Einleitung
Die Diskussion über die Stärken und Schwächen des deutschen Gesundheitssystems bei der Eindämmung der Corona-Pandemie ist noch lange nicht abgeschlossen. Die Einschätzungen dazu gehen teilweise durchaus auseinander (Frevel & Heinicke, 2024; Sachverständigenausschuss, 2022). Dennoch werden Konturen eines Bildes sichtbar, das das deutsche Gesundheitssystem während der Pandemie abgegeben hat (Sachverständigenausschuss, 2022). Im Folgenden sollen diese Konturen im Hinblick auf ausgewählte Handlungsfelder nachgezeichnet werden.
Im Allgemeinen wird Deutschland attestiert, recht gut durch die Pandemie gekommen zu sein (Sachverständigenausschuss, 2022). Besonders gilt dies für die erste (bis in den Frühsommer 2020 dauernde) Phase, als die Infektions- und Sterbequoten im internationalen Vergleich recht niedrig ausfielen, weniger für die Zeit ab dem Jahresende 2020, als die Bevölkerungsimpfung nur langsam Fortschritte machte und der Grad der Durchimpfung deutlich hinter dem anderer Länder zurückblieb.
Die Wirksamkeit der getroffenen Maßnahmen zu bewerten ist außerordentlich schwierig und mit großen Unsicherheiten behaftet. Der häufig gezogene Rückschluss von Infektions- und Sterbeziffern auf die Angemessenheit des (gesundheits-)politischen Handelns in der Pandemie muss unter erhebliche Vorbehalte gestellt werden. Das hat unterschiedliche Gründe:
Erstens handelt es sich bei den zugrunde gelegten Infektionszahlen nur um offiziell erfasste Zahlen. Die erfassten Infektionen spiegeln nicht unbedingt die tatsächliche Verbreitung des Virus wider. Zum einen wurden nur Teile der Bevölkerung von den Screenings erfasst, zum anderen konnten Infektionen symptomlos oder symptomarm verlaufen und wurden daher gar nicht in einen Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gebracht.
Zweitens ist es schwierig, einzelnen Schutzmaßnahmen bestimmte Effekte zuzuordnen. Nur unter großen Vorbehalten lassen sich Aussagen darüber treffen, wie sich das Infektionsgeschehen ohne die betreffenden Maßnahmen entwickelt hätte.
Drittens werden Infektions- und Sterblichkeitszahlen von Faktoren beeinflusst, die nicht auf das politische Handeln und die Qualität der Versorgung in der Pandemie zurückzuführen sind. Dazu zählen z. B. die Bevölkerungsdichte oder der Anteil der in Ballungsräumen lebenden Bevölkerung, der Anteil alter und hochbetagter Menschen an der Bevölkerung, die räumliche Mobilität der Bevölkerung, die Lebensformen (z. B. die Rolle der Familie, die Integration von alten Menschen in Familie und Gesellschaft oder der Anteil von Single-Haushalten) sowie das Ausmaß von Armut und sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft (z. B. beengte Wohnverhältnisse, die Angewiesenheit auf öffentliche Verkehrsmittel). Diese und andere Faktoren können Einfluss auf die Verbreitung eines Virus und die Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen nehmen.
Viertens hängen Infektions- und Sterbequoten auch davon ab, wie gut das Gesundheitssystem in Prävention und Krankenversorgung auf die Bekämpfung von Infektionskrankheiten vorbereitet ist. Personelle und sachliche Kapazitäten lassen sich kurzfristig – wenn die Pandemie erst einmal ausgebrochen ist – zumeist nicht oder nur in engen Grenzen an einen plötzlich gestiegenen Bedarf anpassen. So beeinflusst die personelle und technische Ausstattung der für die öffentliche Gesundheit zuständigen Einrichtungen die Chancen, die Bevölkerung bei der Eindämmung des Virus zu unterstützen, die Einhaltung von Bestimmungen zu kontrollieren oder die Nachverfolgung potenziell Infizierter zu gewährleisten. Schließlich hängen die Sterbequote und die Zahl der schweren Krankheitsverläufe auch davon ab, wie gut das medizinische Versorgungssystem auf die Behandlung einer großen Zahl Schwerstkranker vorbereitet ist (Gerlinger & Rosenbrock, 2024).
