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Die Bedrohungen der Ernährungssicherheit

Joachim von Braun

/ 8 Minuten zu lesen

Ernährungssicherheit bedeutet, dass Menschen sich ausreichender und qualitativ guter Ernährung sicher sein können. Das ist wichtig für die Lebensqualität. Unterschiedliche Risiken sorgen dafür, dass die Ernährungssicherheit weltweit bedroht ist.

Die Folgen des Klimawandels, wie Dürre oder Überschwemmungen, sind eine Herausforderung für die Landwirtschaft. (© picture-alliance, Photoshot)

Der Interner Link: Nahrungskonsum ist abhängig von der Verfügbarkeit und dem Zugang zu Nahrungsmitteln, also von Angebot, Einkommen und Preisen, sowie regionalen und persönlichen Ernährungsgewohnheiten. Dabei ist nicht nur die ausreichende Quantität, sondern auch die Interner Link: Qualität der Nahrung wichtig. Darüber hinaus ist die Stabilität der Verfügbarkeit und des Zugangs zentrale Voraussetzung für Ernährungssicherheit, denn selbst wenn Nahrungsmittel nur kurzfristig nicht verfügbar sind oder der Zugang kurzfristig verhindert ist, kann dies zu gravierenden Ernährungsdefiziten führen. Die Bedeutung der Stabilität für Ernährungssicherheit steht in diesem Beitrag im Vordergrund.

Quellen der Instabilität in der Welt-Ernährungsgleichung

Viele unterschiedliche Faktoren gefährden den kontinuierlichen und gesunden Nahrungskonsum. Wichtig ist dabei im Blick zu behalten, dass die Bestimmungsfaktoren der Ernährungssicherheit (Verfügbarkeit, Zugang, Ernährungsnutzen, Stabilität) eng zusammenhängen: Interner Link: je knapper die Nahrung ist (Verfügbarkeit), desto größer ist die Instabilität auf den Märkten und das wiederum bedeutet, dass das Risiko für arme Bevölkerungsgruppen steigt, keinen Interner Link: Zugang zu Nahrung zu bekommen. Preise sind dabei in Marktwirtschaften der zentrale Dreh- und Angelpunkt für das Messen von Knappheit, Agrarpreisen ist daher ein spezieller Beitrag gewidmet.

Um die Quellen von Instabilität zu beschreiben, ist eine Ernährungs-Gleichung nützlich, die die Faktoren Angebot, Nachfrage und Handel sowie die hinter diesen Aggregaten stehenden Determinanten zusammenfasst. Die Ernährungs-Gleichung kann auf globaler, nationaler und lokaler Ebene erstellt werden. Hier geht es um die Welternährungs-Gleichung (Schaubild 1).

 
Schaubild 1: Welternährungs-Gleichung und ihre Komponenten (global)
 
Nahrungs-Angebot=Nahrungs-Nachfrage
LandHandelBevölkerungswachstum
WasserEinkommenswachstum
Inputs & TechnikMärkteArmut & Ungleichheit
ArbeitseinsatzSupermärkteKonsumverhalten
Farm-StrukturenFinanz-MärkteVerluste & Verschwendung
KlimawandelLagerhaltungBioEnergienutzung
Quelle: J. von Braun, 2013


Schaubild 1 führt die wesentlichen Komponenten der Welternährungs-Gleichung auf, die Veränderungen im Angebot, bei der Nachfrage und im Handel auslösen. Dies sind insbesondere die zunehmenden Ressourcenbeschränkungen (Energie sowie Boden und Wasser), unbeständige Produkt- und Finanzmärkte, der Mangel an technischem Fortschritt, rasch wachsender und sich wandelnder Konsum. Neue Angebots- und Nachfragesituationen verändern die Welternährungs-Gleichung kontinuierlich und zuweilen auch sprunghaft, wie in den Interner Link: Jahren nach 2007. Muss sich die globale Welternährungs-Gleichung auf einem niedrigen Angebotsniveau ausbalancieren, führt das zu Schwankungen auf den Märkten und kann vermehrte Spekulation und unberechenbare Politikreaktionen auslösen: Ein Beispiel dafür sind Exportbeschränkungen in vielen Ländern, die 2008 die weltweite Nahrungskrise verschärften. Das Niveau der Welternährungs-Gleichung hat somit starke Auswirkungen auf die kurzfristigen Ausprägungen der gesamten Welternährung.

