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Europäische Union und deutsche Gesundheitspolitik

Thomas Gerlinger

/ 12 Minuten zu lesen

Pressekonferenz der EU-Kommissarin für Gesundheit und Ernährungssicherheit im Mai 2024 (© picture-alliance)

Die Gestaltungskompetenzen auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik liegen überwiegend in den Händen der Nationalstaaten. Allerdings haben in den letzten Jahrzehnten auch internationale Einflussfaktoren für die nationalstaatliche Gesundheitspolitik an Bedeutung gewonnen. Für Deutschland ist dabei insbesondere die Europäische Union (EU) bedeutsam (Földes, 2016). Gesundheitspolitik in der EU und ihren Mitgliedstaaten findet heute in einem Mehrebenensystem statt: Entscheidungen auf diesem Politikfeld fallen sowohl auf nationalstaatlicher (und in zahlreichen Staaten, darunter auch Deutschland, auch auf regionaler Ebene) als auch auf supranationaler Ebene, also durch die EU. Dabei sind diese verschiedenen Handlungsebenen auf vielfältige Weise miteinander verflochten. Zugleich weisen die Gesundheitssysteme der EU-Mitgliedstaaten zum Teil sehr große Unterschiede auf. Sie betreffen die Versorgungs-, die Regulierungs- und die Finanzierungsstrukturen (Schölkopf und Grimmeisen, 2021).

Rechtsgrundlagen der Europäischen Union

Die Rechtsgrundlagen der EU sind im Vertrag über die Europäische Union (EUV) und im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) festgeschrieben. Der EUV enthält die allgemeinen Ziele und Grundsätze des europäischen Integrationsprozesses. Demzufolge gelten für die Zuständigkeit der EU (Art. 5 Abs. 1 EUV)

  • der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung,

  • das Subsidiaritätsprinzip,

  • der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung „wird die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben. Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten“ (Art. 5 Abs. 2 EUV). Dem Subsidiaritätsprinzip zufolge „wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind“ (Art. 5 Abs. 3 EUV). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besagt, dass „die Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinaus[gehen]“ (Art. 5 Abs. 4 EUV).

Der AEUV enthält nähere Bestimmungen zu einzelnen Handlungsfeldern, darunter auch die Gestaltung der Gesundheitssysteme in der EU. Hier ist besonders Artikel 168 AEUV von Bedeutung (s. u.). Die EU-Rechtsetzung in der Gesundheitspolitik erfolgt durch den zuständigen Ministerrat der EU und das Europäische Parlament. Dabei bedürfen Entscheidungen des Ministerrats einer qualifizierten Mehrheit. Für sie gilt das Prinzip der doppelten Mehrheit: Ein Beschlussvorschlag bedarf einer Zustimmung von mindestens 55 Prozent der Mitgliedstaaten (15 von 27), die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren.

Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Nationalstaaten

Seit den 1980er-Jahren ist die europäische Integration durch eine fortschreitende Vertiefung gekennzeichnet, also durch eine zunehmende Politikverflechtung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten und durch eine Übertragung von Gestaltungskompetenzen auf die EU-Ebene. Im Zuge dieser Entwicklung haben die Mitgliedstaaten auch eine Reihe gesundheitspolitischer Entscheidungskompetenzen auf die EU-Ebene übertragen.

Grundsätzlich weist der AEUV der EU die Aufgabe zu, „[b]ei der Festlegung und Durchführung aller Unionspolitiken und -maßnahmen […] ein hohes Gesundheitsschutzniveau“ sicherzustellen (Art. 168 Abs. 1 AEUV). Darüber hinaus gibt der AEUV der EU auf, dass sie ihre Tätigkeit „auf die Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung, die Verhütung von Humankrankheiten und die Beseitigung von Ursachen für die Gefährdung der körperlichen und geistigen Gesundheit“ zu richten habe (Art. 168 Abs. 1 AEUV).

