese danach fragten.

Als weiteres Indiz für Aktivierung kann die Bereitschaft angesehen werden, den Film "Holocaust" noch einmal anzuschauen, wenn er wiederholt wird. (In der Befragung wurde leider ein Termin gewählt, der aus der heutigen Sicht als zu weit gegriffen erscheint.)

Zitat

80 Prozent der Jugendlichen würden "Holocaust"-Wiederholung ansehen

Frage: "Wenn die Sendung in zwei bis drei Jahren wiederholt würde, würden Sie sich dann "Holocaust" noch einmal ansehen?"

Total14 - 19
Jahre
20 - 29
Jahre
30 - 39
Jahre
40 Jahre
und älter
Basis1.014122150202540
Ja, bestimmt28 %39 %38 %29 %22 %
Ja, wahrscheinlich32 %41 %34 %37 %27 %
Nein, wahrscheinlich nicht22 %10 %20 %17 %27 %
Nein, bestimmt nicht17 %10 %9 %16 %21 %

Zitat

Kritik der Jüngeren an später Sendezeit

Nach diesen Ergebnissen besteht gerade bei den Jüngeren ein erhebliches Bedürfnis, „Holocaust" noch einmal zu sehen. Dass es sich bei solchen Zahlen nicht bloß um Lippenbekenntnisse handeln muss, beweist eine vergleichbare Frage aus der ersten Erhebungswelle, also vor Ausstrahlung von "Holocaust", in der danach gefragt wurde, ob man die Sendereihe ansehen würde. Die Ergebnisse stimmen mit der tatsächlichen Sehbeteiligung sehr gut überein. Beachtenswert in diesem Zusammenhang: Insbesondere die jüngeren Altersgruppen bemängeln, dass "Holocaust" zu spät gesendet wurde.

Von entscheidender inhaltlicher Bedeutung sind die Gespräche, zu denen "Holocaust" angeregt hat. Bereits während der Sendung bzw. an den einzelnen Tagen der Ausstrahlung fanden unzählige Gespräche statt.

Zitat

Thema "Holocaust" stark diskutiert - während der Sendung und danach

Frage: "Haben Sie während oder nach der Sendung mit Familienangehörigen, Freunden, Bekannten oder Arbeitskollegen über "Holocaust" gesprochen?"

TotalMännerFrauen
Basis1.014504510
Ja, mit Familienangehörigen64 %64 %63 %
Ja, mit Freunden,
Bekannten oder Arbeitskollegen
40 %48 %33 %
Nein, mit niemand23 %20 %27 %

Zitat

Diskussion auch kontrovers

Wie weitere Fragen zeigen, verliefen diese Diskussionen nicht unbedingt harmonisch. Zwar überwiegt das Urteil, dass man mit der eigenen Meinung mehr Zustimmung als Ablehnung erfahren hat, doch scheint es auch in erheblichem Umfang Kontroversen ge¬geben zu haben. Dies wird deutlich, wenn man sich die inhaltlichen Schwerpunkte dieser Gespräche näher ansiehtInterner Link: (vgl. die Aufstellung S. 228).

Zitat

Gespräche gehen über den Film hinaus

Aus diesen Ergebnissen wird auch deutlich, dass nicht nur ganz spezifische, eng auf den Film bezogene Themen diskutiert wurden, sondern in erheblichem Umfang auch über den Film hinausweisende Probleme, wie etwa Lehren, die daraus gezogen werden können oder die Frage nach Ursachen und Schuld. Selbstverständlich sind diese Hinweise noch sehr grob, aber sie machen bereits deutlich, dass die Sendung "Holocaust" pädagogisch nutzbare Anstöße gegeben hat.

Wissenszuwachs - zumindest subjektiv und kurzfristig

Die Frage war: Erreicht "Holocaust" nur den emotionalen Schock, die gefühlsmäßige Betroffenheit, oder leistet die Serie mehr, indem Wissen geschaffen wird oder gar Meinungen geprägt, Einstellungen aufgebaut bzw. abgeschwächt werden.

