1. Nebeneinander von sozialer und privater Pflegeversicherung
Die Organisation der Pflegeversicherung lehnt sich eng an die Organisation der Krankenversicherung an, weist aber auch eine Reihe von Besonderheiten auf. Die Pflegeversicherung ist wie die Krankenversicherung eine Pflichtversicherung und wie die Krankenversicherung in eine gesetzliche („soziale“) und eine private Pflegeversicherung getrennt. Die Zuordnung der Versicherten zu einer der beiden Versicherungsarten und ihre Wahlmöglichkeiten ergeben sich aus den dort geltenden Regeln. Dies wird mit dem Grundsatz „Pflegeversicherung folgt Krankenversicherung“ bezeichnet. Demnach sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem Bruttoarbeitseinkommen unterhalb der Versicherungspflichtgrenze (s.u., Punkt 2) sowie Arbeitslose Pflichtmitglieder in der sozialen Pflegeversicherung. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem höheren Einkommen sowie Beamtinnen und Beamte und Selbständige haben Zugang zur privaten Pflegeversicherung.
Vom Grundsatz „Pflegeversicherung folgt Krankenversicherung“ sind nur sehr wenige Ausnahmen möglich (s.u.). Für den versicherten Personenkreis bedeutet dies:
Alle Pflichtmitglieder der GKV sind automatisch in der gesetzlichen Pflegeversicherung versichert (§ 20 Abs. 1 SGB XI). Wie in der Krankenversicherung sind nicht erwerbstätige Ehegatten sowie Kinder bis zum vollendeten 18. Lebensjahr (bei Schul- und Berufsausbildung bis zum vollendeten 25. Lebensjahr) dort beitragsfrei mitversichert (§ 25 SGB XI).
Auch die freiwilligen Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung unterliegen einer Versicherungspflicht in der sozialen Pflegeversicherung (§ 20 Abs. 3 SGB XI). Allerdings können sie unter bestimmten Umständen auf Antrag von der Versicherungspflicht in der sozialen Pflegeversicherung befreit werden. Sie müssen dann nachweisen, dass sie und ihre Angehörigen, die in der sozialen Pflegeversicherung im Rahmen der Familienversicherung beitragsfrei mitversichert wären, einen privaten Pflegeversicherungsvertrag abgeschlossen haben. Die darin vereinbarten Leistungen müssen „nach Art und Umfang den Leistungen“ der sozialen Pflegeversicherung gleichwertig sein (§ 22 Abs. 1 SGB XI). Die freiwilligen Mitglieder müssen solch einen Antrag spätestens drei Monate nach Beginn der Versicherungspflicht bei der Pflegekasse zu stellen (§ 22 Abs. 2 SGB XI).
Die Personen mit einer privaten Krankenversicherung sind verpflichtet, auch eine private Pflegeversicherung abzuschließen (§ 23 SGB XI). Hier muss für jede einzelne Person, also auch für nichterwerbstätige Familienmitglieder, ein eigener Versicherungsvertrag abgeschlossen werden.
Ende 2021 waren rund 73,5 Millionen Personen in der sozialen Pflegeversicherung versichert und Ende 2020 rund 9,2 Millionen in der privaten Pflegversicherung (BMG 2022a: 1).