Prävention

Über direkte gesundheitsbezogene Rechtsetzungsbefugnisse zur Gestaltung der Gesundheitssysteme verfügt die EU auf einigen für die Krankheitsprävention bedeutsamen Feldern. Unter ihnen sind der Gesundheitsschutz in der Arbeitsumwelt (Art. 153 Abs. 1 und 2 AEUV) sowie der gesundheitsbezogene Verbraucher- und Umweltschutz (Art. 169 sowie Art. 191 und 192 AEUV) von besonderer Bedeutung.

Hier setzt die EU durch Richtlinien Mindeststandards fest, die für die Mitgliedstaaten bindend sind. Zwar können diese über die Instrumente der Umsetzung selbst entscheiden und verfügen insofern über einen gewissen Spielraum. Wenn die Richtlinie aber konkrete Vorgaben enthält, müssen sich diese auch im nationalstaatlichen Recht wiederfinden. Die Mitgliedstaaten können für ihr jeweiliges Territorium auch über die Vorgaben der EU-Richtlinien hinausgehen. Sie dürfen aber ihre höheren Standards nicht zum Anlass nehmen, die Verbreitung von Produkten, die in anderen Ländern her- oder bereitgestellt wurden, zu behindern, wenn dort zwar nicht die eigenen, sehr wohl aber die EU-Standards erfüllt werden.

Auf dem Gebiet der Präventionspolitik haben vor allem die zahlreichen Arbeitsschutzrichtlinien der EU erheblichen Einfluss auf den Gesundheitsschutz in den Mitgliedstaaten genommen. Das Grundlagenwerk des europäischen Arbeitsschutzes, die EU-Arbeitsschutzrahmenrichtlinie, sieht ein modernes Schutzverständnis vor, das deutlich über den in vielen Mitgliedstaaten zuvor dominierenden technischen Arbeitsschutz hinausgeht. Wichtige Bestandteile sind ein umfassendes, psychosoziale Gesundheitsrisiken einschließendes Schutzverständnis; verpflichtende Gefährdungsbeurteilungen sowie kontinuierliche Anpassung von Schutzmaßnahmen an neue Erkenntnisse und Risiken (Gerlinger, 2000). Die EU-Rahmenrichtlinie war in Deutschland Anlass für die Verabschiedung des Arbeitsschutzgesetzes im Jahr 1996. Dieses Gesetz stellt einen bedeutenden Fortschritt für das deutsche Arbeitsschutzrecht dar und hat entscheidende Impulse durch das EU-Regelwerk erhalten (Gerlinger, 2000). Auch auf anderen Feldern der Präventionspolitik (z. B. bei der Luftreinhaltung oder der Tabakkontrolle) haben EU-Richtlinien zu einer Verbesserung des Gesundheitsschutzes in Deutschland beigetragen.

Neben diesen konkreten Handlungsfeldern ist die EU zuständig auch für allgemeine, die öffentliche Gesundheit insgesamt betreffende Aspekte der Gesundheitssystemgestaltung. So nennt Artikel 168 AEUV, der die Zuständigkeiten in der Gesundheitssystemgestaltung regelt, auch noch andere für die öffentliche Gesundheit relevante Handlungsfelder. Dazu zählen

  • „die Bekämpfung der weit verbreiteten schweren Krankheiten“,

  • „die Erforschung der Ursachen, der Übertragung und der Verhütung dieser Krankheiten sowie Gesundheitsinformation und -erziehung“ und

  • „die Beobachtung, frühzeitige Meldung und Bekämpfung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren“ (Art. 168 Abs. 1 AEUV).

Allerdings sind die Handlungskompetenzen der EU auf den genannten Feldern durch die eingangs genannten Prinzipien beschränkt. Insbesondere das Subsidiaritätsprinzip ist hier von Bedeutung. Die EU darf also auch dort, wo sie über Rechtsetzungskompetenzen verfügt, nur insoweit tätig werden, als die betreffenden Probleme auf europäischer Ebene besser gelöst werden können als in den Nationalstaaten. Außerdem wird die Rolle der EU bei den in Art. 168 AEUV genannten Aufgaben darauf beschränkt,

  • die Politik der Mitgliedstaaten zu ergänzen (Art. 168 Abs. 1 AEUV) sowie

  • ihre Zusammenarbeit zu fördern und

  • die Tätigkeit der Mitgliedstaaten, falls erforderlich, zu unterstützen (Art. 168 Abs. 2 AEUV).