Zitat

Untersuchung kurzfristiger Wirkungen

Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung kurzfristiger Wirkungen zeichnen ein relativ klares Bild. Nach dem Urteil der Befragten hat "Holocaust" Wissenszuwachs bewirkt, auch bei denen, die sich als "politisch stark interessiert" bezeichnen und die häufiger als andere über eine höhere formale Bildung verfügen.

Frage: "Würden Sie sagen, daß Sie persönlich durch "Holocaust" Dinge über die Zeit des Nationalsozialismus erfahren haben, die Sie bisher nicht wussten?"

Total14-19 Jahre20-29 Jahre30-39 Jahre40 u. älter Polit. Interesse
wenig mittelstark
Basis1.014
Ja51 %69 %61 %49 %46 %48 %56 %48 %
Nein49 %32 %39 %51 %54 %52 %44 %52 %

Zitat

Ausmaß der Grausamkeiten war jüngeren und mittleren Jahrgängen nicht bekannt

Dieses subjektive Urteil über den eigenen Wissensstand wird aussagekräftiger, wenn man fragt, was "Holocaust" an Neuem erfahrbar gemacht hat. An erster Stelle steht hier das Ausmaß der Grausamkeiten, das insbesondere den Frauen, den jüngeren und mittleren Altersgruppen sowie den formal geringer Gebildeten kaum bekannt war. Das Ausmaß und die Systematik der Vernichtungsaktionen zu erkennen, ist jedoch wichtige Voraussetzung für die Beurteilung der Frage, ob eine Beschäftigung mit der Zeit des Nationalsozialismus bzw. der Judenverfolgung auch in der heutigen Zeit noch wichtig ist. Somit hat "Holocaust" hier bei wichtigen Zielgruppen der politischen Bildung Ansatzpunkte zur Weiterarbeit geschaffen.

Dass diese Ergebnisse nicht nur ein vereinzeltes Datum sind, beweisen die Antworten auf viele andere Fragen, von denen hier nur einige herausgegriffen werden sollen:

Statement: "Holocaust" macht bestimmte Vorgänge während der Zeit des Nationalsozialismus begreiflich.

Ja, stimmt56 %
Unentschieden22 %
Nein, stimmt nicht23 %

Statement: "Holocaust" ist ein guter Geschichtsunterricht für diejenigen, die die Zeit damals nicht miterlebt haben.

Ja, stimmt67 %
Unentschieden19 %
Nein, stimmt nicht14 %

Statement: "Holocaust" sollte in allen Schulen in der Bundesrepublik gezeigt werden.

Ja, stimmt49 %
Unentschieden25 %
Nein, stimmt nicht26 %

Zitat

Einstellungsveränderungen

Weitere Hinweise auf die Leistung des Films "Holocaust" gibt ein Vergleich einzelner Daten, die vor und nach der Ausstrahlung erhoben wurden, und zwar bei "Holocaust"-Sehern und bei Personen, die "Holocaust" nicht gesehen haben. Danach glauben wesentlich mehr Seher von "Holocaust", dass die Zahl von sechs Millionen getöteter Juden der historischen Wahrheit entspricht, während sich bei den Nicht-Sehern keine Unterschiede vor und nach der Ausstrahlung ergeben. Es gibt weiter entscheidende Schwerpunktverlagerungen hinsichtlich der für die Befragten herausragenden Merkmale der Zeit des Nationalsozialismus. Während vor Ausstrahlung in der Charakterisierung der Zeit des Nationalsozialismus etwa Bau der Autobahnen, Beseitigung der Arbeitslosigkeit, Olympische Spiele in Berlin, Arbeitsdienst, Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung und Wiedererstarken der deutschen Nation eine zum Teil gewichtige Rolle gespielt haben, werden diese Merkmale in den Befragungsergebnissen nach der Ausstrahlung zurückgedrängt durch die "Schattenseiten" dieser Zeit, wie Judenverfolgung, Tötung von Geisteskranken, Konzentrationslager und Gestapo. Diese Tendenz ist auch bei den Nicht-Sehern zu beobachten, jedoch nicht in demselben Ausmaß wie bei den Sehern. Offensichtlich haben hier alle Informationen um "Holocaust" zu denselben Effekten geführt wie der Film selbst - eine Tendenz, die auch bei der Interpretation verschiedener anderer Daten dieser Untersuchung berücksichtigt werden muss.

