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Merkmale des deutschen Gesundheitssystems

Thomas Gerlinger

/ 12 Minuten zu lesen

Gesundheit und Krankheit sind Ergebnis einer unüberschaubaren Vielzahl von gesellschaftlichen und politischen Einflussfaktoren. Zu den Handlungsfeldern, die sich dem Gesundheitssystem zurechnen lassen, zählen neben der Gesundheitspolitik im engeren Sinne auch die Finanz-, Wirtschafts-, Sozial-, Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Verkehrs-, Wohnungspolitik und manche andere Politikfelder. Die Berücksichtigung dieser Zusammenhänge würde aber den Rahmen dieser Darstellung sprengen. Daher wird hier eine engere Definition von Gesundheitssystemen zu Grunde gelegt: Demzufolge ist ein Gesundheitssystem die Gesamtheit der Organisationen, Einrichtungen und Ressourcen, deren primärer Auftrag darin besteht, die Gesundheit von Individuen und der Bevölkerung zu verbessern, zu erhalten oder wiederherzustellen.

Gesundheitssysteme in reichen Gesellschaften sehen sich in dieser Zeit ähnlichen Problemen gegenüber. Dazu zählen die Ausgabenentwicklung, die Qualitätssicherung in der Versorgung und die Sicherung des Zugangs zu den Versorgungseinrichtungen. Allerdings werden diese Probleme in höchst unterschiedlichen Strukturen bearbeitet. Im Folgenden werden diejenigen Merkmale erörtert, die für das deutsche Gesundheitssystem kennzeichnend sind (s. zum Folgenden Gerlinger & Rosenbrock, 2024; Simon, 2021).

Föderale Organisation und Krankenversicherung

96. Gesundheitsministerkonferenz (GMK) im Jahr 2023 in Friedrichshafen. Die GMK dient dem Austausch und der Abstimmung der Gesundheitsminister/-innen von Bund und Ländern. (© Sozialministerium Baden-Württemberg)

Deutschland ist ein Föderalstaat: Bund und Länder haben auf bestimmten Politikfeldern je eigene Kompetenzen, auf anderen Gebieten ist ihr Handeln eng miteinander verflochten. Die föderale Organisation des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland spiegelt sich auch in der Gesundheitssystemgestaltung wider. Dabei unterscheidet sich die Verteilung der Befugnisse auf Bund und Länder in Abhängigkeit von den jeweiligen Handlungsfeldern der Gesundheitspolitik (Gerlinger & Rosenbrock, 2024). In vielen Fällen unterliegen Bundesgesetze auch in diesem Bereich der Zustimmungspflicht durch die Länder. Dies ist insbesondere dort der Fall, wo durch ein Bundesgesetz die Verwaltung der Länder berührt ist. Die Länder wirken also in vielen Bereichen an der Bundesgesetzgebung mit (s. Modul zur Interner Link: Regulierung).

Bund

Beim Bund liegt zunächst die Gesetzgebungskompetenz für eine Reihe grundsätzlich bedeutsamer Handlungsfelder der Prävention. Dazu zählen der Arbeitsschutz, der Infektionsschutz oder der gesundheitsbezogene Umweltschutz.

Ferner hat der Bund de facto die Gesetzgebungskompetenz für die Sozialversicherung (einschließlich der Krankenversicherung) inne. Dies ist für die Gesundheitspolitik von außerordentlich großer Bedeutung, weil fast die gesamte Bevölkerung Zugang zur Versorgung über eine Krankenversicherung erhält. Nach dem Grundgesetz unterliegt die Sozialversicherung zwar der konkurrierenden Gesetzgebung durch Bund und Länder. Demzufolge können beide hier gesetzgeberisch tätig werden. Wenn der Bund auf einzelnen Gebieten einen Sachverhalt geregelt hat, verlieren etwaige Bestimmungen von Bundesländern aber ihre Geltung. Da der Bund seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland von seinem Gesetzgebungsrecht in der Sozialversicherung umfassend Gebrauch gemacht hat, haben die Länder auf diesem Gebiet den Spielraum zur eigenständigen Rechtsetzung nach und nach eingebüßt. De facto wird also das Sozialversicherungsrecht und mit ihm das Krankenversicherungsrecht durch den Bund festgelegt.