Die Corona-Pandemie – eine neuartige Herausforderung
Für das deutsche Gesundheitssystem stellte die Corona-Pandemie eine neuartige Herausforderung dar. Angesichts des Vordringens chronischer Erkrankungen waren Infektionskrankheiten in den letzten Jahrzehnten kaum noch als Interventionsfeld wahrgenommen worden, wenn man einmal von zumeist nur kurzfristigen Krisen wie Aids, Externer Link: MRSA oder
Die Bekämpfung der Corona-Pandemie stand unter hohem Zeitdruck und erfolgte unter großer Unsicherheit. Der hohe Zeitdruck resultierte aus der leichten Übertragbarkeit des Virus und dem potenziell schweren Krankheitsverlauf. Die große Unsicherheit ergab sich aus dem unzureichenden Wissen über die Übertragungswege (z. B. die Rolle von Tröpfchen- und Schmierinfektion, die Rolle von Aerosolen) und die Infektiosität des Virus (z. B. die Übertragbarkeit durch Kinder oder die Dauer der von Infizierten ausgehenden Ansteckungsgefahr), auch angesichts seiner Wandlungsfähigkeit, welche die Unsicherheit über die Ansteckungsgefahren zwischenzeitig stark erhöhte. Damit war es auch nur schwer möglich, gesicherte Antworten auf die Frage nach den geeigneten Präventionsmöglichkeiten zu geben. Dies betraf z. B. den sicheren Abstand zu Infizierten, die Wirkung eines Mund-Nasen-Schutzes oder die Dauer einer Quarantäne von Infizierten.
Vorbereitung auf die Pandemie
Das deutsche Gesundheitssystem war insgesamt nicht gut auf die Corona-Pandemie vorbereitet. Dies betraf sowohl die Ausstattung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (s. Abschnitt Der Öffentliche Gesundheitsdienst) als auch die Krankenversorgung. Als sehr hilfreich erwies sich allerdings die im internationalen Vergleich hohe Zahl der Krankenhausbetten je 1.000 Einwohner (einschließlich der Dichte an Intensivbetten). Gemeinsam mit den Maßnahmen zum Freihalten von Intensivbetten und zur Beschaffung von Ressourcen für die intensivmedizinische Versorgung von Corona-Infizierten hat dieses Merkmal dazu beigetragen, dass das deutsche Gesundheitssystem mit der medizinisch notwendigen Versorgung von Corona-Infizierten nicht überfordert war und sogar Patientinnen und Patienten aus dem europäischen Ausland versorgen konnte. Eine Triage, also ärztliche Entscheidungen darüber, welche schwer Erkrankten aufgrund knapper Ressourcen keine Hilfe erhalten, konnte so vermieden werden. Allerdings hatte das Freihalten von Betten für Corona-Patientinnen und -Patienten auch seinen gesundheitlichen Preis, denn es wurde nur möglich, weil auch notwendige Behandlungen und Eingriffe, darunter auch bei Schwerstkranken, verschoben wurden (z. B. Osterloh, 2020).
Probleme bereiteten weit eher Personalengpässe, vor allem im Pflegebereich. Hier existierte schon lange vor dem Ausbruch der Pandemie eine ausgeprägte, vor allem auf die schlechten Arbeitsbedingungen zurückzuführende Personalknappheit (Schmucker, 2020), die sich während der Pandemie durch die Corona-Infektionen des Personals noch verschärfte.
Neben dem Mangel an qualifiziertem Personal wurden die sachlich-materiellen Schutzvorkehrungen gegen größere Infektionsepidemien vernachlässigt. So mangelte es an Schutzausrüstungen (Schutzkleidung, Schutzmasken) sowie an Laborkapazitäten und teilweise auch an Arzneimitteln. Notfallpläne wurden häufig nicht gepflegt und waren mitunter auch gar nicht vorhanden. Insgesamt ließ die Vorbereitung auf eine Infektionsepidemie in Deutschland sehr zu wünschen übrig, sowohl vonseiten des Staates als auch bei vielen Krankenversorgungseinrichtungen.