Zitat

Informationen um "Holocaust" verstärkten die Effekte

In Zusammenhang mit der Vermittlung von Wissen gewinnt die Frage der Glaubwürdigkeit einer Quelle besondere Bedeutung. Hierzu zwei Ergebnisse:

Frage: "Sind Sie der Meinung, dass die Sendung die damaligen Verhältnisse richtig wiedergegeben hat?"

Total
Basis1.014
Ja, vollständig16 %
Ja, überwiegend70 %
Nein, überwiegend nicht9 %
Nein, überhaupt nicht2 %
Keine Angabe3 %

Hinsichtlich Geschlecht, Alter, Schulbildung und politischem Interesse zeigen sich kaum Unterschiede innerhalb der entsprechenden Teilgruppen. Dies ist methodisch auch deshalb interessant, weil ein genereller Sympathie-Effekt hier nicht durchgeschlagen haben kann. Dem Statement "Die Sendung war völlig unglaubwürdig" stimmten nur zwei Prozent aller befragten "Holocaust"-Seher zu. Selbstverständlich gibt es in diesem Zusammenhang auch kritische Stimmen, wie etwa (bei 10 Prozent der befragten "Holocaust"-Seher), dass die Sendung die damaligen Gescheh¬nisse vereinfacht darstellt und zum Teil verzerrt. Andere Gründe der Befragten, dass die damaligen Verhältnisse in "Holocaust" nicht richtig wiedergegeben wurden: übertrieben, lückenhaft, so grausam waren die Deutschen nicht, allgemein unglaubhaft, aber auch untertrieben (!).

Zitat

Glaubwürdigkeit der Sendung wird von 86 Prozent bestätigt

An der generellen, durchgängigen, vielfach belegbaren Tendenz, dass "Holocaust" für die Zuschauer überwiegend glaubwürdig war, ändern diese Einwände jedoch nichts.

Emotionale Betroffenheit als Voraussetzung für Meinungsänderungen

Mit Meinungen und Einstellungen sind Verhaltensbedingungen gemeint, die in der heutigen politischen Kultur für die generelle Einschätzung der Zeit des Nationalsozialismus, der neofaschistischen Tendenzen oder der Verjährungsfrist für NS-Verbrechen eine Rolle spielen. Die Untersuchung hat hier nicht ein geschlossenes theoretisches Konzept (etwa eine Faschismustheorie) verwendet, sondern zum überwiegenden Teil auf bereits erprobte Einzelindikatoren aus anderen Untersuchungen zurückgegriffen, die einige markante Punkte im politischen Bewusstsein unterschiedlicher Zielgruppen politischer Bildung widerspiegeln.

Zitat

Verbund mehrerer Medien verstärkt Meinungsbildungsprozess

Bei den Meinungen und Einstellungen, die heute zum Teil durch spektakuläre Aktionen tendenziell neofaschistischer Bürger, aber auch in ganz sublimen und alltäglichen Formen erfahrbar werden, kann natürlich ein einziger Film, eine einzelne Sendung (auch wenn sie acht Stunden dauert) nur wenig ausrichten. Erst ein Verbund aus mehreren Instanzen, wie Massenmedien (Fernsehen und Programmzeitschriften und Tageszeitungen) und häufigen Gesprächen in Familien, Schule und Arbeitsplatz, führt zu der Dichte an Information und Kommunikation, die zur Stellungnahme zwingt, die den Aufbau von Meinungen und Einstellungen oder deren Relativierung bzw. Veränderung ermöglicht.

