Die Gestaltungskompetenzen auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik liegen überwiegend in den Händen der Nationalstaaten. Allerdings haben in den letzten Jahrzehnten auch internationale Einflussfaktoren für die nationalstaatliche Gesundheitspolitik an Bedeutung gewonnen. Für Deutschland ist dabei insbesondere die Europäische Union (EU) bedeutsam (Földes, 2016). Gesundheitspolitik in der EU und ihren Mitgliedstaaten findet heute in einem Mehrebenensystem statt: Entscheidungen auf diesem Politikfeld fallen sowohl auf nationalstaatlicher (und in zahlreichen Staaten, darunter auch Deutschland, auch auf regionaler Ebene) als auch auf supranationaler Ebene, also durch die EU. Dabei sind diese verschiedenen Handlungsebenen auf vielfältige Weise miteinander verflochten. Zugleich weisen die Gesundheitssysteme der EU-Mitgliedstaaten zum Teil sehr große Unterschiede auf. Sie betreffen die Versorgungs-, die Regulierungs- und die Finanzierungsstrukturen (Schölkopf und Grimmeisen, 2021).
Rechtsgrundlagen der Europäischen Union
Die Rechtsgrundlagen der EU sind im Vertrag über die Europäische Union (EUV) und im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) festgeschrieben. Der EUV enthält die allgemeinen Ziele und Grundsätze des europäischen Integrationsprozesses. Demzufolge gelten für die Zuständigkeit der EU (Art. 5 Abs. 1 EUV)
der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung,
das Subsidiaritätsprinzip,
der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung „wird die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben. Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten“ (Art. 5 Abs. 2 EUV). Dem Subsidiaritätsprinzip zufolge „wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind“ (Art. 5 Abs. 3 EUV). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besagt, dass „die Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinaus[gehen]“ (Art. 5 Abs. 4 EUV).
Der AEUV enthält nähere Bestimmungen zu einzelnen Handlungsfeldern, darunter auch die Gestaltung der Gesundheitssysteme in der EU. Hier ist besonders Artikel 168 AEUV von Bedeutung (s. u.). Die EU-Rechtsetzung in der Gesundheitspolitik erfolgt durch den zuständigen Ministerrat der EU und das Europäische Parlament. Dabei bedürfen Entscheidungen des Ministerrats einer qualifizierten Mehrheit. Für sie gilt das Prinzip der doppelten Mehrheit: Ein Beschlussvorschlag bedarf einer Zustimmung von mindestens 55 Prozent der Mitgliedstaaten (15 von 27), die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren.
Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Nationalstaaten
Seit den 1980er-Jahren ist die europäische Integration durch eine fortschreitende Vertiefung gekennzeichnet, also durch eine zunehmende Politikverflechtung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten und durch eine Übertragung von Gestaltungskompetenzen auf die EU-Ebene. Im Zuge dieser Entwicklung haben die Mitgliedstaaten auch eine Reihe gesundheitspolitischer Entscheidungskompetenzen auf die EU-Ebene übertragen.
Grundsätzlich weist der AEUV der EU die Aufgabe zu, „[b]ei der Festlegung und Durchführung aller Unionspolitiken und -maßnahmen […] ein hohes Gesundheitsschutzniveau“ sicherzustellen (Art. 168 Abs. 1 AEUV). Darüber hinaus gibt der AEUV der EU auf, dass sie ihre Tätigkeit „auf die Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung, die Verhütung von Humankrankheiten und die Beseitigung von Ursachen für die Gefährdung der körperlichen und geistigen Gesundheit“ zu richten habe (Art. 168 Abs. 1 AEUV).
Prävention
Über direkte gesundheitsbezogene Rechtsetzungsbefugnisse zur Gestaltung der Gesundheitssysteme verfügt die EU auf einigen für die Krankheitsprävention bedeutsamen Feldern. Unter ihnen sind der Gesundheitsschutz in der Arbeitsumwelt (Art. 153 Abs. 1 und 2 AEUV) sowie der gesundheitsbezogene Verbraucher- und Umweltschutz (Art. 169 sowie Art. 191 und 192 AEUV) von besonderer Bedeutung.