Länder

Die Länder verfügen sowohl in der Prävention als auch in der Krankenversorgung über eine Reihe von Gestaltungskompetenzen. Auf dem Gebiet der Prävention verabschieden sie – jenseits der erwähnten Bundeszuständigkeiten – eigene Gesetze zur öffentlichen Gesundheit und zum öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD). In diesem Zusammenhang legen sie auch die Aufgaben der Gesundheitsämter fest, die in den Kommunen, also in den Städten, Landkreisen und Gemeinden, für Aufgaben der Prävention zuständig sind. Die Kommunen unterliegen bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben der Aufsicht durch die Länder. Die Kommunen setzen Bundes- und Landesrecht als Pflichtaufgaben um, haben darüber hinaus aber auch gewisse Spielräume zur eigenständigen Gestaltung der Gesundheitsförderung und Prävention vor Ort (Burgi, 2013; Böhm, 2017).

Ferner haben die Länder den Auftrag zur Sicherstellung der Krankenhausversorgung. Zu diesem Zweck stellen sie Landeskrankenhauspläne auf und entscheiden damit über die Standorte der so genannten Plankrankenhäuser. Dies sind diejenigen Krankenhäuser, die das Land als für die Deckung des Versorgungsbedarfs notwendig eingestuft hat. Zur Sicherstellung der Krankenhausversorgung zählt auch die Finanzierung der Krankenhausinvestitionen. Darunter fallen der Krankenhausbau, die Krankenhausinstandhaltung sowie die Krankenhauseinrichtung einschließlich der Anschaffung medizinischer Geräte.

Krankenversicherung

Die Krankenversorgung ist im Rahmen eines Krankenversicherungssystems organisiert. Im internationalen Gesundheitssystemvergleich wird das deutsche Gesundheitssystem als soziales Krankenversicherungssystem charakterisiert. Zentral für den Zugang zur Krankenversicherung ist nicht – wie vor allem in staatlichen Gesundheitssystemen – der Bürgerstatus, sondern ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis. Der Staat macht Rahmenvorgaben zur Organisation und Finanzierung der Krankenversorgung und delegiert Kompetenzen zur Umsetzung dieser Rahmenvorgaben an die Träger der Krankenversicherung. Hier sind vor allem Krankenkassen und ihre Verbände sowie die Verbände der Leistungserbringer (Kassenärztliche Vereinigungen, Krankenhausgesellschaften) von Bedeutung. Der Staat überwacht diese Akteure bei der Umsetzung und stellt dadurch sicher, dass diese sich in dem vorgegebenen Gesetzesrahmen bewegt.

Institutionelle Trennung von Prävention und Krankenversorgung

Ein wichtiges Merkmal des deutschen Gesundheitssystems ist die institutionelle Trennung von Prävention und Krankenversorgung. Während die Durchführung von präventiven Aufgaben bei staatlichen Institutionen liegt (s. Modul Interner Link: Gesundheitsförderung und Prävention), liegt die Organisation und Finanzierung der Krankenversorgung bei der gesetzlichen Krankenversicherung (s. Modul Interner Link: Versorgung). Eine wichtige Weichenstellung für diese Entwicklung war die Gründung der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 1883. Mit ihr wurde der Fokus der Gesundheitspolitik auf das Thema „Kompensation“ gelenkt. In anderen Ländern, z. B. in Schweden, sind Prävention und Krankenversorgung weit enger verzahnt als in Deutschland. Zwar sind seit 1989 die Krankenkassen auch mit Aufgaben der nichtmedizinischen Gesundheitsförderung und Prävention betraut, jedoch spielt dieses Handlungsfeld im Gesamtspektrum des Kassenhandelns nur eine sehr geringe Rolle. Die Koordination unterschiedlicher Akteure zählt zu den großen Herausforderungen der Gesundheitsförderungs- und Präventionspolitik (s. Modul Interner Link: Gesundheitsförderung und Prävention).