Verschiedene Typen von Risiken für die Ernährungssicherheit

Um zu verstehen, was die Ernährungssicherheit gefährdet und was man dagegen tun kann, ist es sinnvoll, drei verschiedene Typen von Risiken zu unterscheiden:

  1. Bekannte Risiken: wenn Ursachen, Wahrscheinlichkeiten und Konsequenzen in diesen Fällen zum größten Teil bekannt sind, kann man das Risiko messen und sich absichern (z.B. durch Versicherungen).

  2. Unbekannte Risiken: obwohl die Folgen von bestimmten Ereignissen bekannt sind und verstanden werden, kann man die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens oft nicht abmessen und man kann sich nicht absichern. Diese Risiken erfordern Risikomanagement.

  3. Unsicherheit: Risiken, die noch nicht zum Vorschein gekommen sind, sodass die systematischen Verbindungen unbekannt sind.

Zu den Risiken und Unsicherheiten für die Ernährung zählen wirtschaftliche Risiken, umweltbezogene Risiken, geopolitische und lokale Konflikt-Risiken, soziale Risiken, technologische Risiken und Gesundheitsrisiken. Alle diese Risikovarianten, die teilweise nicht scharf voneinander abgegrenzt werden können, sind für die Ernährung relevant. In Schaubild 2 sind verschiedenen Risiken für die Ernährung bestimmte Problemlagen und Ursachen zugeordnet.

 
Schaubild 2: Risiken für die Stabilität der Ernährungssicherheit
 
ProblemlagenUrsachen der ProblemlagenAnzahl der BetroffenenRisiken für Stabilität der Ernährungssicherheit (wirken sich insgesamt verstärkend auf die Problemlagen aus)
UnterernährungDefizit an Kalorien und Proteinen; oft in Interaktion mit Infektionskrankheitenca. 0,8 Mrd.
  • wirtschaftliche Risiken


  • geo- und lokal-politische Konfliktrisiken


  • umweltbezogene Risiken


  • technologische Risiken


  • soziale Risiken


  • Gesundheitsrisiken

Mangel an MikronährstoffenUnzureichende Versorgung mit Vitaminen und Mineralstoffenca. 2 Mrd.
Untergewicht bei Geburt, Wachstums- und Gewichtsverfall in den ersten LebensjahrenMangelernährung von Müttern; mangelnde Pflege und Gesundheitsprobleme; verkürztes Stillenca. 120 Mill. Kinder
Übergewicht und resultierende chronische KrankheitenÜberhöhter Konsum von Kalorien (oft bei gleichzeitigem Mangel an Vitaminen und Mineralstoffen)ca. 1 Mrd.
Quelle: J. von Braun 2013


Diese Risikokomponenten kommen in ganz unterschiedlichen Zeiträumen zum Ausdruck, wobei gerade die kurzfristigeren Instabilitäten oft vernachlässigt werden.

  • Langfristige Agrar- und Ernährungssystemprobleme können die Grundlagen der Stabilität der Ernährung gefährden. Sie ergeben sich über Jahre aus strukturellen Faktoren wie Landknappheit, Verlust an Bodenfruchtbarkeit, langfristiger Wasserknappheit, Klimawandel, Technologie, mangelnden Investitionsanreizen oder langwierigen politischen Konflikten.

  • Mittelfristige Ernährungsprobleme resultieren in wenigen Monaten aus vermehrter Armut etwa wegen Beschäftigungsmangels, wegen des Wetters oder wegen handelspolitischer Reaktionen.

  • Kurzfristige Ernährungsschocks können bereits in wenigen Wochen aus mangelnder Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln resultieren, wie dem Zusammenbruch von Kaufkraft wegen Preis-Schocks, aber auch aus akuten kriegerischen Konflikten sowie Naturkatastrophen (Überschwemmungen) und Epidemien.

Einige bedeutende Quellen von Instabilität sollen im Folgenden näher beleuchtet werden.