Hier setzt die EU durch Richtlinien Mindeststandards fest, die für die Mitgliedstaaten bindend sind. Zwar können diese über die Instrumente der Umsetzung selbst entscheiden und verfügen insofern über einen gewissen Spielraum. Wenn die Richtlinie aber konkrete Vorgaben enthält, müssen sich diese auch im nationalstaatlichen Recht wiederfinden. Die Mitgliedstaaten können für ihr jeweiliges Territorium auch über die Vorgaben der EU-Richtlinien hinausgehen. Sie dürfen aber ihre höheren Standards nicht zum Anlass nehmen, die Verbreitung von Produkten, die in anderen Ländern her- oder bereitgestellt wurden, zu behindern, wenn dort zwar nicht die eigenen, sehr wohl aber die EU-Standards erfüllt werden.
Auf dem Gebiet der Präventionspolitik haben vor allem die zahlreichen Arbeitsschutzrichtlinien der EU erheblichen Einfluss auf den Gesundheitsschutz in den Mitgliedstaaten genommen. Das Grundlagenwerk des europäischen Arbeitsschutzes, die EU-Arbeitsschutzrahmenrichtlinie, sieht ein modernes Schutzverständnis vor, das deutlich über den in vielen Mitgliedstaaten zuvor dominierenden technischen Arbeitsschutz hinausgeht. Wichtige Bestandteile sind ein umfassendes, psychosoziale Gesundheitsrisiken einschließendes Schutzverständnis; verpflichtende Gefährdungsbeurteilungen sowie kontinuierliche Anpassung von Schutzmaßnahmen an neue Erkenntnisse und Risiken (Gerlinger, 2000). Die EU-Rahmenrichtlinie war in Deutschland Anlass für die Verabschiedung des Arbeitsschutzgesetzes im Jahr 1996. Dieses Gesetz stellt einen bedeutenden Fortschritt für das deutsche Arbeitsschutzrecht dar und hat entscheidende Impulse durch das EU-Regelwerk erhalten (Gerlinger, 2000). Auch auf anderen Feldern der Präventionspolitik (z. B. bei der Luftreinhaltung oder der Tabakkontrolle) haben EU-Richtlinien zu einer Verbesserung des Gesundheitsschutzes in Deutschland beigetragen.
Neben diesen konkreten Handlungsfeldern ist die EU zuständig auch für allgemeine, die öffentliche Gesundheit insgesamt betreffende Aspekte der Gesundheitssystemgestaltung. So nennt Artikel 168 AEUV, der die Zuständigkeiten in der Gesundheitssystemgestaltung regelt, auch noch andere für die öffentliche Gesundheit relevante Handlungsfelder. Dazu zählen
„die Bekämpfung der weit verbreiteten schweren Krankheiten“,
„die Erforschung der Ursachen, der Übertragung und der Verhütung dieser Krankheiten sowie Gesundheitsinformation und -erziehung“ und
„die Beobachtung, frühzeitige Meldung und Bekämpfung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren“ (Art. 168 Abs. 1 AEUV).
Allerdings sind die Handlungskompetenzen der EU auf den genannten Feldern durch die eingangs genannten Prinzipien beschränkt. Insbesondere das Subsidiaritätsprinzip ist hier von Bedeutung. Die EU darf also auch dort, wo sie über Rechtsetzungskompetenzen verfügt, nur insoweit tätig werden, als die betreffenden Probleme auf europäischer Ebene besser gelöst werden können als in den Nationalstaaten. Außerdem wird die Rolle der EU bei den in Art. 168 AEUV genannten Aufgaben darauf beschränkt,
die Politik der Mitgliedstaaten zu ergänzen (Art. 168 Abs. 1 AEUV) sowie
ihre Zusammenarbeit zu fördern und
die Tätigkeit der Mitgliedstaaten, falls erforderlich, zu unterstützen (Art. 168 Abs. 2 AEUV).
Dabei hat die ergänzende, koordinierende oder unterstützende Tätigkeit der EU „unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten“ (Art. 168 Abs. 5 AEUV) zu erfolgen. Dennoch verfügt die EU auf diesen Feldern über explizite Handlungsbefugnisse.