Soziale Pflegeversicherung
Die soziale Pflegeversicherung wurde unter dem Dach der gesetzlichen Krankenversicherung eingerichtet (§ 46 SGB XI). Jede Krankenkasse bildet also eine Pflegekasse (§ 46 Abs. 1 SGB XI). Diese organisatorische Anbindung bedeutet, dass die Pflegekassen weder über eigenständige Organe noch über eigenes Verwaltungspersonal verfügen. Ihre Aufgaben und Kompetenzen werden vielmehr von den Organen und dem Verwaltungspersonal der Krankenkasse wahrgenommen, bei der sie eingerichtet sind. Die Pflegekassen sind ebenso wie die Krankenkassen selbständige Körperschaften öffentlichen Rechts und nach dem Grundsatz der Selbstverwaltung organisiert (§ 46 Abs. 2 SGB XI). Der Gesetzgeber hat den Pflegekassen den Sicherstellungsauftrag für eine bedarfsgerechte Versorgung der Leistungsempfänger in der sozialen Pflegeversicherung zugewiesen. In Erfüllung dieses Auftrags schließen sie Versorgungsverträge und Vergütungsvereinbarungen mit den Trägern von ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen (s. Artikel
Private Pflegepflichtversicherung
Privat Krankenversicherte müssen auch eine private Pflegepflichtversicherung abschließen. Mit dieser Bestimmung verpflichtete der Gesetzgeber bei der Schaffung der Pflegeversicherung die private Krankenversicherung erstmals darauf, sich an der Absicherung eines Lebensrisikos zu beteiligen. Dabei haben die privaten Versicherungsunternehmen staatliche Vorschriften zum Leistungsrecht und zur Finanzierung zu beachten, die deutlich enger gefasst sind als in der privaten Krankenversicherung:
Die Leistungen in der privaten Pflegeversicherung sind mit denen in der sozialen Pflegeversicherung identisch. Ein Leistungsausschluss ist nicht gestattet.
Die privaten Krankenversicherer müssen jede beitrittswillige Person aufnehmen, können also niemandem die Pflegepflichtversicherung verweigern („Kontrahierungszwang“).
Die Versicherungsprämie darf den monatlichen Höchstbeitrag in der sozialen Pflegeversicherung nicht überschreiten.
2. Finanzierung der Pflegeversicherung
Die Finanzierung der sozialen und der privaten Pflegeversicherung folgt unterschiedlichen Regeln.
Soziale Pflegeversicherung
Die Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung werden ganz überwiegend durch die Beiträge der Mitglieder gedeckt. Die Beitragshöhe richtet sich nach dem beitragspflichtigen Bruttoeinkommen des Mitglieds. Die Leistungsansprüche in der Pflegeversicherung sind unabhängig von den gezahlten Beiträgen. Geringverdiener erhalten je nach individueller Pflegebedürftigkeit also dieselben Leistungen wie Besserverdienende. Dies ist ein wesentliches Merkmal des Solidarprinzips in der Pflegeversicherung.
Die Beitragssätze für die soziale Pflegeversicherung werden vom Gesetzgeber festgelegt und sind für alle Pflegekassen gleich. Sie werden zu gleichen Teilen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern entrichtet. Im Jahr 2023 beträgt der Beitragssatz 3,05 Prozent. Kinderlose Versicherte ab dem Alter von 23 Jahren müssen einen erhöhten Beitragssatz von 3,40 Prozent. Diese Unterscheidung geht auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2001 zurück. Im Jahr 2022 hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber zudem aufgetragen, bei der Bemessung der Beitragshöhe künftig auch die Zahl der Kinder zu berücksichtigen. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem Einkommen unterhalb der Geringfügigkeitsgrenze (seit 2022: 520 Euro pro Monat) zahlen keine Beiträge. In der sozialen Pflegeversicherung gilt das Umlageverfahren: Die laufenden Ausgaben eines Jahres werden aus den laufenden Einnahmen finanziert.
Jährlich legt die Bundesregierung für das kommende Jahr eine Versicherungspflichtgrenze und eine Beitragsbemessungsgrenze fest. Die Versicherungspflichtgrenze (auch: Jahresarbeitsentgeltgrenze) bezeichnet jenes Bruttoarbeitseinkommen, bis zu dem die betreffenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der gesetzlichen Krankenversicherung (und damit auch in der sozialen Pflegeversicherung, s.o., Punkt 1)) pflichtversichert sind. Sie beträgt im Jahr 2023 66.600 Euro im Jahr (monatlich 5.550,00 Euro pro Monat). Erst bei einem Einkommen oberhalb dieses Betrags kann das Mitglied (mit seinen nicht erwerbstätigen Familienangehörigen) in die private Krankenversicherung (und damit auch in die private Pflegeversicherung) wechseln.
