Formen von Hunger und Fehlernährung
Hunger beschreibt das subjektive Gefühl, das Menschen nach einer gewissen Zeit ohne Nahrung empfinden. Das Wort wird meist mit den Begriffen Nahrungsmangel oder chronisches Kaloriendefizit gleichgesetzt.
Fehlernährung bezeichnet entweder eine im Vergleich zum Bedarf zu hohe oder zu niedrige Aufnahme von Nahrungsenergie (Kalorien), die dann zu Über- oder Unterernährung führt.
Unterernährung ist das Ergebnis von unzureichender Nahrungsaufnahme oder mangelhaften Gesundheits- und Hygienebedingungen, durch die der Körper die aufgenommene Nahrung nicht angemessen verwerten kann. Unterernährung kann ein akuter oder chronischer Zustand sein. Darüber und über das chronische Problem von Überernährung geben verschiedene Körpermerkmale Auskunft (Anthropometrie). Da vor allem Neugeborene und Kleinkinder (bis zu fünf Jahren) besonders schnell auf unzureichende Nahrungsversorgung reagieren, wird ihr Zustand als Indikator für den Ernährungszustand der Gesamtbevölkerung verwendet.
Reicht die bereitgestellte Nahrung nicht aus, um den Bedarf an bestimmten Vitaminen (zum Beispiel Vitamin A) und Mineralstoffen (etwa Jod oder Eisen) zu decken, weil das Angebot zu einseitig ist oder ein erhöhter Bedarf vorliegt, spricht man von Mikronährstoffdefiziten oder auch von "verstecktem Hunger".
Überernährung und Übergewicht (Adipositas) treten dann auf, wenn die Aufnahme von Nahrungsenergie kontinuierlich den Bedarf überschreitet.
In vielen Ländern der Welt treten Hunger und Überernährung gleichzeitig auf (siehe Abbildung 1). Dieses Phänomen wird auch als die "doppelte Last von Fehlernährung" bezeichnet.
Folgen von Hunger und Fehlernährung
Hunger und Fehlernährung haben weitreichende Folgen für einzelne Menschen und ihre Familien, aber auch für ganze Gesellschaften.
Auswirkungen auf die Gesundheit
In schweren Fällen führen Hunger und Unterernährung – insbesondere im Zusammenwirken mit Infektionskrankheiten, für die Unterernährte besonders anfällig sind – zum Tod. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass circa ein Drittel der jährlich elf Millionen Todesfälle von Kleinkindern direkt oder indirekt auf Hunger und Unterernährung zurückzuführen sind. Auch die weniger schweren Formen von Unterernährung sind mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen sowie erhöhter Anfälligkeit für Krankheiten verbunden. Insbesondere in den ersten 1000 Lebenstagen eines Kindes sind Unterernährung oder "versteckter Hunger" gefährlich: Das Baby kann bei der Geburt zu leicht sein (weniger als 2.500 Gramm) oder es kann hinterher nicht richtig wachsen. Erbliche Eigenschaften spielen dafür in diesem Alter im Vergleich zur Ernährung keine Rolle. Die Folgen von Hunger und Unterernährung prägen das Leben des Kindes jahrelang: Sie führen zu eingeschränkten Entwicklungsmöglichkeiten, verringerten Lernleistungen in der Schule und geringeren Arbeitsleistungen von (jungen) Erwachsenen.
Auf der anderen Seite ist auch Überernährung gefährlich: Sie ist Ursache chronischer Krankheiten, wie beispielsweise Diabetes (Zuckerkrankheit) oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die wiederum zu einer erhöhten Sterblichkeit führen.
Wirtschaftliche Folgen
Hunger und Fehlernährung haben nicht nur gesundheitliche, sondern auch wirtschaftliche Folgen. Familien müssen an längerfristigen Existenzgrundlagen wie Bildung und Gesundheit sparen, um kurzfristig ihre Ernährung sicherzustellen. Oft sind sie in Krisen gezwungen, Teile ihres ohnehin nicht großen Besitzes zu verkaufen, zum Beispiel Haushaltsgegenstände oder Vieh, um Nahrungsmittel bezahlen zu können. So rutschen Menschen noch weiter in Armut ab.