Dabei hat die ergänzende, koordinierende oder unterstützende Tätigkeit der EU „unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten“ (Art. 168 Abs. 5 AEUV) zu erfolgen. Dennoch verfügt die EU auf diesen Feldern über explizite Handlungsbefugnisse.

Krankenversorgung

Im Unterschied zu diesen Handlungsfeldern ist die direkte Gestaltungsmacht der EU im Hinblick auf die Organisation und Finanzierung der Krankenversorgung recht gering. Diese sind Teil der sozialen Sicherungssysteme, deren Gestaltung der nationalstaatlichen Souveränität unterliegt: Der AEUV sieht ausdrücklich vor, dass „bei der Tätigkeit der Union […] die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Festlegung ihrer Gesundheitspolitik sowie für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung gewahrt [wird]. Die Verantwortung der Mitgliedstaaten umfasst die Verwaltung des Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung sowie die Zuweisung der dafür bereitgestellten Mittel“ (Art. 168 Abs. 7 AEUV). Die Mitgliedstaaten legen also z. B. den Umfang der öffentlich finanzierten Leistungen, die Art der Mittelaufbringung oder die Arbeitsteilung zwischen hausärztlicher und fachärztlicher Versorgung fest.

Diese Begrenzung der EU-Kompetenzen erstreckt sich im Übrigen auch auf den Bereich der Prävention. Wie also die Kompetenzen zwischen Bund und Ländern auf diesem Feld verteilt sind und ob die öffentliche Gesundheit durch z. B. Gesundheitsämter oder andere Institutionen sichergestellt wird, ist Sache der Mitgliedstaaten.

Die Kompetenz zur Gestaltung des Gesundheitssystems verbleibt im Grundsatz also bei den Mitgliedstaaten. Dies betrifft die Organisation der Prävention (einschließlich ihrer institutionellen Gestaltung), die Organisation des Krankenversorgungssystems einschließlich der institutionellen Gliederung und der Arbeitsteilung zwischen den Berufsgruppen, die Verteilung von Kompetenzen bei der Steuerung der Gesundheitssysteme sowie Art und Umfang der Leistungen und Leistungsfinanzierung bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit.

Europäischer Einfluss auf die Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten

Allerdings erlangte die EU in den vergangenen drei Jahrzehnten auch ohne formelle, direkte Zuständigkeit Einfluss auf die Gesundheitspolitik der Mitgliedstaaten (Földes, 2016). Der wohl wichtigste Grund dafür ist die Verflechtung von Politikfeldern: Die Organisation, Erbringung und Finanzierung von Gesundheitsleistungen ist kein isolierter Handlungsbereich, sondern mit anderen Bereichen verwoben. So sieht das EU-Recht den freien Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital im Binnenmarkt vor. Außerdem beinhaltet es Regeln für den Wettbewerb in der EU, indem es z. B. Unternehmen den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung oder Staaten wettbewerbswidrige Beihilfen für bestimmte Unternehmen verbietet. Dies wirft die Frage auf, ob und in welcher Weise diese Grundsätze auch auf die Gesundheitssysteme in der EU und die Gesundheitspolitik der Mitgliedstaaten anzuwenden sind. Diese Verflechtungen erzeugen auf verschiedenen Feldern Klärungsbedarf (Gerlinger & Rosenbrock, 2024). Dies lässt sich an folgenden Beispielen verdeutlichen:

  • Dürfen Patientinnen und Patienten zu Lasten des Kostenträgers ihres Herkunftslandes auch im EU-Ausland medizinische Leistungen in Anspruch nehmen?

  • Welche Anforderungen an die Qualifikation von Angehörigen der Gesundheitsberufe (z. B. Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte) dürfen die Mitgliedstaaten stellen, wenn Personen aus dem EU-Ausland ihren Beruf dort ausüben möchten?