Produktion, Produktivität und Innovation

Enorme Produktionssteigerungen auf globaler Ebene werden erforderlich sein, um die Nachfrage nach Nahrungsmitteln und landwirtschaftlichen Rohstoffen decken zu können, die sich Interner Link: bis 2050 fast verdoppeln wird. Flächenausdehnungen über die heute global vorhandenen und landwirtschaftlich genutzten rund 1,4 Mrd. ha Fläche hinaus sind kaum mehr möglich. Die Umwandlung von großen tropischen Waldgebieten in landwirtschaftliche Nutzflächen ist zudem mit erheblichen klimatischen und ökologischen Langzeitschäden verbunden. Momentan gehen weltweit sogar jährlich ca. 10 Mio. ha Ackerland durch Erosion und verminderte Bodenfruchtbarkeit verloren, und auch die rasch zunehmende Verstädterung verbraucht zusätzliche Landressourcen.

Höhere Erträge sind prinzipiell durch intensivere Produktion und technischen Fortschritt möglich. Gerade in Entwicklungsländern, in denen die Ernährungssituation am schwierigsten ist, sind die Erträge pro Fläche am geringsten. Längerfristig werden sich die Erträge nur dann nachhaltig steigern lassen, wenn neue Nutzpflanzen-Sorten und Technologien entwickelt werden, die an die Besonderheiten des Standorts (beispielsweise Dürre, Hitze, Bodenversalzung, Krankheits- und Schädlingsdruck) angepasst sind und knappe Ressourcen, insbesondere Wasser und Böden, Interner Link: besser nutzen. Mit Blick auf die Qualität der Ernährung und die Überwindung der Mangelernährung mit Mikronährstoffen wie Eisen und Vitamin A sind auch Grundnahrungspflanzen mit höheren Mikronährstoffgehalten von Bedeutung. Die Pflanzenzüchtung leistet dazu wichtige Beiträge.

Klimawandel und Ernährungslage

Eine große Herausforderung für die Stabilität der Agrarproduktion stellt der zunehmende Klimawandel dar. Modellsimulationen über seine Auswirkungen auf die globale Landwirtschaft prognostizieren erhebliche regionale Unterschiede. Während die Getreideproduktion in den Industrieländern durch Klimaveränderungen voraussichtlich sogar leicht zunehmen könnte, wird sie in den Entwicklungsländern deutlich abnehmen. Besonders negativ betroffen werden Südasien und Subsahara-Afrika sein. Es ist damit zu rechnen, dass der Getreidepreis in den kommenden 30 Jahren wegen der Klimaveränderungen erheblich steigt, selbst bei vermehrter Investition in Produktivitätssteigerung. Darüber hinaus wird die Produktion von Nahrungsmitteln voraussichtlich zumindest regional wegen häufigerer Extremwetterlagen unberechenbarer und instabiler werden.

Energie, Biotreibstoffe und Welternährung

Die steigenden und oft schwankenden Energiepreise wirken sich auf die Stabilität der Welternährungs-Gleichung aus, weil durch die steigenden Energiekosten die Produktionskosten insgesamt steigen. Zugleich verändern die Energiepreise die Nachfrageseite, denn ein hoher Energiepreis führt dazu, dass Biomasse verstärkt zur Energieerzeugung genutzt wird, wie dies zwischen 2006 und 2008 bereits der Fall war. Das bedeutet, dass weniger Pflanzen für Nahrung und Futtermittel verfügbar sind. Schon jetzt gibt es Berechnungen, die zeigen, dass die aktuelle Bioenergie-Produktion spürbar zur Erhöhung und zu Schwankungen der Weltmarktpreise beiträgt.

Märkte, Preise und Ernährung

Stark schwankende Preise sind eine wesentliche Ursache von Ernährungsunsicherheit. Sie entstehen letztlich als Anpassung auf Veränderungen auf der Angebots- und Nachfrageseite der Welternährungs-Gleichung. Es liegt in der Struktur der Nahrungsmittelmärkte, dass schon kleine Mengenänderungen bei Grundnahrungsmitteln große Preisänderungen bewirken. Finanzmarktspekulationen können die Agrarpreise zusätzlich in die Höhe treiben und instabiler machen. Die Armen haben das Nachsehen, denn sie geben oftmals über 70 Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus und können sich die höheren Preise kaum leisten. Versuche, die Nahrungsmittelpreise staatlich festzulegen, sind volkswirtschaftlich teuer, führen meist zur Bildung von Schwarzmärkten mit noch höheren Preisen und verhindern Produktionsanreize für die Bauern. In Interner Link: Krisen- und Kriegszeiten kann Lebensmittelbewirtschaftung, wie z.B. Rationierung, eingesetzt werden; außerhalb akuter Krisenzeiten erfordert Ernährungssicherung aber eine sachgerechte Markt- und Handelspolitik, nicht staatliche Preisreglementierung.