In diesem Verbund, der sich für die Serie "Holocaust" in der Bundesrepublik tatsächlich ergeben hat, hat der Film selbst einen entscheidenden Beitrag geleistet: Er hat die emotionale Betroffenheit bewirkt, die eine notwendige Voraussetzung für Änderungen von Meinungen und Einstellungen ist. Dies jedoch ist ein längerfristiger Prozess. In den Ergebnissen der Befragung unmittelbar nach Ausstrahlung der Sendung waren deshalb nur leichte Effekte zu erwarten; die Interner Link: dritte Erhebung zwölf Wochen nach Ausstrahlung wird zeigen, ob sich diese Effekte stabilisiert haben.

Zitat

Auswirkungen auf Einstellung zur Verjährungsfrist

Deutliche Veränderungen hat "Holocaust" jedoch auf einem Gebiet bewirkt, auf dem allerdings auch wenig fundierte Vorinformationen in der Gesamtbevölkerung verfügbar waren: die Einstellung zur Interner Link: Verjährungsfrist für nationalsozialistische Gewaltverbrechen.

Frage: "In letzter Zeit wird häufig über die Aufhebung der Verjährungsfrist für NS-Verbrechen gesprochen. Was meinen Sie: Sollten solche Verbrechen auch nach 1979 noch verfolgt werden, oder sollten sie nicht mehr verfolgt werden?"

Vor
Ausstrahlung
"Holocaust" Seher"Holocaust" Nicht-Seher
Basis8241.018404
Sollten auch nach
1979 noch verfolgt werden
15 %39 %25 %
Sollten nicht mehr
verfolgt werden
51 %35 %36 %
Habe mich mit
dieser Frage noch nicht beschäftigt
34 %26 %39 %

Zitat

Auch Auswirkungen auf die generelle Einschätzung der Nazizeit

Beachtenswert sind nicht nur die Änderungen zugunsten der weiteren strafrechtlichen Verfolgung von NS-Verbrechen, die sicher nicht absolut zu werten sind, sondern auch die drastische Verringerung des Anteils derjenigen, die sich mit dieser Frage noch nicht beschäftigt haben. Ein weiterer Indikator, der sensibel auf die Wirkungen von "Holocaust" reagiert hat, ist die generelle Einschätzung der Zeit des Nationalsozialismus:

Frage: „Manche Leute sagen, die Zeit des Nationalsozialismus war eine gute Zeit, andere sagen, die Zeit war eine schlechte Zeit. (...) Wie würden Sie persönlich mit Hilfe dieser Liste die Zeit des Nationalsozialismus einschätzen?"

Vorgabe Liste +5 bis -5Vor
Ausstrahlung
"Holocaust" Seher"Holocaust" Nicht-Seher
Basis8241.018404
Mittelwert-2,08-2,56-2,28

In der Tendenz zeigt diese Tabelle, dass sich die generelle Einschätzung der Zeit des Nationalsozialismus bei den Sehern von "Holocaust" verschlechtert hat. Zudem gibt es hier altersspezifische Effekte. Gerade bei der Gruppe der Jugendlichen (14 bis 19 Jahre) sind die kräftigsten Effekte zu verzeichnen. Ähnliche Tendenzen ließen sich auch für den folgenden Indikator nachweisen:

Statement: Der Nationalsozialismus war im Grund eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde.

Vor
Ausstrahlung
"Holocaust" Seher"Holocaust" Nicht-Seher
Basis8241.018404
Ja, stimmt36 %30 %30 %
Nein, stimmt nicht37 %30 %38 %
Unentschieden30 %40 %32 %

Manchen mag das generell hohe Niveau der Zustimmung zu diesem Statement erschrecken. Diese Ergebnisse korrespondieren jedoch gut mit denen aus anderen Untersuchungen in früheren Jahren.

Zitat

"Holocaust" steigerte Schuldgefühl

Wie in Amerika scheint "Holocaust" auch in der Bundesrepublik das Gefühl der Schuld bzw. moralischen Verpflichtung gesteigert zu haben:

Statement: Deutschland ist moralisch verpflichtet, Wiedergutmachung zu leisten.

Vor
Ausstrahlung
"Holocaust" Seher"Holocaust" Nicht-Seher
Basis8241.018404
Ja, stimmt45 %54 %40 %
Nein, stimmt nicht38 %31 %45 %
Unentschieden17 %15 %15 %

Statement: Alle Deutschen, die während der Zeit des Nationalsozialismus erwachsen waren, tragen Mitschuld an dem, was damals geschah.

