Die Pflegeversicherung und die Langzeitpflege sehen sich großen Problemen gegenüber. Zwei dieser Probleme, die eng miteinander verknüpft sind, sollen im Folgenden erörtert werden:
der Fachkräftemangel in der Langzeitpflege, der häufig auch als „Pflegenotstand“ bezeichnet wird;
der in den letzten Jahren deutlich gestiegene Eigenanteil von Pflegebedürftigen.
1. Fachkräftemangel in der Pflege
Trotz steigender Beschäftigtenzahlen ist die Langzeitpflege bekanntlich schon seit langer Zeit mit einem eklatanten Fachkräftemangel konfrontiert. Die Pflege durch Fachkräfte wird in den kommenden Jahren voraussichtlich weiter an Bedeutung gewinnen, denn der wachsende Pflegebedarf (s. Artikel
die wachsende Zahl pflegebedürftiger Menschen bei einem gleichzeitigen Rückgang der Zahl von Menschen im erwerbsfähigen Alter;
die (weitere) Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit,
die hohe und vermutlich weiterwachsende Zahl von 1-Personen-Haushalten,
die in den letzten Jahrzehnten gestiegenen Flexibilitätserwartungen in der Arbeitswelt.
Die Verfügbarkeit einer angemessenen Zahl von Pflegefachkräften ist für die Gewährleistung der pflegerischen Versorgung von herausragender Bedeutung. Aus den oben genannten Gründen muss für die nächsten Jahre eine Zuspitzung des Fachkräftemangels befürchtet werden. Der zukünftige Bedarf und das zukünftige Angebot an Pflegekräften lassen sich zwar nicht zuverlässig abschätzen (Sell 2020), aber es herrscht eine breite Übereinstimmung, dass Pflegefachkräfte in ganz erheblichem Umfang fehlen werden. Prognosen für das Jahr 2030 beziffern ie Versorgungslücke auf gut 260.000, manche sogar auf 500.000 Vollzeitarbeitskräfte, wenn die Politik keine geeigneten Gegenmaßnahmen ergreift (Rothgang et al. 2012: 51-55; Radtke 2020). Dabei dürfte der Mangel an Pflegekräften regional und lokal unterschiedlich ausfallen (Rothgang et al. 2012).
Zu den wichtigsten Ursachen des Fachkräftemangels zählen die schlechten Arbeitsbedingungen und die geringe Bezahlung in der Langzeitpflege. Aussagekräftige Befunde über die Arbeitsbedingungen liegen seit vielen Jahren vor (z.B. Hasselhorn et al. 2005). Demzufolge sind die Beschäftigten hohen körperlichen und psychischen Belastungen ausgesetzt. Die Gründe für diese Belastungen sind vielfältig (Schmucker 2020):
Die Arbeitsverdichtung ist hoch und wird durch den Personalmangel häufig noch verstärkt.
Die Lage der Arbeitszeiten ist wegen der unvermeidlichen Schicht-, Nacht- und Wochenendarbeit ungünstig.
Häufiges Heben und Tragen belastet den Stütz- und Bewegungsapparat.
Die Konfrontation mit dem Leid der Betroffenen und die gleichzeitig starke Motivation der Beschäftigten, anderen zu helfen, begünstigen eine übermäßige Verausgabung von Arbeitskraft.
Aus einer jüngeren repräsentativen Befragung von Pflegekräften, die im Auftrag des vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) getragenen „Index Gute Arbeit“ durchgeführt wurde, gehen die Belastungen in der Langzeitpflege hervor. Demnach gaben Pflegefachkräfte an, dass sie oft oder sehr oft u.a. folgenden Belastungen bei der Arbeit ausgesetzt seien (Schmucker 2020):
69 Prozent arbeiten unter Zeitdruck (alle Beschäftigten: 56 %),
78 Prozent nehmen eine starke körperliche Belastung wahr (alle Beschäftigten: 30 %),
42 Prozent mussten Abstriche an der Qualität ihrer Arbeit machen (alle Beschäftigten: 22 %).
In den letzten Jahren hat der Gesetzgeber seine Bemühungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege verstärkt:
Im Jahr 2018 verständigten sich das Bundesgesundheits-, das Bundesarbeits- und das Bundesfamilienministerium auf ein Sofortprogramm, mit dem 13.000 zusätzliche Stellen in der Langzeitpflege geschaffen werden sollten. Diese Stellen werden von den Krankenkassen finanziert.
Die Kosten für die Vergütung von Auszubildenden in der stationären Pflege werden im ersten Jahr von den Krankenkassen getragen, nicht wie zuvor vom Pflegeheim oder von den Auszubildenden selbst. Damit soll der Anreiz für die Schaffung und Besetzung von Ausbildungsstellen in der Langzeitpflege gestärkt werden.
Um die Arbeitsbedingungen in Pflegeheimen zu verbessern, sollen die Krankenkassen zusätzliche Maßnahmen auf dem Gebiet der betrieblichen Gesundheitsförderung ergreifen.
Schließlich ist mit der schrittweisen Einführung eines Personalbemessungsverfahrens in Pflegeheimen begonnen werden. Dabei handelt es sich um ein Instrument, mit dem eine angemessene Personalausstattung erreicht werden soll.