Freie Arztwahl – „doppelte Facharztschiene“ – Abschottung von Versorgungssektoren

Die Krankenversorgung ist gekennzeichnet durch das Recht der Versicherten auf eine freie Arztwahl. Sie schließt die Möglichkeit des direkten Zugangs zur fachärztlichen Versorgung ein. Die fachärztliche Versorgung ist nicht nur – wie in vielen anderen Gesundheitssystemen (Schölkopf & Grimmeisen, 2021) – am Krankenhaus angesiedelt, sondern wird auch durch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte sowie durch ambulante Medizinische Versorgungszentren (MVZ) angeboten. Diese Angebotsstruktur wird oft als „doppelte Facharztschiene“ bezeichnet. Die Versicherten können sich im Rahmen einer hausarztzentrierten Versorgung bei einem Hausarzt oder einer Hausärztin einschreiben und willigen in diesem Fall ein, eine fachärztliche Versorgung erst nach einer entsprechenden Verordnung in Anspruch zu nehmen. Die Teilnahme an diesem Versorgungsmodell ist aber freiwillig. Die Vertragsärztinnen und Vertragsärzte verfügen über ein weitgehendes Monopol zur ambulanten Behandlung von Kassenpatientinnen und -patienten. Die Krankenhäuser dürfen GKV-Versicherte nur in eng definierten Ausnahmefällen versorgen (s. Modul Interner Link: Versorgung). Insgesamt spielt die ambulante Versorgung am Krankenhaus im deutschen Gesundheitssystem – im Vergleich zu vielen anderen Gesundheitssystemen – nur eine sehr geringe Rolle (Schölkopf & Grimmeisen 2021). Die historisch gewachsene Zuweisung von Versorgungsbefugnissen hat zu einer ausgeprägten Abschottung von ambulanter und stationärer Versorgung geführt, deren Überwindung gesundheitspolitisch angestrebt wird, sich aber als sehr hürdenreich und langwierig erweist (Gerlinger & Rosenbrock, 2024).

Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung

Das Krankenversicherungssystem ist in eine soziale („gesetzliche“) und in eine private Krankenversicherung getrennt. Die private Krankenversicherung existiert in Deutschland nicht allein als eine Zusatzversicherung, sondern auch als eine substitutive Krankenversicherung („Krankheitsvollversicherung“). Die Mitgliedschaft in der privaten Krankenversicherung ersetzt also die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung (Böckmann, 2011). Mitglieder der privaten Krankenversicherung brauchen demzufolge auch keine Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung zu entrichten. Seit 2009 haben alle Bürgerinnen und Bürger, also auch Personen, die nicht Pflichtmitglieder in der gesetzlichen Krankenversicherung sind, in Deutschland die Pflicht, eine – gesetzliche oder private – Krankenversicherung abzuschließen. Für die Zuweisung zu einem der Systeme ist vor allem der berufliche Status, aber auch die Einkommenshöhe relevant. In der gesetzlichen Krankenversicherung sind rund 89 Prozent der Bevölkerung versichert. Für große Teile von ihnen ist die GKV eine Pflichtversicherung. Pflichtversichert in der GKV sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem Bruttojahresverdienst von (2024) bis zu 69.300 Euro (Jahresarbeitsentgeltgrenze bzw. Versicherungspflichtgrenze) bzw. 5.775 Euro pro Monat sowie Arbeitslose und einige weitere Gruppen. Die Jahresarbeitsentgeltgrenze wird jährlich durch eine Rechtsverordnung des Bundesministers für Arbeit und Soziales angepasst. Dabei orientiert sie sich an der allgemeinen Lohnentwicklung. Nicht erwerbstätige Familienangehörige (Kinder bis zu einem bestimmten Alter, nicht erwerbstätige Ehegatten) sind beitragsfrei mitversichert. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem Bruttoeinkommen oberhalb der Jahresarbeitsentgeltgrenze, Beamtinnen und Beamten sowie Selbständige können zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung wählen.