Krankenversorgung
Im Unterschied zu diesen Handlungsfeldern ist die direkte Gestaltungsmacht der EU im Hinblick auf die Organisation und Finanzierung der Krankenversorgung recht gering. Diese sind Teil der sozialen Sicherungssysteme, deren Gestaltung der nationalstaatlichen Souveränität unterliegt: Der AEUV sieht ausdrücklich vor, dass „bei der Tätigkeit der Union […] die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Festlegung ihrer Gesundheitspolitik sowie für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung gewahrt [wird]. Die Verantwortung der Mitgliedstaaten umfasst die Verwaltung des Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung sowie die Zuweisung der dafür bereitgestellten Mittel“ (Art. 168 Abs. 7 AEUV). Die Mitgliedstaaten legen also z. B. den Umfang der öffentlich finanzierten Leistungen, die Art der Mittelaufbringung oder die Arbeitsteilung zwischen hausärztlicher und fachärztlicher Versorgung fest.
Diese Begrenzung der EU-Kompetenzen erstreckt sich im Übrigen auch auf den Bereich der Prävention. Wie also die Kompetenzen zwischen Bund und Ländern auf diesem Feld verteilt sind und ob die öffentliche Gesundheit durch z. B. Gesundheitsämter oder andere Institutionen sichergestellt wird, ist Sache der Mitgliedstaaten.
Die Kompetenz zur Gestaltung des Gesundheitssystems verbleibt im Grundsatz also bei den Mitgliedstaaten. Dies betrifft die Organisation der Prävention (einschließlich ihrer institutionellen Gestaltung), die Organisation des Krankenversorgungssystems einschließlich der institutionellen Gliederung und der Arbeitsteilung zwischen den Berufsgruppen, die Verteilung von Kompetenzen bei der Steuerung der Gesundheitssysteme sowie Art und Umfang der Leistungen und Leistungsfinanzierung bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit.
Europäischer Einfluss auf die Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten
Allerdings erlangte die EU in den vergangenen drei Jahrzehnten auch ohne formelle, direkte Zuständigkeit Einfluss auf die Gesundheitspolitik der Mitgliedstaaten (Földes, 2016). Der wohl wichtigste Grund dafür ist die Verflechtung von Politikfeldern: Die Organisation, Erbringung und Finanzierung von Gesundheitsleistungen ist kein isolierter Handlungsbereich, sondern mit anderen Bereichen verwoben. So sieht das EU-Recht den freien Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital im Binnenmarkt vor. Außerdem beinhaltet es Regeln für den Wettbewerb in der EU, indem es z. B. Unternehmen den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung oder Staaten wettbewerbswidrige Beihilfen für bestimmte Unternehmen verbietet. Dies wirft die Frage auf, ob und in welcher Weise diese Grundsätze auch auf die Gesundheitssysteme in der EU und die Gesundheitspolitik der Mitgliedstaaten anzuwenden sind. Diese Verflechtungen erzeugen auf verschiedenen Feldern Klärungsbedarf (Gerlinger & Rosenbrock, 2024). Dies lässt sich an folgenden Beispielen verdeutlichen:
Dürfen Patientinnen und Patienten zu Lasten des Kostenträgers ihres Herkunftslandes auch im EU-Ausland medizinische Leistungen in Anspruch nehmen?
Welche Anforderungen an die Qualifikation von Angehörigen der Gesundheitsberufe (z. B. Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte) dürfen die Mitgliedstaaten stellen, wenn Personen aus dem EU-Ausland ihren Beruf dort ausüben möchten?
Dürfen die Mitgliedstaaten die Defizite öffentlicher Krankenhäuser übernehmen, um die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen, oder ist dies eine wettbewerbswidrige Benachteiligung privater Krankenhausträger?
Rechtsstreitigkeiten über die Anwendung des europäischen Wettbewerbs- und Marktrechts auf die Gestaltung der Gesundheitssysteme werden häufig vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) entschieden. Da dessen Urteile unmittelbar verbindlich sind, erlangt der EuGH für die Gesundheitspolitik in den Mitgliedstaaten eine erhebliche Bedeutung. Im Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte lässt sich feststellen, dass die EU vor allem über die Verflechtung des europäischen Marktrechts mit der Gesundheitswirtschaft ihren Einfluss auf die Gestaltung der Gesundheitssysteme in den Mitgliedstaaten erweitern konnte. Dieser Mechanismus wird auch als „spill-over“ bezeichnet: Die Regelungen auf einem bestimmten Handlungsfeld „springen“ auf ein anderes Handlungsfeld „über“. Die folgende Abbildung verdeutlicht den Mechanismus der Einflussnahme.