Folgerungen für Stabilisierung

Ohne vermehrte Produktions- und Produktivitätssteigerungen in der Landwirtschaft kann das Problem der Ernährungsunsicherheit nicht bewältigt werden. Sonst werden die Nahrungsmittel für die Armen zu teuer und die Versorgung zu instabil.

Wichtiges Element einer Stabilisierungspolitik, die Ernährung sichert, ist ein verbessertes Risiko-Management. Dem dienen Frühwarnsysteme mit Informationen über Klima- und Wetteränderungen, akute Produktionseinbußen und Markt- und Preisänderungen. Solche Informationssysteme sind in Folge der Knappheit und Preiskrise von 2008 in den vergangenen Jahren verbessert worden, z.B. mit dem Agricultural Market Information System (AMIS) bei der Interner Link: FAO.

Agrarhandel ist ein ganz wesentliches Mittel zur Stabilisierung von Verfügbarkeit und Preisen, aber der Import von Nahrungsmitteln ist bei hohen Weltmarktpreisen teuer.

Die Lagerung von Nahrungsmitteln ist eine weitere wesentliche Maßnahme, um Knappheit auszugleichen und die Preise zu stabilisieren. Die meisten Länder haben deshalb Getreidelager, weil sie sich nicht vollständig auf Importe verlassen wollen. Reservelager kosten aber viel Geld, denn es entstehen Lagerungsverluste, z.B. durch Schädlinge.

Oft scheint es Ländern und ihren Politikern naheliegend, möglichst viel selbst zu produzieren, um nicht von Handel und Lagerhaltung abhängig zu sein. Sie streben somit einen hohen Selbstversorgungsgrad an. Ein hohes Ausmaß an Selbstversorgung bei Grundnahrungsmitteln geht aber zu Lasten von möglichen Gewinnen aus anderen Agrar-Produkten wie z.B. Obst und Gemüse und verursacht somit auch Kosten und schränkt Entwicklungsmöglichkeiten und damit Ernährungssicherheit ebenfalls ein. Entwicklungsländer stehen stets vor der Frage, wie sie das Ausmaß nationaler Selbstversorgung, Lagerhaltung und die Nutzung von Handel so ausbalancieren können, dass die Ernährung der Bevölkerung unter Bedingungen von Risiko und Unsicherheit kurz-, mittel- und langfristig am besten erreicht wird. Dazu werden laufend auch Berechnungen angestellt.

Es wäre allerdings eine Illusion anzunehmen, dass die Stabilitätsprobleme nur mit Produktions- und Marktmaßnahmen zu bewältigen wären. Der Aufbau und die Finanzierung sozialer Sicherungsprogramme in Entwicklungsländern wie beispielsweise Einkommenshilfen für arme Haushalte und Krankenversicherungen müsse verstärkt unterstützt werden. Gezielte Ernährungsprogramme insbesondere für Kinder sind ebenfalls notwendig. Da die Stabilität der Ernährung durch ein Bündel von Faktoren auf der Angebots- und Nachfrageseite der Ernährungs-Gleichung permanent bedroht wird, müssen die Maßnahmen zur Stabilisierung differenziert sein. Internationale Programme können nationale und lokale Maßnahmen ergänzen.

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Joachim von Braun ist Direktor des Zentrums für Entwicklungsforschung und Professor für wirtschaftlichen und technologischen Wandel an der Universität Bonn. Er ist Agrarökonom und hat an der Universität Göttingen promoviert und habilitiert. Seine wissenschaftlichen Arbeiten konzentrieren sich auf Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung, Wirtschafts- und Agrarpolitik, Ernährung und Armut, Nachhaltigkeit, Innovation und Technologien. von Braun ist Vizepräsident der Welthungerhilfe. Von 2002 bis 2009 war er Generaldirektor des International Food Policy Research Institute (IFPRI) in Washington DC.