Dabei hatte es an begründeten Katastrophenszenarien, die manche Parallelen zur späteren Corona-Pandemie aufwiesen, und an detaillierten Handlungsvorschlägen durch das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (z. B. Deutscher Bundestag, 2013) nicht gefehlt. Vermutlich fiel die Vorbereitung auf derartige Katastrophen unzureichend aus, weil die Prävention von Infektionskrankheiten durch die Überwachung der öffentlichen Hygiene und durch Impfung gleichsam als eine Routineaufgabe und der Eintritt derartiger Ereignisse als unwahrscheinlich angesehen wurde.
Der Öffentliche Gesundheitsdienst
Dem öffentlichen Gesundheitsdienst, und hier wiederum den kommunalen Gesundheitsämtern, kam eine Schlüsselrolle bei der Pandemieeindämmung zu. Im Zentrum ihrer Tätigkeit standen die Rückverfolgung der Kontakte Infizierter, deren Information sowie die Veranlassung von Isolierungs- und Quarantänemaßnahmen und die Betreuung von Infizierten und Infektionsverdächtigen. Hinzu kamen die Information und Aufklärung der Bevölkerung, die Beratung von Unternehmen und Einrichtungen (vor allem Pflegeheime und Krankenhäuser, aber auch Schulen und Kindertagesstätten) bei der Entwicklung von Hygienekonzepten sowie die Koordination der für die Pandemieeindämmung relevanten Akteure, z. B. durch Mitarbeit in lokalen und regionalen Krisenstäben. Außerdem bestand die Notwendigkeit, auf sich mitunter rasch wandelnde wissenschaftliche Erkenntnisse zur Virusverbreitung und zur Eignung von Präventionsmaßnahmen zu reagieren und den schnellen Wissenstransfer zu den betroffenen Einrichtungen und Personen zu gewährleisten. Ab dem Spätherbst 2020 mussten sie zudem über die Impfung informieren und niedrigschwellige Impfangebote bereitstellen. Diese und andere Aufgaben mussten die Gesundheitsämter unter hohem Zeitdruck erfüllen (z. B. Arnold & Teichert, 2021).
Sehr schnell wurde deutlich, dass zahlreiche Gesundheitsämter mit den genannten Aufgaben überfordert waren. Insbesondere bei der Rückverfolgung von Kontakten Infizierter gerieten viele schnell an ihre Grenzen. Vor diesem Hintergrund häuften sich Berichte in den Medien und Klagen von Verantwortlichen über eine Überlastung der Gesundheitsämter (Klenk et al., 2021). Die rasche Einstellung von Hilfskräften („containment scouts“) konnte die personelle Notlage zwar lindern, aber die Überforderung zumeist nicht abwenden. Neben dem Personalmangel wurde die unzureichende technische Infrastruktur, insbesondere eine unzureichende Digitalisierung, beklagt. Zudem erschwerten nicht kompatible Erfassungssysteme in vielen Fällen die Kontaktrückverfolgung sowie den länderübergreifenden Datenaustausch (Roßmann et al., 2022). Schließlich band die unzureichende Digitalisierung Personal, das für andere Aufgaben nicht zur Verfügung stand. Das vielerorts noch benutzte Faxgerät wurde zum Symbol für die technische Rückständigkeit vieler Gesundheitsämter.
Die schlechte Vorbereitung der Gesundheitsämter war eine Folge der jahrzehntelangen finanziellen Auszehrung der Gesundheitsämter (Lindner, 2004; Elsner, 2022). Die in der Corona-Pandemie gemachten Erfahrungen veranlassten Bund und Länder im Herbst 2020, einen „Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst“ ins Leben zu rufen (Bundesministerium für Gesundheit, 2024). Damit wurden für den Zeitraum von 2021 bis 2026 vier Milliarden Euro zur Verfügung gestellt, mit denen die personelle und technische Ausstattung der Gesundheitsämter verbessert werden soll. Es wird abzuwarten sein, ob diese Mittel ausreichen und die Gesundheitsämter dauerhaft – auch dann, wenn die Pandemieeindrücke in den Hintergrund getreten sein werden – aufgewertet werden.