Gesetzliche Krankenversicherung

Beitragsfinanzierung

Die gesetzliche Krankenversicherung wird ganz überwiegend aus bruttolohnbezogenen Beiträgen finanziert, die zu gleichen Teilen von Versicherten und Arbeitgebern aufgebracht werden. Die Versicherten zahlen den jeweiligen Beitragssatz ihrer Krankenkasse, der sich zusammensetzt aus einem allgemeinen, bundeseinheitlichen Beitragssatz (14,6 %) und einem kassenspezifischen Zusatzbeitragssatz (Durchschnitt: 1,7 % – Stand: 2024). Die Beitragseinnahmen werden ergänzt um einen steuerfinanzierten Bundeszuschuss, der auf 14,5 Milliarden Euro festgeschrieben ist und damit rund 5 Prozent der GKV-Ausgaben ausmacht (s. Modul Interner Link: Ausgaben und Finanzierung). Dieser Bundeszuschuss wird als pauschale Abgeltung „versicherungsfremder Leistungen“ der GKV (wie der Familienversicherung) begründet.

Bedarfsprinzip und Wirtschaftlichkeitsgebot

In der GKV richtet sich der individuelle Leistungsanspruch der Versicherten nach dem jeweiligen Behandlungsbedarf (Bedarfsprinzip). Die Versicherten haben einen Anspruch auf alle Leistungen, die zur Behandlung der jeweiligen Erkrankung nach dem Stand des medizinischen Wissens notwendig sind. Dabei gilt das Wirtschaftlichkeitsgebot: Die Leistungen der Krankenversicherung „müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten“ (§ 12 Abs. 1 SGB V).

Solidarprinzip

Die Höhe der entrichteten Beiträge richtet sich nach dem Bruttoarbeitseinkommen. Versicherte mit einem höheren Arbeitseinkommen zahlen also höhere Beiträge als Versicherte mit einem geringeren Einkommen. Gleichzeitig ist der Rechtsanspruch auf Leistungen unabhängig von der Höhe der entrichteten Beiträge (Solidarprinzip) und richtet sich ausschließlich nach dem individuellen Versorgungsbedarf (s. o., Bedarfsprinzip und Wirtschaftlichkeitsgebot).

Sachleistungsprinzip

Der überwiegende Teil der GKV-Leistungen wird üblicherweise nach dem Sachleistungsprinzip erbracht. Die Leistungserbringer (Ärztinnen und Ärzte, Krankenhäuser etc.) werden demzufolge nicht von den Patientinnen und Patienten direkt bezahlt, sondern erhalten die Vergütung von den Krankenkassen.

Gegliederte Krankenversicherung – freie Kassenwahl – Kontrahierungszwang

Die GKV ist keine Einheitsversicherung, sondern wird von 95 Krankenkassen (Stand: 1. Januar 2024) getragen. Dieses System wird als „gegliederte Krankenversicherung“ bezeichnet. Die gesetzlich Krankenversicherten haben das Recht der freien Kassenwahl. Die gesetzlichen Krankenkassen dürfen beitrittswillige Versicherte nicht ablehnen („Kontrahierungszwang“).

Selbstverwaltung – verbandliche Steuerung – Kollektivverträge

Ein bedeutendes Merkmal der Regulierung in der gesetzlichen Krankenversicherung ist das Selbstverwaltungsprinzip. Dies bedeutet, dass der Staat – per Gesetz oder Verordnung – Rahmenregelungen vorgibt und gesellschaftliche Akteure mit der Umsetzung dieser Vorgaben betraut. Diese Akteure erhalten vom Staat zumeist den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts und unterliegen in ihren Entscheidungen der staatlichen Rechtsaufsicht. Dies bedeutet, dass der Staat überprüft, ob die Entscheidungen der Selbstverwaltung und deren Versorgungsverträge sich im geltenden Rechtsrahmen bewegen. „Selbstverwaltung“ beschreibt zum einen die soziale Selbstverwaltung der Krankenkassen und ihrer Verbände durch Arbeitgeber- und Versichertenvertreter. Sie entscheiden über Fragen, die für die Krankenkassen von grundlegender Bedeutung sind. Dazu zählen z. B. die Verabschiedung des Haushalts sowie die Festsetzung des Zusatzbeitrags und von Zusatzleistungen der Krankenkasse. Zum anderen ist mit „Selbstverwaltung“ die gemeinsame Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen gemeint. Der Staat weist ihnen und ihren Verbänden die Aufgabe zu, staatliche Vorgaben zu konkretisieren und stattet sie mit den entsprechenden Rechtsbefugnissen aus. Dabei spielen die Verbände der Ärzte und Krankenkassen eine herausragende Rolle. Sie handeln Versorgungsverträge aus und treffen in den vom Staat geschaffenen Gremien Entscheidungen über Versorgung und Vergütung. Da sie stellvertretend für ihre Mitglieder handeln und ihre Entscheidungen für diese bindend sind, wird dieses System auch als „korporatistisches“ oder „kollektivvertragliches“ Steuerungssystem bezeichnet. Wichtige Akteure der gemeinsamen Selbstverwaltung sind die Verbände der Krankenkassen, die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Krankenhausgesellschaften. Diese Verbände sind sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene organisiert.