Die Beitragsbemessungsgrenze bezeichnet jene Einkommenshöhe, von der höchstens die Versicherungsbeiträge zu berechnet werden. Im Jahr 2023 belief sie sich auf 59.850 Euro im Jahr (monatlich 4.987,50 Euro pro Monat). Ein Mitglied in der sozialen Pflegeversicherung zahlt also höchstens einen monatlichen Beitrag von 152,12 Euro (Kinderlose: 169,58 Euro). Bei einem höheren Einkommen sinkt die relative Belastung mit Beiträgen zur Pflegeversicherung also in dem Maße, wie das Einkommen steigt („regressive Belastung“). Die Beitragsbemessungsgrenze soll dazu beitragen, die Attraktivität der sozialen Pflegeversicherung für Besserverdienende durch eine Begrenzung der Beitragshöhe zu bewahren, und damit deren Abwanderung in die private Pflegeversicherung entgegenwirken. Sie bringt aber das Problem mit sich, dass sie Besserverdienende in der sozialen Pflegeversicherung im Vergleich zu Geringverdienern begünstigt und damit im Widerspruch zum Solidarprinzip steht (Gerlinger & Rosenbrock 2023).
Bis Ende 2021 wurde die soziale Pflegeversicherung sogar ausschließlich durch Versichertenbeiträge finanziert. Dies änderte sich erst mit Wirkung von 2022 an, als eine Finanzierungsreform der damaligen Großen Koalition in Kraft trat. Sie sollte die Finanzlücken der sozialen Pflegeversicherung schließen, die im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie aufgetreten waren. Im Rahmen dieser Reform wurde ab 2022 ein jährlicher steuerfinanzierter Bundeszuschuss in Höhe von 1 Milliarde Euro für die soziale Pflegeversicherung – bei Gesamtausgaben im Jahr 2021 von knapp 54 Milliarden Euro (BMG 2022b: 2) – eingeführt (Gerlinger 2021).
Private Pflegepflichtversicherung
Im Unterschied zur sozialen Pflegeversicherung spielt das Einkommen bei der Beitragsbemessung in der privaten Pflegevesicherung keine Rolle. Hier richtet sich die Beitragsbemessung nach dem Gesundheitszustand des Versicherten und nach seinem Alter beim Eintritt in die Pflegepflichtversicherung. Die Beiträge in der privaten Pflegepflichtversicherung werden vom Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV-Verband) auf der Grundlage der Leistungs- und Kostenmeldungen der PKV-Unternehmen für ihre Versicherten kalkuliert. Dies ist möglich, weil die Leistungen vom Gesetzgeber einheitlich und abschließend festgelegt werden (PKV-Verband 2019: 5). Allerdings darf die Beitragshöhe für die Versicherten den Höchstbeitrag in der sozialen Pflegepflichtversicherung nicht überschreiten, sofern die Versicherten seit mindestens fünf Jahren eine private Pflegepflichtversicherung haben (PKV-Verband 2019: 6). Der Höchstbetrag beläuft sich 2023 für Versicherte ohne Beihilfeanspruch 152,12 Euro. Da in der privaten Pflegepflichtversicherung Altersrückstellungen – also Aufschläge auf den berechneten Beitrag, die dessen Anstieg im Alter dämpfen sollen –, erhoben werden, gilt hier der erhöhte Beitrag für kinderlose Versicherte nicht (PKV-Verband 2019: 6). Der Arbeitgeberzuschuss zur privaten Pflegepflichtversicherung für abhängig Beschäftigte beläuft sich auf die Hälfte des in der sozialen Pflegeversicherung fälligen Beitrags, höchstens aber auf die Hälfte des dort zu zahlenden Höchstsatzes. Der maximale Zuschuss beträgt im Jahr 2023 76,06 Euro Euro pro Monat. Beamtinnen und Beamte erhalten im Allgemeinen 50 Prozent des Beitrags als Beihilfe von ihrem Dienstherrn.