Schutz vulnerabler Gruppen – soziale Ungleichheit von Gesundheitsrisiken in der Corona-Pandemie
Nicht alle Bevölkerungsgruppen sind in gleicher Weise von Krankheitsrisiken bedroht. Besonders gefährdet sind so genannte vulnerable Gruppen, also solche Gruppen, die in besonders hohem Maße Risiken ausgesetzt sind und zugleich über geringe Ressourcen verfügen, diesen Risiken zu begegnen. Dazu gehören generell Personen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status (v. a. geringes Einkommen, niedriger Bildungsabschluss), aber auch Personen, die allein schon aufgrund ihrer persönlichen Situation besonders gefährdet sind, wie z. B. Pflegebedürftige (s. Abschnitt „Infektionsschutz in Pflegeheimen“) oder Kinder. Der Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und Krankheit trat auch bei der Corona-Pandemie zu Tage. Während der ersten Pandemiewelle (März bis Juni 2020) waren noch Personen aus Regionen mit hohem Durchschnittseinkommen unter den Infizierten überrepräsentiert. Dies lag an den anfänglichen Übertragungswegen: Das SARS-CoV-2-Virus wurde anfangs vor allem durch Personen, die ihren Skiurlaub in Österreich verbracht hatten, in Deutschland verbreitet. Allerdings verlagerte sich das Infektions- und Sterbegeschehen ab der zweiten Pandemiewelle (Oktober bis Dezember 2020) zunehmend in sozioökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen bzw. in Regionen mit niedrigem Einkommen (Wachtler et al., 2020; Knöchelmann & Richter, 2021; Wahrendorf et al., 2021; Dragano et al., 2021; Hoebel et al., 2022). Menschen mit niedriger Bildung hatten nun bereits ein doppelt so hohes Infektionsrisiko wie Menschen mit hoher Bildung. Als Erklärungen für die stärkere Verbreitung der Corona-Infektion unter Personen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status kommen unterschiedliche, eng miteinander verflochtene Aspekte in Betracht. Im Zentrum steht dabei, dass Personen mit niedrigem sozioökonomischem Status im Allgemeinen größere Schwierigkeiten haben, Kontakte zu anderen Menschen und damit zu potenziellen Virusträgern zu vermeiden, denn
sie sind in höherem Maße von öffentlichen Verkehrsmitteln abhängig;
ihre Wohnverhältnisse sind häufig recht beengt, so dass Infektionen leichter übertragen werden können;
für Personen mit niedrigem Einkommen ist die Arbeit im Home Office häufig nicht möglich und sind Kontakte mit Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz daher unvermeidbar;
ein Teil der Personen mit niedrigem sozioökonomischem Status (z. B. Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer, Obdachlose, Geflüchtete) ist in Sammelunterkünften untergebracht und dort einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt.
Personen mit geringem sozioökonomischem Status haben aber nicht nur ein erhöhtes Infektionsrisiko, sondern auch, erst einmal infiziert, ein erhöhtes Risiko für einen schwereren Krankheitsverlauf. So war bei diesem Personenkreis nach einer Corona-Infektion die Wahrscheinlichkeit eines Krankenhausaufenthaltes deutlich erhöht (Wahrendorf et al., 2021). Eine entscheidende Rolle dafür dürfte die stärkere Verbreitung von Vorerkrankungen (Diabetes, Krebs, Herz-Kreislauferkrankungen, chronisch-obstruktive Lungenerkrankungen) und Risikofaktoren (Adipositas, Bluthochdruck und Tabakkonsum) bei Personen mit niedrigem Sozialstatus sein (Richter & Hurrelmann, 2023).