  • Dürfen die Mitgliedstaaten die Defizite öffentlicher Krankenhäuser übernehmen, um die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen, oder ist dies eine wettbewerbswidrige Benachteiligung privater Krankenhausträger?

Rechtsstreitigkeiten über die Anwendung des europäischen Wettbewerbs- und Marktrechts auf die Gestaltung der Gesundheitssysteme werden häufig vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) entschieden. Da dessen Urteile unmittelbar verbindlich sind, erlangt der EuGH für die Gesundheitspolitik in den Mitgliedstaaten eine erhebliche Bedeutung. Im Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte lässt sich feststellen, dass die EU vor allem über die Verflechtung des europäischen Marktrechts mit der Gesundheitswirtschaft ihren Einfluss auf die Gestaltung der Gesundheitssysteme in den Mitgliedstaaten erweitern konnte. Dieser Mechanismus wird auch als „spill-over“ bezeichnet: Die Regelungen auf einem bestimmten Handlungsfeld „springen“ auf ein anderes Handlungsfeld „über“. Die folgende Abbildung verdeutlicht den Mechanismus der Einflussnahme.

Das Beispiel der Patientenmobilität in der EU

Ein gutes Beispiel für diese Verflechtung ist die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen durch EU-Bürger im EU-Ausland. Hierzu hatte der EuGH seit den 1980er-Jahren zahlreiche Entscheidungen gefällt. Die EU nahm dies 2011 zum Anlass, um eine Richtlinie zur Patientenmobilität zu verabschieden, welche die betreffenden Rechte der Patientinnen und Patienten grundsätzlich festschrieb (Rixen, 2012). Sie enthält die folgenden wesentlichen Bestimmungen:

  • EU-Bürgerinnen und -Bürger können eine ambulante Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat ohne vorherige Genehmigung des Kostenträgers ihres Herkunftsstaates in Anspruch nehmen.

  • Bei einer stationären Behandlung müssen sie in bestimmten Fällen eine solche Vorabgenehmigung einholen. Diese Genehmigung darf ihnen aber nicht willkürlich versagt werden. So sind Auslandsleistungen zu bewilligen, wenn z. B. Wartezeiten auf einen stationären Eingriff unzumutbar lang sind oder eine anerkannte Therapie im Inland nicht zur Verfügung steht.

  • Die Patientinnen und Patienten haben bei einer Auslandsbehandlung dieselben Rechte, die in ihrem Versicherungsstaat gelten, z. B. im Hinblick auf den Leistungskatalog und den Zugang zur fachärztlichen Versorgung oder zur Krankenhausbehandlung. Somit erwächst für sie kein Anspruch auf die Finanzierung von Leistungen, deren Finanzierung im Herkunftsstaat nicht vorgesehen ist.

  • Sie haben bei einer Behandlung im EU-Ausland gegenüber ihrem Kostenträger Anspruch auf die Erstattung der Kosten in der Höhe, die bei einer Behandlung im Versicherungsstaat angefallen wäre.

Weitere Mechanismen europäischer Einflussnahme

Neben den Verflechtungen zwischen dem EU-Wettbewerbsrecht und dem Krankenversorgungsrecht der Mitgliedstaaten beeinflussen auch die ökonomischen Kontextbedingungen der europäischen Integration die Gesundheitspolitik in den Mitgliedstaaten. So verstärkt der EU-Binnenmarkt die Konkurrenz der Unternehmen und Wirtschaftsstandorte. Hinzu kommen die Vorgaben für die „Europäische Wirtschafts- und Währungsunion“. Sie begrenzen die jährliche Neuverschuldung auf 3 Prozent und die Gesamtverschuldung auf 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Diese Rahmenvorgaben erzeugen in den Mitgliedstaaten einen Druck zur Begrenzung der Sozialausgaben, der sich in vielen Mitgliedstaaten auch in der Krankenversorgung bemerkbar macht. Leistungsausgrenzungen, die Erhöhung von Selbstzahlungen und die Bemühungen um eine Effizienzsteigerung in der Krankenversorgung stehen somit auch im Zusammenhang mit diesen Aspekten der europäischen Integration.