Leistungskatalog

Der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung, also die Gesamtheit der Leistungen, auf welche die gesetzlich Versicherten im Krankheitsfall einen Anspruch haben, ist – auch im internationalen Vergleich – recht umfassend. Rund 95 Prozent der Leistungsausgaben in der GKV werden für Leistungen ausgegeben, zu deren Finanzierung die Krankenkassen gesetzlich verpflichtet sind („Regelleistungen“). Daneben können die Krankenkassen auch einige kassenspezifische Leistungen vorsehen („Satzungsleistungen“). Die GKV-Versicherten können Leistungen nicht individuell abwählen. Allerdings haben sie die Möglichkeit, sich für die Teilnahme an bestimmten Versorgungsprogrammen zu entscheiden (z.B. hausarztzentrierte Versorgung, strukturierte Behandlungsprogramme für chronisch Kranke – s. Modul Interner Link: Versorgung), und erhalten dafür von ihrer Krankenkasse einen Anreiz in Form eines besonderen Tarifs oder eines Bonus.

Private Krankenversicherung

Die private Krankenversicherung weist im Hinblick auf den Zugang, das Leistungsrecht und die Finanzierung grundsätzliche Unterschiede zur gesetzlichen Krankenversicherung auf (s. Module Interner Link: Versorgung, Interner Link: Regulierung sowie Interner Link: Ausgaben und Finanzierung). Sie steht, wie gezeigt, nur Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit einem Bruttoarbeitseinkommen oberhalb der Jahresentgeltgrenze (Versicherungspflichtgrenze), Beamtinnen und Beamten sowie Selbständigen offen. Diese Gruppen können selbst entscheiden, ob sie sich in der PKV oder als freiwillig Versicherte in der GKV versichern. Etwa 11 Prozent der Bevölkerung haben eine private Krankheitsvollversicherung. Daneben gibt es insgesamt knapp 30 Millionen Verträge über eine private Zusatzversicherung. Derartige Verträge beziehen sich zumeist auf die zahnärztliche Versorgung sowie auf den Zugang zu einem 1-Bett-Zimmer und zur Chefarztbehandlung im Krankenhaus.

Ausgaben

Deutschland zählt zu den teuersten Gesundheitssystemen der Welt. Im Jahr 2022 machten die gesamten Gesundheitsausgaben 12,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus. Sie beliefen sich in diesem Jahr auf gut 498 Milliarden Euro, dies entsprach Pro-Kopf-Ausgaben in Höhe von 5.939 Euro (Statistisches Bundesamt, 2024; s. Modul Interner Link: Ausgaben und Finanzierung). Mehr als die Hälfte der Ausgaben entfallen auf die gesetzliche Krankenversicherung und insgesamt mehr als zwei Drittel auf alle Sozialversicherungsträger zusammen. Darin kommt zum Ausdruck, dass der deutsche Sozialstaat vor allem ein Sozialversicherungsstaat ist.

Geschichtliche Entwicklung

Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter, veröffentlicht im Reichs-Gesetzblatt von 1883 (© Wikimedia)

Die gesetzliche Krankenversicherung wurde 1883 mit dem „Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter“ ins Leben gerufen. Das Deutsche Reich war damit der erste Staat, der ein landesweites soziales Sicherungssystem für den Krankheitsfall schuf (Ritter, 1991). Das Krankenversicherungsgesetz war Teil der in den 1880er-Jahren verabschiedeten bismarck’schen Sozialgesetzgebung. Mit ihr machten die politischen Eliten des Kaiserreichs der Arbeiterbewegung soziale Zugeständnisse, um die protestierenden Gruppen in das bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu integrieren (Ritter & Tenfelde, 1992). Wichtige Merkmale des damaligen Krankenversicherungsgesetzes sind auch heute noch im deutschen Krankenversicherungssystem anzutreffen. Dazu zählen das System der gegliederten Krankenversicherung, der Grundsatz der Beitragsfinanzierung und die Selbstverwaltung der Krankenkassen durch Arbeitgeber und Versicherte.