Vor
Ausstrahlung
"Holocaust" Seher"Holocaust" Nicht-Seher
Basis8241.018404
Ja, stimmt16 %22 %15 %
Nein, stimmt nicht31 %24 %29 %
Unentschieden53 %54 %56 %

Zitat

Gruppe der „Meinungslosen" schrumpft

Deutliche Veränderungen vor und nach "Holocaust" lässt die Frage nach der Rechtfertigung des Interner Link: Attentats auf Hitler erkennen. Nach Ausstrahlung halten 63 Prozent der Befragten das Attentat für gerechtfertigt (14 Prozent mehr als vor Ausstrahlung) und, was auch hier wieder entscheidender ist, die Gruppe derer, die keine Stellung zu beziehen vermag, schrumpft von 43 Prozent auf 30 Prozent.

Ein Kernstück auch des heutigen akuten Neofaschismus sind Interner Link: antisemitische Tendenzen. Man schätzt, dass bei rund einem Viertel der Gesamtbevölkerung antisemitischen [sic] Tendenzen noch oder schon wieder vorhanden sind, wobei sich diese Tendenzen in mehreren unabhängigen Untersuchungen zu verschiedenen Zeitpunkten immer wieder nachweisen lassen.

Statement: Mit ihren Ideen stiften die Juden nur Unfrieden.

Vor
Ausstrahlung
"Holocaust" Seher"Holocaust" Nicht-Seher
Basis8241.018404
Ja, stimmt15 %9 %10 %
Nein, stimmt nicht36 %31 %40 %
Unentschieden49 %60 %51 %

Statement: Die Juden arbeiten mehr als andere mit Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen.

Vor
Ausstrahlung
"Holocaust" Seher"Holocaust" Nicht-Seher
Basis8241.018404
Ja, stimmt32 %22 %21 %
Nein, stimmt nicht38 %33 %38 %
Unentschieden30 %45 %41 %

Zitat

Antisemitische Tendenzen gemindert

Und als Gegenprobe:

Statement: Die Juden in Deutschland sind genauso gute Staatsbürger wie andere auch.

Vor
Ausstrahlung
"Holocaust" Seher"Holocaust" Nicht-Seher
Basis8241.018404
Ja, stimmt80 %84 %80 %
Nein, stimmt nicht19 %12 %16 %
Unentschieden2 %4 %4 %

Zitat

Jugendliche seltener antisemitisch

Zu Vorgaben dieser Art gibt es bei den "Holocaust"-Sehern deutliche geschlechts- und altersspezifische Unterschiede in der Beantwortung. Im Wesentlichen wird deutlich, dass die jüngeren Altersgruppen zwar seltener antisemitische Tendenzen erkennen lassen, dass sie aber, obwohl sie selbst keine oder kaum Juden kennen, dennoch Interner Link: Vorurteile der oben skizzierten Art in erschreckendem Ausmaß übernommen haben. Auch hier hat "Holocaust" seine - zumindest kurzfristige - Wirkung manifestieren können; in weiteren Detailanalysen wird dieser Bereich verstärkt untersucht werden müssen.

Neben den ganz offenkundigen Formen von Neofaschismus und Totalitarismus ist die Frage der Entstehungsbedingungen bzw. Zusammenhänge solcher Erscheinungen relevant. In die Untersuchung aufgenommen wurden deshalb zwei Fragebatterien, die in der Literatur der letzten Zeit Beachtung gefunden haben: Interner Link: Autoritarismus und politische Entfremdung. Die Wirkungen von "Holocaust" auf diese alltäglichen, "normalen" Bewusstseinsstrukturen können hier noch nicht dargestellt werden, da sie umfangreiche und anspruchsvolle statistische Rechenverfahren voraussetzen, die noch nicht abgeschlossen sind. Mit Blick auf die Bezüge und Konsequenzen der Zeit des Nationalsozialismus für heute sind diese Bereiche von großer Bedeutung. Denn neben Schwerpunktsetzungen im Bereich subjektiven Wissenszuwachses und einigen positiven Korrekturen auf der Meinungsebene hat "Holocaust" bei einer nicht geringen Zahl von Sehern Impulse gesetzt, die bei diesen zu einem Nachdenken über heutige Probleme geführt haben.