Offene Methode der Koordinierung

Ein weiterer Mechanismus der Einflussnahme der EU auf die Gesundheitspolitik der Mitgliedstaaten ist die so genannte „Offene Methode der Koordinierung“ (OMK). Die OMK ist ein Verfahren, das die freiwillige Kooperation und den Austausch bewährter Verfahren zwischen den EU-Mitgliedstaaten verbessern und ihnen auf diese Weise eine Hilfestellung bei der Weiterentwicklung ihrer nationalstaatlichen Politik geben soll. Die OMK wurde bereits in den 1990er-Jahren in der Arbeitsmarktpolitik und in der Rentenpolitik angewandt. Sie umfasst vier Kernelemente (Gerlinger & Urban, 2006):

  • die Festlegung von Leitlinien für die Entwicklung einzelner Felder in Prävention und Krankenversorgung einschließlich eines Zeitplans für die Verwirklichung der kurz-, mittel- und langfristigen Ziele,

  • die Festlegung quantitativer und qualitativer Indikatoren und Benchmarks, mit deren Hilfe die Versorgung in den Mitgliedstaaten vergleichbar gemacht und bewährte Verfahren identifiziert werden sollen,

  • die Umsetzung der europäischen Leitlinien in die Politik der Mitgliedstaaten durch Entwicklung konkreter Ziele und Erlass entsprechender Maßnahmen,

  • die regelmäßige Überwachung, Bewertung und gegenseitige Prüfung der getroffenen Maßnahmen und erzielten Fortschritte.

Allerdings begrenzen die großen Unterschiede zwischen den nationalstaatlichen Gesundheitssystemen die Wirksamkeit der OMK. Die OMK strebt deren Harmonisierung nicht an, und diese ist auch nicht zu erwarten. Trotz gestiegener Einflussnahme der EU entscheiden im Kern nach wie vor die Mitgliedstaaten über die Gestaltung ihrer Gesundheitssysteme. Entsprechend groß sind die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bei der Versorgung, Finanzierung und Regulierung ihrer Gesundheitssysteme (s. hierzu: OECD, 2024).

Die EU-Gesundheitspolitik in der Corona-Krise

Mit der vom AEUV zugewiesenen Aufgabe, die Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren zu unterstützen und ihr Handeln zu koordinieren, verfügte die EU auch über ein Mandat, bei der Eindämmung der Covid-19-Pandemie tätig zu werden. Die Mitgliedstaaten hätten der EU somit eine zentrale Rolle bei der Eindämmung der Pandemie zuweisen und wichtige Entscheidungen darüber gemeinsam auf EU-Ebene treffen können.

Tatsächlich drang die EU während der ersten Pandemiewelle im Frühjahr 2020 mit ihren Koordinierungsvorschlägen kaum durch und spielte auf den zentralen Feldern der Pandemieeindämmung nur eine Nebenrolle (s. hierzu und zum Folgenden: Brooks et al., 2023; Greer & de Ruijter, 2020; Greer et al., 2022). Die Aktivitäten ihrer Gremien konzentrierten sich in dieser Phase auf die Unterstützung der Mitgliedstaaten und deren Koordinierung bei eher mittelbaren Maßnahmen zur Pandemieeindämmung. Dazu zählten die Beschaffung und Verteilung von Schutzausrüstungen und Medikamenten, Hilfen für besonders hart von der Pandemie betroffene Länder und Regionen sowie die Finanzierung der Forschung zur Impfstoffentwicklung. Im Herbst 2020 kamen die Beschaffung und Verteilung von Impfstoffen hinzu.