In ihren Anfangsjahren erfasste die gesetzliche Krankenversicherung nur gut 10 Prozent der Bevölkerung. Die Krankenkassen leisteten in dieser Zeit überwiegend Barzahlungen an die Versicherten, mit denen diese einen Teil der Krankenbehandlung finanzierten und für den Lohnausfall bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit entschädigt wurden (Geldleistungen) (Tennstedt, 1976). Die seitherige Entwicklung der GKV ist durch eine beständige Ausweitung des Versichertenkreises und eine beständige Ausweitung des Leistungskatalogs gekennzeichnet. Sie wird auch als „doppelte Inklusion“ bezeichnet (Alber, 1992).

Im ersten Jahrzehnt nach Gründung der GKV beschränkte sich der geschützte Personenkreis auf einen kleinen Kreis von Industriearbeitern und Handwerksgesellen. Bald wurden weitere Arbeitnehmergruppen, vor allem Angestellte und Landarbeiter, und deren Familienangehörige aufgenommen (Reidegeld, 2006a). 1941 erhielten auch Rentner einen Rechtsanspruch auf Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Schließlich wurde die Erweiterung des versicherten Personenkreises bis Mitte der 1970er-Jahre mit der Aufnahme von Landwirten, Behinderten, Studierenden und Künstlern abgeschlossen. Seither erstreckt sich die gesetzliche Krankenversicherung – bei geringen Schwankungen – auf knapp 90 Prozent der Bevölkerung.

Auch das Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenversicherung wurde seit ihrer Gründung enorm erweitert. Mit dem medizinischen Fortschritt rückten nach der anfänglichen Dominanz von Geldleistungen schon bald die Sachleistungen in den Vordergrund. Heute haben die Versicherten einen umfassenden Rechtsanspruch auf alle Maßnahmen, die zur Behandlung ihrer Krankheit medizinisch notwendig sind (§§ 12 u. 27 SGB V). Darin eingeschlossen sind die ambulante und stationäre Krankenbehandlung, die Arzneimittel- sowie die Heil- und Hilfsmittelversorgung. Auch weitete sich das Spektrum der als behandlungsbedürftig anerkannten Krankheiten erheblich aus, wie z. B. die Aufnahme von Psychotherapien in den Leistungskatalog zeigt. Neben den kurativen Leistungen umfasst der Leistungskatalog heute auch Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention sowie der Rehabilitation. Ferner finanzieren die Krankenkassen auch die medizinische Versorgung bei Schwangerschaft und Mutterschaft und übernehmen Geldleistungen (Krankengeld, Mutterschaftsgeld). In den 2020er-Jahren umfasst der Leistungskatalog beinahe das gesamte Spektrum von Gesundheitsleistungen.

Auch der institutionelle Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung wandelte sich seit ihrer Gründung trotz mancher Kontinuitätselemente erheblich. Die soziale Selbstverwaltung der Krankenkassen wurde nach und nach um die gemeinsame Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen ergänzt (Tennstedt, 1983). Ein Meilenstein auf diesem Weg war die Gründung der Kassenärztlichen Vereinigungen im Jahr 1931, mit der die Errichtung eines Kollektivvertragssystems in der kassenärztlichen Versorgung abgeschlossen wurde (Tennstedt, 1977).

In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Selbstverwaltung zerschlagen und dem Führerprinzip unterworfen (Reidegeld, 2006b). In den Nachkriegsjahren knüpfte die Bundesrepublik Deutschland an die vor dem Nationalsozialismus entwickelten Strukturen an (Hockerts, 1980), während in der Deutschen Demokratischen Republik eine staatlich gelenkte Einheitsversicherung entstand. Der Vertrag über die deutsche Einheit aus dem Jahr 1990 übertrug die in der Bundesrepublik entwickelten Strukturen auf die neuen Bundesländer. In den 1990er- und frühen 2000er-Jahren folgten Strukturreformen der gesetzlichen Krankenversicherung, allen voran die Einführung der freien Kassenwahl (1996) und die Gründung des Gemeinsamen Bundesausschusses, mit der kollektivvertragliche Verhandlungs- und Entscheidungsstrukturen von der ambulanten Versorgung auf andere Versorgungsbereiche übertragen wurden (Gerlinger & Rosenbrock, 2024).