Aus dem skizzierten Zusammenhang ergibt sich als Anforderung, die Präventionsanstrengungen auf sozial Benachteiligte zu konzentrieren. Mediale Berichte (Klenk et al., 2021), Erfahrungsberichte (z. B. Roßmann et al., 2022) und Stellungnahmen aus den Gesundheitsämtern und Positionspapiere von gesundheitspolitischen Akteuren (z. B. Bundesärztekammer, 2020) sowie vereinzelte Fallstudien vermitteln aber den Eindruck, dass die Verminderung sozialer Ungleichheit bei der Pandemieeindämmung insgesamt eher eine geringe Rolle spielte. In vielen Gesundheitsämtern hat der skizzierte Ressourcenmangel eine solche Prioritätensetzung erschwert, in manchen dürfte aber auch das mangelnde Problembewusstsein für die soziale Ungleichheit von Gesundheitsrisiken dafür verantwortlich sein (Altgeld, 2022).
Warteschlange vor mobilem Impfzentrum im Bremer Stadtteil Huckelriede im August 2021. (© picture-alliance)
Warteschlange vor mobilem Impfzentrum im Bremer Stadtteil Huckelriede im August 2021. (© picture-alliance)
Allerdings gab es auch Gesundheitsämter, die den besonderen Risiken sozial Benachteiligter in ihrer Präventionspraxis einen hohen Stellenwert einräumten. Bundesweite Beachtung fand in diesem Zusammenhang das Gesundheitsamt Bremen, das zwischenzeitig beachtliche Erfolge bei der Erhöhung der Impfquote und der Senkung von Infektionsquoten erzielte. Wichtige Grundlage der dort betriebenen Präventionsstrategie war die Beachtung des Zusammenhangs von Infektionsrisiko und Sozialstatus. Bereits frühzeitig wurden auf der Stadtteilebene Infektionszahlen erhoben, besondere Infektionsherde identifiziert und die Impfquoten erfasst. Die daraus erwachsenden Erkenntnisse veranlassten die Behörde zu einer Konzentration der Präventions- und Impfkampagnen auf soziale Brennpunkte und ärmere Quartiere. Hier wurden niedrigschwellige Zugangsmöglichkeiten zur Impfung geschaffen, z. B. durch
den Aufbau mobiler Impfzentren zunächst für die Erstimpfung und dann für die Zweitimpfung (z. B. die Platzierung von Impftrucks in den Bremer Häfen, vor dem Weserstadion und ähnliche Maßnahmen),
die Kooperation von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Gesundheitsamtes mit Quartiersmanagern, Vertretern von Religionsgemeinschaften, Gesundheitsfachkräften etc. (Freie Hansestadt Bremen, 2022).
Die Identifikation von Risikogruppen, die Schaffung geeigneter Zugangswege sowie die Vermittlung diversitätssensibler Präventionsbotschaften waren wichtige Elemente dieser Strategie. Bei allen Mängeln bei der Pandemieeindämmung gab es also auch Beispiele für innovatives Handeln.
Infektionsschutz in Pflegeheimen
Zu den vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen zählen aufgrund ihrer Lebenssituation und ihres zumeist hohen Alters die Pflegebedürftigen. Die Langzeitpflege wurde von der Corona-Krise besonders stark betroffen, da Pflegebedürftige aufgrund des unvermeidbaren engen Kontakts mit dem Pflegepersonal einem hohen Infektionsrisiko und ausgesetzt waren und aufgrund ihres Alters und ihres Gesundheitszustands ein besonders hohes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf (bis hin zum Tod) hatten. Obwohl Pandemiepläne vorlagen und die Pflegeeinrichtungen einrichtungsspezifische Hygienepläne entwickeln und vorhalten mussten, war die Langzeitpflege auf die Covid-19-Pandemie nicht hinreichend vorbereitet. Die Gründe dafür sind unterschiedlich (z. B. Wolf-Ostermann et al., 2022):
Angesichts des Personalmangels und einer zu geringen Fachkraftquote waren die Rahmenbedingungen für die Bewältigung der Covid-19-Pandemie in vielen Fällen schlecht.
In vielen Einrichtungen waren Hygienepläne entweder nicht vorhanden oder nicht angemessen ausgearbeitet.