Volkswirtschaftlich gesehen sind die Kosten von Hunger und Unterernährung, aber auch von Überernährung hoch, insbesondere in der (Land-) Wirtschaft, im Gesundheitswesen und im Bildungssektor. In den Industrie- und vielen Schwellenländern sind die Ausgaben für Krankheiten, die mit Über- und Fehlernährung zusammenhängen, sehr hoch und steigen stark. Insgesamt verliert eine Gesellschaft, in der viele Menschen kurz- oder gar langfristig körperlich und geistig nicht voll leistungsfähig sind, einen bedeutenden Teil ihrer Wirtschaftskraft.
Soziale und politische Auswirkungen
Schon immer waren Hunger und Nahrungsmittelpreise zentrale Ursachen für soziale Spannungen und politische oder
Die Ernährungsunsicherheit ist auch eine Gefahr für das internationale Zusammenleben. Risiken für die Versorgung der Menschen mit Nahrung sind unter anderem Einschränkungen beim Nahrungsmittelexport (weil dadurch Nahrung teurer wird), große Unterschiede in den Lebensbedingungen, Wanderungsbewegungen (Umwelt- und Armutsflüchtige) sowie Konflikte um Land und Wasser. Es wird erwartet, dass sich diese Konflikte durch den Klimawandel weiter verschärfen.
Investitionen in bessere Ernährung – Notwendigkeit und gut angelegtes Geld
Hunger, Fehlernährung und Nahrungskrisen sind die Ursache für ganz unterschiedliche Probleme. Um individuelle, wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Schäden und Kosten zu vermeiden, muss dringend gehandelt werden.
Ernährung ist Grundbedürfnis und Menschenrecht
Eine angemessene Ernährung ist ein Grundbedürfnis aller Menschen. Nur wenn wir unseren Bedarf an ausreichender und ausgewogener Nahrung zu jedem Zeitpunkt decken können, sind die Voraussetzungen für ein gesundes, zufriedenes und menschenwürdiges Leben erfüllt.
Globales Weltentwicklungsziel
In den im Jahr 2000 von der Weltgemeinschaft formulierten Millenniumsentwicklungszielen (Millennium Development Goals, MDG) steht an erster Stelle, dass der Anteil der Hungernden und der unterernährten Kleinkinder bis zum Jahr 2015 gegenüber dem Jahr 1990 halbiert werden soll. Dabei ist allerdings zu beachten: Weil in dieser Zeit die Bevölkerung deutlich gewachsen ist, bedeutet dies nicht, dass die Anzahl der Hungernden im Vergleich zu 1990 halbiert wird. Kurz vor Ablauf dieser Zeit wird deutlich, dass die bisherigen Fortschritte bei weitem nicht ausreichen, um die Ziele zu erreichen. Aufgrund der engen Zusammenhänge zwischen Ernährung und anderen Lebensbereichen bedeutet das, dass dadurch auch andere Ziele gefährdet sind – beispielsweise Bildungschancen für Kinder, Geschlechtergerechtigkeit, Kindersterblichkeit, die Gesundheit von Müttern, die Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten wie HIV/Aids und Tuberkulose sowie die ökologische Nachhaltigkeit des Umgangs mit natürlichen Ressourcen (siehe Box).
Einfluss von Millennium Development Goals (MDG) auf andere Millenniumsentwicklungsziele
MDG1: Beseitigung der extremen Armut und des Hungers
Nahrungsunsicherheit und Unterernährung beeinträchtigen die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit, reduzieren die Widerstandskraft gegenüber Katastrophen und Krisen und senken die Produktivität.
