Jean Ziegler, ehemals UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, spricht im aktuellen
Interview Robert Domes
Herr Ziegler, in Ihrem Buch „Wir lassen sie verhungern – Die Massenvernichtung in der Dritten Welt“ geben Sie eine deprimierende Zusammenfassung von Hunger, Tod und Elend auf dieser Welt. Sind Sie selbst deprimiert und frustriert?
Ziegler: Nein. Das Buch ist eine Abrechnung. Ich war von 2000 bis 2008 der erste UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Das Buch ist die Bilanz meiner Erlebnisse. Es hat drei Dimensionen. Erstens kann ich endlich sagen, wer die Halunken sind in den Konzernetagen und in den Präsidentenpalästen, die ich besuchen musste. Auch wo ich verraten habe. Ich habe unglaubliche Hoffnung geweckt, zum Beispiel in Guatemala unter den halb verhungerten Maya-Bauern. Die haben geglaubt, jetzt kommt die Agrarreform, weil ich das versprochen habe. Dann wurde meine Empfehlung sabotiert vom amerikanischen Botschafter in der UNO-Generalversammlung. Und drittens ist es trotz des Titels „Wir lassen sie verhungern“ ein Buch der Hoffnung.
Können Sie kurz die Fakten zusammenfassen?
Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. 57000 Menschen sterben pro Tag an Hunger. Eine Milliarde Menschen sind permanent schwerst unterernährt. Und das auf einem Planeten, der vor Reichtum überquillt. Der World Food Report der UNO sagt, dass die Weltlandwirtschaft heute problemlos fast 12 Milliarden Menschen, also fast das Doppelte der Weltbevölkerung, ernähren könnte.
Und doch heißt es, die nächste große Ernährungskrise stehe vor der Tür.
Sie ist schon da. Es gibt den strukturellen Hunger. Das ist das tägliche Massaker. Dieser Hunger ist implizit in der Unterentwicklung der Länder des Südens. Der unsichtbare Hunger, der jeden Tag Menschen vernichtet aufgrund der ökonomischen Unterentwicklung. Der Hunger, die Unterernährung und die unmittelbaren Folgen sind bei Weitem die wichtigste Todesursache auf diesem Planeten. Dann gibt es den konjunkturellen Hunger. Das ist der sichtbare Hunger. Der passiert, wenn eine Wirtschaft plötzlich implodiert durch Krieg wie in Darfur oder durch Klimakatastrophen wie jetzt am Horn von Afrika oder im Sahel-Gebiet. Das sind die sogenannten Hungersnöte. Dies erscheint dann kurz im Fernsehen. Kinder in Darfur, die sich nicht mehr auf den Beinen halten können, oder die hungernden Mütter mit halbverdorrten Kindern auf den Armen im Niger oder in Mali. Dieser konjunkturelle Hunger kommt zusätzlich zum täglichen Massaker.
Es ist also nicht so, dass es alle zwei, drei Jahre eine Krise gibt?
Es gibt eine permanente Hungerkatastrophe. Dazu kommen noch die Hungersnöte, und diese in immer schnellerem Rhythmus. Dabei gibt es zu Beginn dieses Jahrtausends keinen objektiven Mangel mehr. Wer jetzt am Hunger stirbt, wird ermordet.
Was sind die Ursachen?
Die Mechanismen, die für dieses tägliche Massaker verantwortlich sind, sind vielfach: Die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel, die EU-Dumpingpolitik in Afrika, der Landraub, dann die Überschuldung der meisten Entwicklungsländer, die Investitionen in ihre eigene Landwirtschaft verhindern. Und letztlich der Agrartreibstoff.
Das heißt, unsere Entscheidung an der Tankstelle wirkt sich auf die Welternährung aus?
Natürlich. Unter dem Vorwand des Klimaschutzes haben zum Beispiel die USA letztes Jahr 138 Millionen Tonnen Mais und hunderte Millionen Tonnen Getreide verbrannt, um Bioethanol und Biodiesel herzustellen. Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dazu kommt: Die Produktionsmethode von Bioethanol ist total umweltschädigend. Die Herstellung eines Liters Bioethanol erfordert 4000 Liter Wasser und setzt Unmengen CO2 frei.
Was hat die Finanzkrise mit dem Hunger zu tun?
2008, 2009 hat der Banken-Banditismus riesige Vermögenswerte an den Finanzmärkten vernichtet. Dann sind die Hedgefonds und Großbanken umgestiegen auf die Rohstoffbörsen. Sie machen dort ganz legal astronomische Profite mit Mais, Getreide, Reis. Mit Wetten auf den Preisanstieg. Die Finanzkrise hat zu massiver Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel geführt, damit zur Preisexplosion, die weitere Millionen Menschen zu Opfern von Hunger macht. Die zweite unmittelbare Folge der Finanzkrise ist: Die Staaten des Westens haben Milliarden Euros und Dollars einsetzen müssen, um ihre Banken zu retten. Die europäischen und amerikanischen Beiträge an das World Food Programme, das für die humanitäre Soforthilfe zuständig ist, wurden gekürzt oder gestrichen. Das Budget des World Food Programme lag früher bei 6 Milliarden Dollar, heute sind es noch 2,8 Milliarden.
Mit welchen Folgen?
Das bedeutet, in den Hungerflüchtlingslagern in Daaba oder Nyala weisen die UNO-Beamten jeden Morgen hunderte Familien ab. Weil nicht mehr genug Vitamin-Biskuits, Milch für die Kinder oder intravenöse Sondernahrung vorhanden sind. Das alles, weil die Regierungen in Berlin, London, Paris und Washington die Beiträge gekürzt oder gestrichen haben.