Nachdem hohe Infektionsraten bei Pflegebedürftigen und beim Pflegepersonal und in einzelnen Pflegeheimen eine hohe Zahl von Todesfällen bekannt geworden waren, verabschiedeten Bund und Länder eine Vielzahl von Vorschriften und ergriffen Pflegeheime Maßnahmen zur Pandemieeindämmung (Wolf-Ostermann et al., 2022). In diesem Zusammenhang
wurden Besuchsverbote und eine Vielzahl weiterer Maßnahmen zur Kontaktreduzierung erlassen;
wurden in zahlreichen Pflegeheimen Abteilungen geschlossen oder gar ein Aufnahmestopp für neue Pflegebedürftige verfügt;
wurden für das Pflegepersonal Schulungen auf dem Gebiet der Infektionshygiene durchgeführt;
erhielten Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner und das Pflegepersonal Vorrang bei der Testung und der Impfung;
wurden Schutzausrüstungen beschafft und Vorräte für Schutzausrüstungen angelegt;
wurde eine Impfpflicht für Pflegekräfte eingeführt.
Wegen des Corona-Virus bis auf weiteres geschlossen - Aushang am Eingang eines Seniorenheims im März 2020. (© picture-alliance)
Wegen des Corona-Virus bis auf weiteres geschlossen - Aushang am Eingang eines Seniorenheims im März 2020. (© picture-alliance)
Zwar trugen zahlreiche der ergriffenen Maßnahmen zu einer Begrenzung der Infektionszahlen bei, allerdings litten auch die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden von Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohnern erheblich unter diesen Kontaktbeschränkungen (Räker et al., 2021). Eine Analyse von AOK-Daten zeigt eine deutliche Übersterblichkeit in der vollstationären Pflege während der ersten Pandemiewelle (hier: März bis Mai 2020), insbesondere bei Pflegebedürftigen mit den Pflegegraden 4 und 5 sowie bei Pflegebedürftigen mit einer Demenzdiagnose (Jacobs et al., 2021, S. 8–12). Die Sterblichkeit in den Pflegeheimen lag in dieser Zeit rund 20 Prozent über dem Mittel der Jahre 2015 bis 2019. Insgesamt war der Infektionsschutz in der Langzeitpflege während der Pandemie unzureichend (Jacobs et al., 2021).
Koordination in der Europäischen Union
Bei der Corona-Pandemie handelte es sich um eine grenzüberschreitende Gesundheitsgefahr. Daher hätten die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) eine wichtige Rolle bei der Pandemiebekämpfung einräumen und dies durch eine Übertragung von Zuständigkeiten auf die EU oder zumindest durch eine EU-weite Koordination der Präventionsmaßnahmen untermauern können (s. Modul
Zwar bemühten sich die Europäische Kommission und der Rat der Gesundheitsminister um eine EU-weite Koordinierung. Allerdings waren diese Bemühungen oft schwierig und langwierig und durch fehlendes Vertrauen unter manchen Mitgliedstaaten geprägt (Gontariuk et al., 2021). Zudem beschränkten sich die EU-Aktivitäten ganz überwiegend auf die mittelbare und unmittelbare Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Bewältigung der Pandemie, z. B. durch die Beschaffung von Schutzausrüstungen und Medikamenten oder die Förderung zur Erforschung eines Impfstoffes. Im weiteren Pandemieverlauf wuchs insbesondere die Europäische Kommission (Kassim, 2022) in eine aktivere Koordinierungs- und Unterstützungsfunktion hinein (Ladi & Wolff, 2021). Wichtige Handlungsfelder waren weiterhin die Beschaffung von Schutzausrüstungen und Medikamenten sowie die finanzielle Unterstützung der Impfstoffforschung (Europäische Kommission, 2023). Eine zentrale Rolle wiesen die Mitgliedstaaten der Europäischen Kommission bei der wichtigen Frage der Impfstoffbeschaffung und -verteilung zu. Insgesamt blieb die Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten aber schwach.