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Wie lässt sich die Rolle der gesetzlichen Krankenversicherung im deutschen Gesundheitssystem am besten charakterisieren?

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Richtige Antwort: Die gesetzliche Krankenversicherung füllt den vom Staat gesetzten Ordnungsrahmen mit Versorgungsverträgen und mit eigenständigen Entscheidungen in dafür vorgesehenen Gremien aus.

Wer setzt den Rechtsrahmen für die Organisation der gesetzlichen Krankenversicherung?

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Welche der nachgenannten Gruppen haben keinen Zugang zur privaten Krankenversicherung?

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Richtige Antwort: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem Arbeitseinkommen unterhalb der Versicherungspflichtgrenze.

Quellen / Literatur

Alber, Jens (1992). Das Gesundheitswesen der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklung, Struktur und Funktionsweise. Frankfurt a.M./New York: Campus.

Böckmann, Roman (2011). Quo vadis, PKV? Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Böhm, Katharina (2017). Kommunale Gesundheitsförderung und Prävention. Elemente, Potentiale und Hemmnisse einer präventiven und gesundheitsförderlichen kommunalen Gesundheitspolitik. Zeitschrift für Sozialreform, 63 (2): 275-299.

Burgi, Martin (2013). Kommunale Verantwortung und Regionalisierung von Strukturelementen in der Gesundheitsversorgung. Baden-Baden: Nomos.

Gerlinger, Thomas & Rosenbrock, Rolf (2024). Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung, 4., überarb. u. erw. Aufl. Bern: Hogrefe.

Hockerts, Hans Günter (1980). Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Stuttgart: Klett- Cotta.

Reidegeld, Eckart (2006a). Staatliche Sozialpolitik in Deutschland, Bd. I: Von den Ursprüngen bis zum Untergang des Kaiserreiches 1918. 2., überarb. u. erw. Aufl. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Reidegeld, Eckart (2006b). Staatliche Sozialpolitik in Deutschland, Bd. II: Sozialpolitik in Demokratie und Diktatur 1919-1945. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Ritter, Gerhard A. (1991). Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich. München: R. Oldenbourg Verlag.

Ritter, Gerhard A. & Tenfelde, Klaus (1992). Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914. Bonn: J.H.W. Dietz Nachf.

Schölkopf, Martin & Grimmeisen, Simone (2021). Das Gesundheitswesen im internationalen Vergleich. Gesundheitssystemvergleich und europäische Gesundheitspolitik, 4., aktualis. u. überarb. Aufl. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.

Simon, Michael, (2021). Das Gesundheitssystem in Deutschland. Eine Einführung in Struktur und Funktionsweise. 7., überarb. u. erw. Aufl. Bern: Hogrefe.

Statistisches Bundesamt (2024). Gesundheitsausgaben. Externer Link: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Gesundheitsausgaben/_inhalt.html

Tennstedt, Florian (1976): Sozialgeschichte der Sozialversicherung In Maria Blohmke, Christian von Ferber & Karl P. Kisker (Hrsg.), Handbuch der Sozialmedizin, Bd. III: Sozialmedizin in der Praxis. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag, S. 385-492.

Tennstedt, Florian (1977). Soziale Selbstverwaltung, Bd. 2: Geschichte der Selbstverwaltung in der Krankenversicherung. Bonn: Verlag der Ortskrankenkassen.

Tennstedt, Florian (1983). Vom Proleten zum Industriearbeiter. Arbeiterbewegung und Sozialpolitik in Deutschland 1890 – 1914. Köln: Bund-Verlag

Fussnoten

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ist Professor an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld und leitet dort die Arbeitsgruppe "Gesundheitssysteme, Gesundheitspolitik und Gesundheitssoziologie". E-Mail Link: thomas.gerlinger@uni-bielefeld.de