Die Mitgliedstaaten gingen unter dem enormen Zeitdruck und der Unsicherheit über die Effekte der Maßnahmen bei der Pandemiebekämpfung eigene Wege. Sie ergriffen diejenigen Maßnahmen, die sie in ihrem Interesse und angesichts der nationalstaatlichen Bedingungen für geboten hielten – ob es sich nun um die Schließung von öffentlichen Einrichtungen, das Verbot von Veranstaltungen, allgemeine Kontaktverbote und -einschränkungen, Quarantänebestimmungen für Infizierte und Kontaktpersonen oder persönliche Maßnahmen zum Infektionsschutz handelte. Hinzu kam, dass Mitgliedstaaten zeitweise auch ihre Grenzen für den Personenverkehr schlossen oder den Personenverkehr einschränkten und die Ausfuhr medizinischer Güter blockierten.

Im weiteren Pandemieverlauf übernahm die EU eine aktivere Koordinierungs- und Unterstützungsfunktion. Wichtige Handlungsfelder waren weiterhin die Beschaffung von Schutzausrüstungen und Medikamenten sowie die finanzielle Unterstützung der Impfstoffforschung (Europäische Kommission, 2023).

Nachdem beim Ausbruch der COVID-19-Infektion in den Mitgliedstaaten erhebliche Mängel bei der Infektionsbekämpfung aufgetreten waren, arbeiteten die EU-Gremien an einem Konzept für eine dauerhafte Stärkung der EU-weiten Koordinationsstrukturen. Im Zentrum stand hierbei das „Europäische Zentrum für die Prävention und -die Kontrolle von Krankheiten“ (European Centre for Disease Prevention and Control – ECDC). Diese Einrichtung ist für die Koordination des Handelns der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheit von besonderer Bedeutung. Ihre Aufgabe besteht in der Vermeidung und Eindämmung von Infektionskrankheiten. Zu diesem Zweck führt sie eine Vielzahl von Aktivitäten durch: Sie sammelt einschlägig relevante Daten, informiert und berät die EU-Gremien und die Mitgliedstaaten und fördert den Informationsaustausch in der EU auf dem Gebiet des Infektionsschutzes (ECDC, 2023).

Im Herbst 2022 verabschiedeten das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union eine Verordnung über eine umfassende Präventions-, Vorsorge- und Reaktionsplanung bei schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren (Europäisches Parlament & Rat der Europäischen Union, 2022). Damit wurden vor allem die Aufgaben und Kompetenzen des ECDC erheblich erweitert:

  • Das ECDC soll künftig die Erhebung, Analyse und Verbreitung von Daten in der EU koordinieren, damit EU-weit aktuelle und vergleichbare Daten zur Verfügung stehen.

  • Ferner soll das ECDC seine Tätigkeit enger mit der Europäischen Kommission und mit anderen internationalen Organisationen sowie mit den zuständigen Behörden in den Mitgliedstaaten und anderen EU-Behörden koordinieren.

  • Außerdem soll das ECDC künftig die Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten beobachten und ihre Fähigkeit beurteilen, den Ausbruch von Infektionskrankheiten zu erkennen, zu verhindern oder einzudämmen sowie die Folgen (z. B. für die Krankenversorgung) zu bewältigen. Aus diesen Beurteilungen sollen Empfehlungen für die Verbesserung der nationalstaatlichen Gesundheitssysteme erwachsen.

Außerdem wurde die Europäische Kommission ermächtigt, unter bestimmten Voraussetzungen einen EU-weiten Gesundheitsnotstand auszurufen. Damit soll eine verstärkte Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten ausgelöst werden. Sie soll es ermöglichen, rasche und wirksame Eindämmungsmaßnahmen durchzuführen und einen Vorrat an erforderlichen Medizinprodukten anzulegen.

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Richtige Antwort: Die EU legt Mindeststandards zum Arbeitsschutz in den Mitgliedstaaten fest.
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Richtige Antwort: Die EU unterstützt die Mitgliedstaaten bei der Gestaltung ihrer Gesundheitssysteme.
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Richtige Antwort: Die Bürgerinnen und Bürger haben Anspruch auf die Erstattung der Kosten, die bei einer Behandlung im Versicherungsstaat (Heimatland) entstanden wären.

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Welche Kompetenzen hat die Europäische Union (EU) auf dem Gebiet der Prävention?

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Richtige Antwort: Die EU legt Mindeststandards zum Arbeitsschutz in den Mitgliedstaaten fest.