Angesichts des deutlich gewordenen Bedarfs an einer besseren EU-weiten Koordinierung verabschiedeten das Europäische Parlament und der Europäische Rat im Herbst 2022 eine Verordnung über eine umfassende Präventions-, Vorsorge- und Reaktionsplanung bei schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren (Europäisches Parlament & Rat der Europäischen Union, 2022). Damit wurden vor allem die Aufgaben und Kompetenzen des „European Centre for Disease Control“(ECDC) erheblich erweitert (s. Modul
Bund und Länder bei der Pandemieeindämmung
Bund-Länder-Treffen zum Umgang mit der Corona-Pandemie im Oktober 2020 im Bundeskanzleramt. (© Bundesregierung / Jesco Denzel)
Bund-Länder-Treffen zum Umgang mit der Corona-Pandemie im Oktober 2020 im Bundeskanzleramt. (© Bundesregierung / Jesco Denzel)
Bund und Länder haben bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten jeweils eigene Kompetenzen und sind zugleich eng miteinander verflochten. Der Bund ist für die Verabschiedung des Infektionsschutzgesetzes zuständig. Zudem erhielt er bei der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite durch den Bundestag weitreichende Kompetenzen zur Eindämmung der Pandemie, die bis hin zu Grundrechtseinschränkungen reichen konnten. Die Länder sind für die öffentliche Gesundheit und für den öffentlichen Gesundheitsdienst sowie für die Sicherstellung der Krankenhausversorgung zuständig. Sie wirken an der Gesetzgebung des Bundes mit, sind zur Umsetzung der Bundesgesetze verpflichtet und haben aufgrund ihrer Zuständigkeit für die öffentliche Gesundheit zugleich erhebliche Gestaltungsspielräume.
Ob und inwiefern die föderale Kompetenzverteilung in der besonderen Situation einer Pandemie für ein effektives Krisenmanagement geeignet ist, wird kontrovers diskutiert. Befürworter weisen darauf hin, dass sich Bedrohungssituationen regional häufig voneinander unterscheiden und die föderale Zuständigkeit die Bundesländer in die Lage versetzt, an die regionalen Bedingungen angepasste Entscheidungen zu treffen. Kritiker verweisen zum einen auf die angesichts der Vielzahl von Interessen und unterschiedlicher Handlungsorientierungen langwierigen Abstimmungsprozesse zwischen Bund und Ländern mit ihren oft unzureichenden oder widersprüchlichen Ergebnissen. Zum anderen kritisieren sie, dass die föderalen Zuständigkeiten ein Nebeneinander unterschiedlicher Regelungen hervorbrachten und damit eine große Unübersichtlichkeit („Flickenteppich“) einhergegangen sei. Dass zudem selbst bei identischen oder ähnlichen Bedrohungslagen nicht selten sehr unterschiedliche Regelungen getroffen wurden (v. a. im Hinblick auf die Lockdowns, das Tragen von Mund-Nasen-Schutz und die Kontaktbeschränkungen), habe zudem nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlungen hervorgebracht. Dies habe die Akzeptanz von Regelungen durch die Bevölkerung untergraben (s. hierzu: Ostermeyer & Vierheilig, 2023).
Konsequenzen
Um das deutsche Gesundheitssystem besser auf derartige Ereignisse vorzubereiten, stellen sich vielfältige Aufgaben:
Der Öffentliche Gesundheitsdienst muss personell und technisch dauerhaft durchgreifend gestärkt werden.
Die Digitalisierung des Gesundheitssystems muss forciert werden, auch um die Akteure in Prävention und Krankenversorgung in die Lage zu versetzen, künftige Epidemien besser zu bewältigen.
Auf der lokalen und regionalen Ebene bedarf es der Entwicklung von Konzepten, die sich auf die Prävention bei vulnerablen Gruppen konzentrieren und dabei ein besonderes Gewicht auf die Verringerung der sozialen Ungleichheit von Gesundheitsrisiken legen.
Die Arbeitsbedingungen insbesondere in der Krankenhausversorgung und in der Langzeitpflege müssen erheblich verbessert werden, um die Attraktivität dieser Einrichtungen für qualifiziertes Personal zu erhöhen.
Die Verfügbarkeit über sachliche Ressourcen für die Bewältigung von Pandemien (Schutzausrüstungen, Laborkapazitäten, Arzneimittel) muss sichergestellt werden.
Es bedarf beim Eintritt von Pandemien klarer und schnell umsetzbarer Notfallpläne.
Die internationale, besonders die europaweite Koordination bei der Bekämpfung grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren muss intensiviert werden.