Den hohen Arbeitsbelastungen stehen vergleichsweise geringe Arbeitseinkommen gegenüber (Bogai 2017). Im Dezember 2020 belief sich das durchschnittliche Bruttoarbeitseinkommen einer Fachkraft in der Altenpflege auf 3.174 Euro pro Monat und das einer Pflegehelferin bzw. eines Pflegehelfers auf 2.241 Euro. Die Einkommen aller Fachkräfte auf der jeweiligen Qualifikationsstufe betrugen Durchschnitt aller Fachkräfte: 3.166 Euro bzw. 2.357 Euro (Carstensen et al. 2021: 3). Dabei sind die Einkommen in der Altenpflege in den letzten Jahren – ausgehend von einem sehr niedrigen Niveau – überdurchschnittlich stark gestiegen (Carstensen et al. 2021). Dieser Anstieg geht vor allem auf Interventionen des Gesetzgebers zurück, insbesondere auf die Erhöhung der Mindestlöhne. Im September 2022 wurden sie für Fachkräfte auf 17,10 Euro pro Stunde angehoben (zuvor: 15,40 Euro), für qualifizierte Pflegehilfskräfte auf 14,60 Euro (zuvor: 13,20 Euro) und für Pflegehilfskräfte auf 13,70 Euro (zuvor: 12,55 Euro).
Zudem verfolgt der Gesetzgeber das Ziel, die Tarifbindung im Pflegesektor zu erhöhen. Im Jahr 2018 zahlten nur rund 40 Prozent der Pflegeheime und 26 Prozent der ambulanten Pflegedienste die tariflich vereinbarten Löhne (Bundesagentur für Arbeit 2021: 8), die selbst dringend erhöht werden müssten. Vor diesem Hintergrund sieht das 2021 verabschiedete „Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung“ vor, dass die Pflegekassen ab September 2022 neue Versorgungsverträge nur noch mit Einrichtungen abschließen dürfen, die ihre Beschäftigten nach Tarifverträgen oder mindestens in vergleichbarer Höhe bezahlen (§ 72 Abs. 3a u. 3b SGB XI). Die schwache Tarifbindung steht im Zusammenhang mit dem niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrad in der Langzeitpflege und ist Ausdruck der geringen Organisations- und politischen Handlungsfähigkeit der Langzeitpflegekräfte insgesamt. Zudem ist der Widerstand der Träger von Pflegeeinrichtungen gegen die Übernahme von Tariflöhnen, auch angesichts des insgesamt restriktiven Finanzrahmens der Pflegeversicherung, sehr stark. Das Bundesministerium für Gesundheit für Gesundheit geht davon aus, dass die Gehaltssteigerungen zwischen 10 und 30 Prozent liegen werden (BMG 2022a).
Außerdem verstärkte die Bundesregierung in den letzten Jahren ihre Anstrengungen, ausländische Arbeitskräfte für die Pflege zu rekrutieren, vornehmlich aus Südosteuropa und Asien (Kordes 2019). In diesem Zusammenhang wurden 2019 Vereinbarungen mit Mexiko, den Philippinen und dem Kosovo geschlossen. Außerdem soll die „Deutsche Fachkräfteagentur für Gesundheits- und Pflegeberufe” Pflegeeinrichtungen bei ihren Bemühungen zur Anwerbung von Pflegekräften aus dem Ausland unterstützen. Die Versuche zur Rekrutierung ausländischer Pflegekräfte werden aber wohl nur einen kleinen Beitrag zur Lösung des Problems leisten (Sell 2020). Zudem ist die Abwerbung auch unter ethischen Gesichtspunkten problematisch, denn das wohlhabende Deutschland entzieht damit ärmeren Ländern qualifizierte Pflegekräfte, die in ihren Heimatländern ausgebildet wurden und dort in der Regel dringend gebraucht werden.
Die genannten Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und zur Erhöhung der Löhne und Gehälter in der Langzeitpflege weisen in die richtige Richtung, dürften aber bei weitem nicht ausreichen, um den Fachkräftemangel zu überwinden. So sind die Einkommen bei weitem noch nicht hoch genug, um die Attraktivität des Pflegeberufs spürbar zu steigern. Trotz der genannten Verbesserungen bleiben Tempo und Reichweite der in den letzten Jahren beschlossenen Maßnahmen deutlich hinter den Erfordernissen zurück.
Angesichts der Arbeitsbedingungen und der unzureichenden Vergütung ist der Pflegeberuf unattraktiv, die Arbeitszufriedenheit gering, die Fluktuation zwischen den Einrichtungen hoch sowie der vorzeitige Berufsausstieg oder der Gedanke daran weit verbreitet (Isfort et al. 2018; Schmucker 2020). Zudem wirken sich die schlechten Arbeitsbedingungen negativ auf die Pflegequalität aus (Isfort et al. 2018). Notwendig sind eine wirklich weitreichende Verbesserung der Arbeitsbedingungen und eine noch deutlich stärkere Erhöhung der Arbeitseinkommen.
2. Finanzierung der Pflegekosten: Steigende Eigenanteile und Abhängigkeit von der Sozialhilfe
Neben dem Fachkräftemangel sind die zum Teil hohen Eigenanteile der Pflegebedürftigen ein wachsendes Problem. Insgesamt sind die Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung seit ihrer Gründung kräftig gestiegen (s. Tabelle 1). Die wichtigsten Gründe liegen in der steigenden Zahl der Pflegebedürftigen und in den Leistungsverbesserungen der letzten Jahre (s. Artikel