Den Politikern müsste das doch klar sein.
Autonome Politiker gibt es selten. Die Konzerne diktieren ihr Gesetz auch den demokratischen Staaten des Westens. Sie funktionieren nach Profitmaximierung. Es herrscht eine kannibalische Weltordnung. Zehn weltumspannende Konzerne kontrollieren 85 Prozent der weltweit gehandelten Grundnahrungsmittel. Diese Konzerne entscheiden, wer isst und lebt oder wer hungert und stirbt. Die Frage von Leben und Tod ist die nach dem Zugang zur Nahrung und nicht nach der Produktion der Nahrung.
Ihre Beschreibung klingt nach David und Goliath. Kann man als Individuum überhaupt etwas ändern?
Die mörderischen Mechanismen, die für die Massenvernichtung in der Dritten Welt verantwortlich sind, sind menschengemacht und können von Menschen gebrochen werden. Die Bundesrepublik ist eine lebendige großartige Demokratie. Das heißt, wir haben alle Waffen in der Hand. Wir können morgen den Bundestag zwingen, das Börsengesetz zu revidieren und die Spekulation auf Grundnahrungsmittel zu verbieten.
Von welchen Waffen sprechen Sie?
Herr Schäuble ist ja nicht vom Himmel gefallen. Er ist Bundesfinanzminister durch Delegation des Volkes. Wir können ihn zwingen, bei der nächsten Generalversammlung des Weltwährungsfonds im Dezember in New York nicht mehr für die Gläubigerbanken in Frankfurt zu stimmen, sondern für die sterbenden Kinder. Das heißt, für die Totalentschuldung der 50 ärmsten Länder der Welt. Wir können auch erreichen, dass der deutsche Landwirtschaftsminister in Brüssel für die Abschaffung des Agrardumpings eintritt.
Viele Bauern könnten ohne Subventionen nicht leben. Warum sie also abschaffen?
Nicht die Produktionssubventionen, sondern die Exportsubventionen müssen abgeschafft werden. Auf jedem afrikanischen Markt können Sie heute deutsches, französisches, griechisches Gemüse, Früchte, Geflügel zu einem Drittel oder zur Hälfte des Preises des entsprechenden afrikanischen Inlandsprodukts kaufen. Und ein paar Kilometer weiter steht der afrikanische Bauer mit Frau und Kindern zehn Stunden unter brennender Sonne, rackert sich ab und hat nicht die geringste Möglichkeit, auf ein Existenzminimum zu kommen. Das alles kann gestoppt werden.
Sie meinen eine demokratische Revolution?
Das Vordringlichste ist, die „Waffen“ des Grundgesetzes zu gebrauchen, um die Regierung zu zwingen, radikale Strukturreformen zu vollbringen. Wenn die Politiker das nicht tun, muss man eben andere wählen. Es braucht neue soziale Bewegungen. Es braucht den Aufstand des Gewissens.
Das klingt utopisch. Woher nehmen sie ihre Hoffnung?
Che Guevara hat gesagt: „Auch die stärksten Mauern fallen durch Risse.“ Und man sieht heute diese Risse überall. Ich setze große Hoffnung in die neue planetare Zivilgesellschaft. Attac, Greenpeace, die Frauenbewegung, Via Campesina, die Bauernaufstände in den Ländern des Südens. Das neue historische Subjekt ist die weltweite Zivilgesellschaft.
Politik ist das eine. Kann man auch als Verbraucher etwas tun?
Sehr viel sogar. Erstens keine gentechnisch veränderte Nahrung kaufen, weil das die Finanzsklaverei für die Bauern bedeutet. Die müssen dann für die Aussaat nächstes Jahr Lizenzgebühren bezahlen. Dann in Weltläden einkaufen, dank derer der Produzent einen gerechten Preis erhält. Dann Vegetarier sein, wenn möglich. Die Weltgetreideernte beträgt in normalen Zeiten zwei Milliarden Tonnen. Davon gehen 500 Millionen Tonnen weg für die Intensivernährung von Schlachtvieh. Wer wenig oder kein Fleisch isst, setzt Nahrung frei für Menschen. Viertens nur saisonale Nahrung kaufen. Trauben aus Chile im Dezember in Berlin oder Stuttgart zu kaufen, ist ein totaler Blödsinn. Man soll nur das kaufen, was in der eigenen Region produziert wird, und nur dann, wenn es produziert wird.
Also auf den heimischen Biomarkt gehen?
Das ist gut. Damit tun Sie etwas gegen die kannibalische Weltordnung.
Sarah Wiener sagt, Kochen ist eine politische Tat. Stimmen Sie dem zu?
Natürlich, sie hat vollkommen recht. Es gibt einen Satz des französischen Schriftstellers Georges Bernanos. Er sagt: „Gott hat keine anderen Hände als die unseren.“ Entweder wir ändern diese Welt, oder es tut niemand.
Können sie noch unbeschwert ins Restaurant gehen mit all diesem Wissen?
Wenn man kein glücklicher Mensch ist, kann man nichts verändern. Die totale Absurdität, dass Millionen Menschen verhungern auf einem Planeten, der vor Reichtum überquillt, die Weltdiktatur der unglaublich mächtigen Finanzoligarchien – darüber kann man nur zornig werden. Aber man muss auch glücklich sein, damit man klar denken und wirksam kämpfen kann.