"Holocaust" - Bezüge zur heutigen Zeit

80 Prozent

der Jugendlichen bezeichnen „Holocaust" als guten Geschichtsunterricht

Was in vielen Briefen an die Bundeszentrale für politische Bildung deutlich wurde, dass nämlich eine beträchtliche Anzahl von Zuschauern durch die Serie angeregt wurde, über Probleme, über gesellschaftliche und individuelle Defizite im politischen Bewusstsein heute nachzudenken, haben auch einzelne Indikatoren der hier dargestellten Untersuchung bewiesen. Vieles spricht dafür, dass "Holocaust" neben einem emotionalen Schock vielfältige Bezüge zu aktuellen und akuten Problemen ermöglicht hat. So wird es z.B. für wichtig gehalten, dass "Holocaust" in allen Schulen der Bundesrepublik gezeigt wird (49 Prozent aller Befragten sind dieser Meinung; 65 Prozent aller 14 bis 19jährigen Befragten). "Holocaust" wird als ein guter Geschichtsunterricht bezeichnet für diejenigen, die die Zeit damals nicht miterlebt haben (67 Prozent aller Befragten; 80 Prozent aller 14 bis 19jährigen Befragten). Denn immerhin 19 Prozent aller Befragten befürchten, dass ein Geschehen, wie es "Holocaust" darstellt, unter bestimmten Bedingungen in Deutschland erneut vorkommen könnte; diese Meinung wird besonders stark von 30 bis 39jährigen Befragten mit höherer formaler Bildung (Abitur/Universität) vertreten. Und ein anderes heute noch gültiges Problem wird durch "Holocaust" deutlich gemacht: Das Statement: Aus "Holocaust" kann man lernen, dass Gehorsam nicht immer das Richtige ist, beantworten 71 Prozent aller Befragten mit ja, stimmt. Die Zustimmung ist wiederum deutlich stärker bei den jüngeren Altersgruppen und bei den Gruppen mit höherer formaler Bildung.

Zitat

Emotionaler Schock

Mit diesen wenigen Indikatoren kann der gesamte Bereich an Aspekten, die von "Holocaust" Impulse erhielten, natürlich nur angedeutet werden. Es wird der dritten Erhebungswelle zwölf Wochen nach der Ausstrahlung vorbehalten bleiben, hier in die Tiefe zu gehen, detailliertere Ergebnisse zu erbringen und zu zeigen, welche der ermittelten Impulse von Bestand sind.

Quelle: Media Perspektiven 4/1979, Tilman Ernst: „Holocaust“ und politische Bildung, S. 230ff

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dr. Karsten Renckstorf, Hans-Bredow-Institut, Hamburg; Dr. Joachim Lißmann, didaktisches Zentrum der Universität Frankfurt; Dr. Josef Hackforth, Institut für Publizistik, Universität Münster; Dipl.-Psych. Arthur Fischer, Firma Psydata, Frankfurt; durchführendes Institut: Marplan, Offenbach; Studienleiter: Dipl.-Psych. Dieter Weichert.

  2. Vgl. "Tribüne", Heft 68, 1978, S. 76 ff.

  3. Die Fragebatterien sind Ergebnis eines Forschungsprojektes der Bundeszentrale für politische Bildung, das von Prof. Ellwein unter Mitarbeit von Prof. Zoll, München, und Dipl.-Psych. A. Fischer, Frankfurt, durchgeführt wurde. Die Skalen wurden entnommen dem "SOPO-Manual", das bei der Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich ist. ("Meßinstrumente für sozio-politische Einstellungen")

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Tilman Ernst, Dipl. -Psychologe, geb. 1942, Referent in der Abteilung Planung und Entwicklung der Bundeszentrale für politische Bildung.