Staatlich geförderte private Pflegezusatzversicherungen („Pflege-Bahr“)
2013 hatte die damalige konservativ-liberale Regierungsmehrheit die staatliche Förderung einer freiwilligen privaten Pflegezusatzversicherung eingeführt. Sie wurde nach dem damaligen Bundesgesundheitsminister, Daniel Bahr, benannt („Pflege-Bahr“). Bei dieser Versicherung wird die Zahlung eines Tagegelds im Fall der Pflegebedürftigkeit vereinbart. Versicherte erhalten einen steuerfinanzierten Zuschuss von 5 Euro pro Monat, wenn sie eine durchschnittliche Monatsprämie von mindestens 10 Euro für die private Zusatzversicherung zahlen (§ 127 Abs. 1 SGB XI). Dieser Versicherungstyp muss bestimmte Bedingungen erfüllen:
Risikozuschläge und Leistungsausschlüsse sind nicht erlaubt, allerdings können die Versicherer die Prämien in Abhängigkeit vom Alter differenzieren.
Die Versicherer dürfen keinen Antragsteller aufgrund möglicher gesundheitlicher Risiken ablehnen.
Die Versicherung muss im Pflegefall für jeden Pflegegrad individuelle Leistungen umfassen, bei Pflegegrad 5 monatlich mindestens 600 Euro.
Dabei können die Versicherungsunternehmen für die Pflegezusatzversicherung eine Karenzzeit von bis zu fünf Jahren bis zum Beginn des Leistungsanspruchs vorsehen (§ 127 Abs. 2 SGB XI). Im Jahr 2020 hatten rund 921.000 Personen das Angebot einer staatlich geförderten privaten Pflegezusatzversicherung wahrgenommen (PKV-Verband 2021).
Die Einführung dieser staatlich geförderten privaten Pflegezusatzversicherung wurde kontrovers beurteilt. Befürworter bewerteten sie als eine vorausschauende Maßnahme, die helfe, künftige Belastungen durch Pflegebedürftigkeit abzufedern. Kritiker sahen in ihr eine Abkehr von den Grundsätzen der solidarischen Beitragsfinanzierung, die zudem kaum einen Nutzen bringe: Die Höhe der Versicherungsprämie ist unabhängig vom Einkommen, kann nach dem Alter differenziert werden und wird ausschließlich vom Versicherten aufgebracht. Zudem sind nicht erwerbstätige Familienmitglieder nicht beitragsfrei mitversichert. Zudem sei auch der Nutzen des „Pflege-Bahr“ zu bezweifeln, u.a. weil die gesetzlichen Mindestvorschriften zum Leistungsumfang nur den Pflegegrad 5, nicht aber die anderen Pflegegrade betreffen. Schließlich würde die Konstruktion einer kapitalgedeckten Versicherung die großen Risiken für die Wertentwicklung der Einlagen ignorieren, die auf den Finanzmärkten lauerten. Daher ist diese Zusatzversicherung auch auf deutliche Kritik gestoßen (Jacobs & Rothgang 2012).
Private Pflegezusatzversicherungen
Neben diesen Versicherungsformen haben alle Versicherten in der sozialen und in der privaten Pflegepflichtversicherung können eine private Pflegezusatzversicherung abschließen. Dabei gelten die Regeln des privaten Versicherungsmarktes. Im Jahr 2020 hatten gut 2,8 Millionen Personen eine oder mehrere private Pflegezusatzversicherungen abgeschlossen, darunter vor allem eine Pflegetagegeldversicherung und eine Pflegekostenversicherung (PKV-Verband 2021).