Welche Kompetenzen hat die Europäische Union (EU) auf dem Gebiet der Krankenversorgung?

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Richtige Antwort: Die EU unterstützt die Mitgliedstaaten bei der Gestaltung ihrer Gesundheitssysteme.

Bürgerinnen und Bürger können ohne vorherige Genehmigung ihres Kostenträgers (in Deutschland: die Krankenkassen) ambulante Leistungen im EU-Ausland in Anspruch nehmen. Welche der nachgenannten Aussagen über ihre Leistungs- und Kostenerstattungsansprüche trifft zu?

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Richtige Antwort: Die Bürgerinnen und Bürger haben Anspruch auf die Erstattung der Kosten, die bei einer Behandlung im Versicherungsstaat (Heimatland) entstanden wären.

Quellen / Literatur

Brooks, Eleanor; de Ruijter, Anniek; Greer, Scott L.; Rozenblum, Sarah (2023). EU health policy in the aftermath of COVID-19: Neofunctionalism and crisis-driven integration. Journal of European Public Policy, 30(4): 721–739.Externer Link: https://doi.org/10.1080/13501763.2022.2141301

ECDC – European Centre for Disease Control and Prevention (2023). European Centre for Disease Control and Prevention: About ECDC. Externer Link: https://www.ecdc.europa.eu/en/about-ecdc

Europäisches Parlament & Rat der Europäischen Union (2022). Verordnung (EU) 2022/2371 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. November 2022 zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren und zur Aufhebung des Beschlusses Nr. 1082/2013/EU. ABl.EG L314/26, 6.12.2022. Externer Link: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32022R2371

Europäische Kommission (2023). Zeitleiste der EU-Maßnahmen. Externer Link: https://ec.europa.eu/info/live-work-travel-eu/coronavirus-response/timeline-eu-action_de

Földes, Maria E. (2016). Health policy and health systems: A growing relevance for the EU in the context of the economic crisis. Journal of European Integration, 38(3): 295–309.

Gerlinger, Thomas (2000). Arbeitsschutz und europäische Integration. Europäische Arbeitsschutzrichtlinien und nationalstaatliche Arbeitsschutzpolitik in Großbritannien und Deutschland. Opladen: Leske + Budrich.

Gerlinger, Thomas & Rosenbrock, Rolf (2024). Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung, 4., überarb. u. erw. Aufl. Bern: Hogrefe.

Gerlinger, Thomas & Urban, Hans-Jürgen (2006). Gesundheitspolitik in Europa. Über die Europäisierung und Ökonomisierung eines wohlfahrtsstaatlichen Politikfeldes. In: Claus Wendt & Christof Wolf (Hrsg.), Soziologie der Gesundheit. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 342–363.

Greer, Scott L.; Brooks, Eleanor; de Ruijter, Anniek & Rozenblum, Sarah (2022). Neofunctionalism, failure, and rescues: European integration in the COVID-19 pandemic. Journal of European Public Policy. Externer Link: https://doi.org/10.1080/13501763.2022.2141301

Greer, Scott L. & de Ruijter, Anniek (2020). EU Health Law and Policy in and after the COVID-19 Crisis. European Journal of Public Health 30(4): 623–624. Externer Link: https://academic.oup.com/eurpub/article/30/4/623/5868719?login=true

OECD (2024). State of Health in the EU. Externer Link: https://health.ec.europa.eu/state-health-eu_en

Rixen, Stephan (2012). Die Patientenrechte-Richtlinie als „Dienstleistungsrichtlinie des Gesundheitswesens“? Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht 9(1): 45-50.

Schölkopf, Martin & Grimmeisen, Simone (2021). Das Gesundheitswesen im internationalen Vergleich. Gesundheitssystemvergleich und europäische Gesundheitspolitik, 4., aktualis. u. überarb. Aufl. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.

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ist Professor an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld und leitet dort die Arbeitsgruppe "Gesundheitssysteme, Gesundheitspolitik und Gesundheitssoziologie". E-Mail Link: thomas.gerlinger@uni-bielefeld.de