MDG 2: Verwirklichung der allgemeinen Grundbildung
Unterrernährung hemmt die geistige Leistungsfähigkeit und damit die Lernleistung. Die Wahrscheinlichkeit, dass unterernährte Kinder die Schule besuchen, ist geringer als bei gut ernährten Kindern. Sie werden häufig später eingeschult.
MDG 3: Förderung der Gleichstellung der Geschlechter und Ermächtigung der Frauen
Die Wahrscheinlichkeit, dass unterernährte Mädchen in der Schule bleiben und dadurch bessere Zukunftschancen haben, ist geringer als bei gut versorgten.
MDG 4: Senkung der Kindersterblichkeit
Unterernährung ist direkt oder indirekt für mehr als die Hälfte der Kindersterblichkeit verantwortlich. Sie ist die hauptsächliche Krankheitsursache in Entwicklungsländern.
MDG 5: Verbesserung der Gesundheit von Müttern
Dass Frauen vielfach benachteiligt sind, auch was ihre Ernährung angeht, trifft besonders Mütter. Hunger und Unterernährung hängen eng mit den meisten Risikofaktoren für Müttersterblichkeit zusammen.
MDG 6: Bekämpfung von HIV/AIDS, Malaria und anderen Krankheiten
Nahrungsunsicherheit fördert Anpassungsmechanismen, zum Beispiel Arbeitsmigration und/oder Prostitution, die die Verbreitung von HIV/AIDS erhöhen. Unterernährung beschleunigt bei Infizierten den Ausbruch von AIDS. Sie schwächt außerdem die Widerstandskraft gegen Infektionen und reduziert die Überlebenschancen von MalariaKranken.
MDG 7: Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit
Ernährungsunsicherheit führt zu instabiler, nicht nachhaltiger Nutzung natürlicher Ressourcen.
Quelle: Weingärtner, L. und Trentmann, C. (2011), S. 45
Investitionen in Ernährung sind gut angelegtes Geld
Investitionen in eine bessere Ernährung sind Investitionen in die Kapazitäten der Menschen, denn so unterstützt man Männer, Frauen, Mädchen und Jungen bei der Entfaltung ihrer Wachstums- und Entwicklungspotenziale. Gute Ernährung spart zudem Milliarden an Kosten, die sonst für Behandlungen der Folgen des Hungers ausgegeben werden müssten. Nach Schätzungen der Weltbank gehören Investitionen in Ernährungsprogramme zu den wirtschaftlichsten Maßnahmen im Gesundheitsbereich. Auch aus ökonomischen Gründen ist es also vernünftig, sich für eine verbesserte Ernährung zu engagieren.
Frieden und Sicherheit
Zudem ist die Bekämpfung des Hungers auch aus friedens- und sicherheitspolitischer Perspektive sinnvoll. Durch Unruhen, Umstürze, Kriege sowie Piraterie, Migration, Terrorismus oder Handelseinbrüche erreichen die Folgen des Hungers letztlich auch die reichen Länder. Skeptische Menschen in den reichen Ländern akzeptieren Hilfen zur Ernährungssicherung eher mit der Begründung, damit werde der Frieden gesichert als mit der Argumentation der Entwicklungshilfe.
Ernährung sollte politisch Priorität haben
Deshalb sollten die Verbesserung und die Sicherung der Welternährung in den nächsten Jahren und Jahrzehnten auf der Prioritätenliste der politischen Entscheidungsträger ganz weit oben stehen. Dabei geht es nicht um das Verteilen von Almosen an Bedürftige, sondern darum, Menschen dazu zu befähigen, ihre Lebensbedingungen aktiv gestalten und zum Allgemeinwohl beitragen zu können. So kann wirtschaftliche, soziale und politische Stabilität erreicht werden. Um Überernährung zu bekämpfen und gleichzeitig die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung zu sichern, sind ein nachhaltiges Produktions- und Konsumverhalten notwendig. Welche Instrumente im Einzelnen dabei zur Verfügung stehen, ist Inhalt der weiterführenden Kapitel dieses Dossiers.