1. Ausgangspunkt: Wachsender Problemdruck – weitgehend fehlende Absicherung von Pflegebedürftigkeit
Das Gesetz zur Einführung einer Pflegeversicherung trat 1995 in Kraft. Zuvor hatte Pflegebedürftigkeit keinen sozialrechtlichen Leistungsanspruch begründet. Ausnahmen betrafen vor allem den Bereich der Unfallversicherung (Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten) und der Kriegsopferversorgung. Dass nur eine kleine Zahl von Personen bei Pflegebedürftigkeit sozial abgesichert war, wurde mit der wachsenden Zahl älterer Menschen zunehmend zu einem Problem:
Die betroffenen Familien mussten die notwendig gewordenen professionellen Pflegeleistungen zumeist aus dem laufenden Haushaltseinkommen oder dem Privatvermögen finanzieren.
Viele Pflegebedürftige und ihre Angehörigen waren damit überfordert und mussten daher auf die Sozialhilfe („Hilfe zur Pflege“) zurückgreifen. Damit übernahmen die Landkreise und Kommunen als Sozialhilfeträger den größten Teil der Pflegekosten. Dies verstärkte deren ohnehin chronische Finanzkrise.
Die Sozialhilfe, die in der Systematik des deutschen Sozialrechts als letztes Auffangbecken für Probleme gilt, die auf anderem Wege nicht gelöst worden sind (Althammer et al. 2021), wurde damit beinahe zum Regelfall für die Absicherung eines sozialen Lebensrisikos. So bezogen vor Einführung der Pflegeversicherung in Westdeutschland mehr als zwei Drittel der Bewohner stationärer Einrichtungen Hilfe zur Pflege nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) (Rothgang 1997).
Professionelle Hilfe stand nicht in dem erforderlichen Maß zur Verfügung. Die Zahl der Pflegekräfte und -einrichtungen war trotz eines kontinuierlichen Anstiegs seit den 1960er Jahren (Schölkopf 1999) insgesamt viel zu gering.
Zahlreiche Familien waren mit der Übernahme der Pflege ihrer Angehörigen erheblichen physischen und psychischen Belastungen ausgesetzt und nicht selten überfordert. Da es ihnen in vielen Fällen an dem erforderlichen Wissen und Sachverstand mangelte, ging von der familiären Pflege oftmals auch eine Gesundheitsgefährdung für die Pflegebedürftigen aus („gefährliche Pflege“).
Bei der Gewährleistung der Pflege hatten kommunales, bürgerschaftliches und familiäres Engagement ein großes Gewicht (Alber & Schölkopf 1999). Neben bürgerschaftlichen und kirchlichen Organisationen, die stark auf ehrenamtlicher Mitarbeit beruhten, leisteten Gemeinden und Kreise nicht nur durch ihre Pflichtleistungen nach dem damaligen Bundessozialhilfegesetz, sondern auch durch freiwillige Leistungen einen Beitrag zur Sicherstellung der Pflege. Dieses Zusammenspiel führte allerdings nicht dazu, dass ein angemessenes Hilfe- und Sicherungsniveau erreicht wurde.
Ein Teil der Pflegebedürftigen wurde in Krankenhäusern versorgt, obwohl sie keiner Krankenhausbehandlung bedurften. Dies geschah mangels institutioneller Alternativen und angesichts der auf diese Weise möglichen Kostenverlagerung auf die gesetzliche Krankenversicherung (GKV). Diese Fehlbelegung von Krankenhausbetten trug zu einem medizinisch nicht notwendigen Ausgabenanstieg im Krankenhaussektor bei.
Diese Problematik war seit langem bekannt und Gegenstand öffentlicher Diskussionen. Gleichzeitig zeichnete sich angesichts des demographischen und sozialen Wandels ab, dass sie sich ohne politische Gegenmaßnahmen in den kommenden Jahrzehnten weiter verschärfen würde.
2. Ziele der Pflegeversicherung
Vor diesem Hintergrund wurde 1994 das „Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit“ (Pflege-Versicherungsgesetz – PflegeVG) verabschiedet (z.B. Meyer 1996; Alber & Schölkopf 1999: 129ff.). Dem waren mehr als 20-jährige Diskussionen vorausgegangen. Der Gesetzgebungsprozess selbst war von heftigen Auseinandersetzungen begleitet. Das Pflegeversicherungsgesetz trat am 1.1.1995 in Kraft und wurde als Elftes Buch in das Sozialgesetzbuch integriert (SGB XI). Die Pflegeversicherung wurde damit zur „fünften Säule“ der Sozialversicherung – neben der Kranken-, der Renten-, der Unfall- und der Arbeitslosenversicherung.
Das Pflegeversicherungsgesetz definiert die „pflegerische Versorgung der Bevölkerung“ als „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ (§ 8 SGB Abs. 1 SGB XI). Allerdings bedeutet dies nicht, dass die Gesellschaft den Betroffenen die entstehenden Lasten so weit wie möglich abnimmt. Im Mittelpunkt steht vielmehr weiterhin die Verantwortung der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen. Die Gesellschaft soll ihnen bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortung unter die Arme greifen. Eine besondere Rolle kommt dabei Ländern, Kommunen, Pflegeeinrichtungen und Pflegekassen zu: Sie sollen „die Bereitschaft zu einer humanen Pflege und Betreuung durch hauptberufliche und ehrenamtliche Pflegekräfte sowie durch Angehörige, Nachbarn und Selbsthilfegruppen“ (§ 8 Abs. 2 SGB XI) unterstützen und fördern und dabei „auf eine neue Kultur des Helfens und der mitmenschlichen Zuwendung hinwirken“ (§ 8 Abs. 2 SGB XI). Die Übernahme von Pflegeaufgaben durch Angehörige, Nachbarn, Ehrenamtliche oder andere bürgerschaftlich Engagierte soll – so die Erwartung politischer Entscheidungsträger – neue Formen der gesellschaftlichen Hilfe hervorbringen (Dammert 2009).
Häufig wird das Zusammenwirken von staatlichen, marktförmigen, familiären und nachbarschaftlichen, freiwilligen Beiträgen und Leistungen als „Wohlfahrtspluralismus“ oder „neuer Wohlfahrtsmix“ (Röber 2008; Hämel 2012) bezeichnet. Man kann in dieser Charakterisierung der Pflegeversicherung aber auch mit guten Gründen eine beschönigende Umschreibung für die Abkehr vom Grundsatz einer solidarischen Absicherung von Lebensrisiken sehen (Dammert 2009).
Mit der Einführung der Pflegeversicherung verfolgte der Gesetzgeber primär folgende Ziele:
Die Pflegeversicherung sollte das Risiko der Pflegebedürftigkeit eigenständig absichern und die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen von Kosten entlasten, dabei aber die Finanzierung über Pflichtbeiträge, insbesondere die Belastung der Arbeitgeber, in engen Grenzen halten. Daher wurde sie als eine Teilkostensicherung konstruiert: Ihre Leistungen tragen von vornherein nur ergänzenden Charakter (s. Artikel „
Interner Link: Organisation und Finanzierung der Pflegeversicherung “).Die Pflegeversicherung sollte die Abhängigkeit Pflegebedürftiger von der Sozialhilfe („Hilfe zur Pflege“) vermindern und damit die Sozialhilfeträger von ihren hohen Ausgaben für Pflegeleistungen entlasten.
Die Pflegeversicherung sollte zum Aufbau einer bedarfsgerechten Pflegeinfrastruktur und zur Verbesserung der Pflegequalität führen. Alle Pflegeeinrichtungen erhielten einen gesetzlich verankerten Rechtsanspruch auf Abschluss von Versorgungsverträgen unabhängig vom konkret vorliegenden Bedarf. Dabei sollten gewinnwirtschaftliche und freigemeinnützige Träger vorrangig berücksichtigt werden. Damit wollte der Gesetzgeber „einen geschlossenen Markt der zugelassenen Pflegeeinrichtungen verhindern, neuen, innovativen Leistungsanbietern den Zugang zum Pflegemarkt offenhalten und so den Wettbewerb unter den Pflegeeinrichtungen fördern [...]“ (Bundestagsdrucksache 12/5262: 136).
3. Wirkungen der Pflegeversicherung
Finanzielle Entlastung und finanzielle Belastung der Betroffenen
Die Pflegeversicherung stellt eine eigenständige Absicherung des Pflegerisikos dar und hat in vielen Fällen die Angehörigen von finanziellen Zwängen entlastet. Vor diesem Hintergrund bewerten die Betroffenen die Pflegeversicherung im Allgemeinen positiv (MDS 2020). Da sie aber lediglich eine Teilkostenversicherung ist, müssen die Pflegebedürftigen nach wie vor einen erheblichen Eigenanteil an den Pflegekosten tragen (Strünck 2000). Dieser hat sich seit der Einrichtung der Pflegeversicherung erhöht und ist vor allem in den letzten Jahren deutlich angestiegen, weil die Anhebung von Leistungen nicht mit der Kostenentwicklung Schritt gehalten hat (s. Artikel „
Herauslösung aus der Sozialhilfe und Entlastung der Sozialhilfeträger
Die eigenständige Absicherung des Pflegerisikos durch die Pflegeversicherung trug dazu bei, dass zunächst ein erheblicher Teil der Pflegebedürftigen aus der Abhängigkeit von der Sozialhilfe herausgelöst wurde (Tabelle 1). Dies betraf vor allem Leistungsempfängerinnen und -empfänger in der häuslichen Pflege, in geringerem Maße diejenigen in der stationären Pflege. Allerdings ist die Zahl der Empfänger von Hilfe zur Pflege seit 1998 wieder deutlich angestiegen. Dies lag daran, dass die Kaufkraft der Pflegeversicherungsleistungen mit den steigenden Pflegekosten sank und zugleich die Altersarmut anstieg. Ende 2020 erhielten knapp 316.000 Personen Hilfe zur Pflege (Tabelle 1). Dies entsprach rund 6,9 Prozent der Pflegebedürftigen (Gerlinger & Rosenbrock 2023). Angesichts steigender Pflegekosten (Rothgang & Müller 2021: 116ff.)) und einer zukünftig wachsenden Altersarmut (Bertelsmann Stiftung 2017) ist damit zu rechnen, dass eine wachsende Zahl von Pflegebedürftigen in die Abhängigkeit von der Hilfe zur Pflege gerät. Dies erhöht den Druck auf die politischen Entscheidungsträger zu einer grundlegenden Reform der Pflegefinanzierung.