Die Zwischenbilanz der Implementation integrierter Versorgungsformen stellt sich auf den einzelnen Handlungsfeldern recht unterschiedlich dar. Sicherlich ist mit ihnen Bewegung in die Versorgungslandschaft gekommen. Alles in allem sind die erzielten Fortschritte aber eher als gering zu veranschlagen. Nach wie vor prägt die wechselseitige Abschottung der Sektoren weite Teile des Versorgungsgeschehens. Nur eine Minderheit von Patienten wird in integrierten Versorgungsformen behandelt.
Bei der Ausgestaltung integrierter Versorgungsformen finden verschiedene Instrumente zur Steuerung ärztlichen Handelns Anwendung. Zu den wichtigsten von ihnen zählen:
die Definition von Behandlungsleitlinien, von zumeist an medizinischen Parametern orientierten Regeln für die Weiterleitung von Patienten an andere Versorgungseinrichtungen (Hausarzt – Facharzt – Krankenhaus) und von Vorgaben für eine verbesserte Kommunikation zwischen diesen Institutionen;
Qualifikationsmaßnahmen für die beteiligten Ärzte, d.h. die regelmäßige Teilnahme an Qualitätszirkeln, Fallkonferenzen und Arbeitsgruppen sowie der Besuch von Schulungen und anderen Weiterbildungsveranstaltungen;
Regeln für die ärztliche Dokumentation, die insbesondere der Transparenz über den Behandlungsverlauf dienen sollen;
ein Qualitätsmanagement, das die Einhaltung der Behandlungs- und Dokumentationsstandards sicherstellen soll;
finanzielle Anreize für die beteiligten Ärzte, die das gewünschte Verhalten unterstützen sollen.
Die erste Generation der Praxisnetze und Hausarztmodelle
Die erste Generation der Praxisnetze und Hausarztmodelle wurde in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre unter dem rechtlichen Dach der Modellvorhaben und der Strukturverträge eingeführt. Zwar wurden seit dem Inkrafttreten dieser Regelungen eine Reihe solcher Projekte auf den Weg gebracht, allerdings erfüllten sich gerade die Hoffnungen auf eine Qualitätsverbesserung bei ausgabenneutraler oder sogar kostengünstigerer Finanzierung bisher überwiegend nicht
Zwar ließen sich vereinzelt positive Effekte feststellen. Dazu zählten eine Verbesserung der Präsenzzeiten in der ambulanten Versorgung, gelegentlich auch eine erhöhte Zufriedenheit von Patienten und auch von Ärzten. Aber eine Veränderung von Versorgungsverläufen stellte sich meist ebenso wenig ein wie eine Verbesserung der Behandlungsqualität. Und wenn dies doch der Fall war, ließ sich angesichts der unzureichenden Datenlage oftmals kaum beurteilen, ob die Fortschritte auf die Behandlung durch Netzärzte oder auf andere Einflussfaktoren (z.B. den medizinischen Fortschritt) zurückzuführen waren. Nicht selten hatten Praxisnetze erhebliche Anlaufschwierigkeiten oder wurden wieder eingestellt. Auch Einsparungen ließen sich meist nicht nachweisen oder fielen nur gering aus, zumindest in der Anfangsphase verursachten Praxisnetze üblicherweise sogar weit höhere Kosten als die Regelversorgung.
Überdies waren Praxisnetze in ihrer konzeptionellen Reichweite begrenzt, weil sie von den Ausgabenbegrenzungszielen der Kassen überformt und daher häufig als ein Bündnis gegen das Krankenhaus konzipiert waren. Sie beschränkten sich häufig auf eine Kooperation im ambulanten Bereich und verfolgten das Ziel, die Zahl der Krankenhauseinweisungen zu reduzieren, strebten also eine sektorenübergreifende Versorgung gerade nicht an
Die Bilanz indikationsbezogener Versorgungsformen, also von Modellen zur besseren Versorgung von Personen mit bestimmten chronischen Krankheiten, fiel etwas positiver aus. Sie entsprachen insgesamt eher dem Konzept einer sektorenübergreifenden Versorgung als die erwähnten Praxisnetze, auch wenn die Vermeidung von stationären Einweisungen ebenfalls ein starkes Motiv für die Schaffung derartiger Versorgungsformen war und ist. Inwieweit sie gegenüber der Normalversorgung tatsächlich zu einer Verbesserung der Behandlungsergebnisse beitrugen, lässt sich wegen der unzureichenden Datenqualität zumeist nicht feststellen. Vorliegende Befunde gingen gelegentlich von nachgewiesenen Qualitätsverbesserungen aus
Verträge zur integrierten Versorgung
Ernüchterung ist nach anfangs großer Euphorie
Allerdings täuscht der bloße Blick auf die Zahl der Verträge und der durch sie erreichten Versicherten über die tatsächlich erreichten Fortschritte hinweg
Tabelle 1: Vertraglich beteiligte Sektoren gemeldeter IV-Verträge
Vertraglich beteiligte Sektoren | Anteil in Prozent |
---|---|
Ambulant | 30 |
Stationär | 16 |
Ambulant und stationär | 18 |
Stationär und Reha | 11 |
Ambulant und Reha | 3 |
Ambulant, Stationär und Reha | 3 |
Sonstige | 19 |
Insgesamt | 100 |
Quelle: Bogenstahl 2012: 139
Disease Management Programme
Die Anbindung von Disease Management Programmen (DMPs) an den Risikostrukturausgleich (RSA) (siehe Lerntour
Verwandte LerntourDer Risikostrukturausgleich (RSA)
Ende 2015 waren beim Bundesversicherungsamt insgesamt 9.966 DMPs zugelassen, für die mehr als 6,6 Millionen Einschreibungen von gut 7,7 Millionen Versicherten registriert waren
Tabelle 2: Registrierte Disease-Management-Programme und Zahl der DMP-Einschreibungen am 31.12.2015
Indikation | Zulassungen1 | Teilnehmer am DMP | Versicherte die in einem (oder mehreren) DMP eingeschrieben sind |
---|---|---|---|
Asthma bronchiale | 1.684 | 884.109 | |
Brustkrebs | 1.620 | 111.315 | |
Chronisch obstruktive Lungenerkrankung | 1.695 | 712.709 | |
Diabetes mellitus Typ 1 | 1.565 | 183.173 | |
Diabetes mellitus Typ 2 | 1.723 | 4.042.844 | |
Koronare Herzkrankheit | 1.679 | 1.788.605 | |
Insgesamt | 9.966 | 7.722.755 | 6.622.532 |
Fußnote: 1 Anzahl der teilnehmenden Krankenkassen x Anzahl der teilnehmenden Regionen (max. 17)
Quelle: Bundesversicherungsamt 2016
Die Befunde über die Qualität der DMP-Versorgung vermitteln ein eher uneinheitliches Bild
Auch Patienten bewerten DMPs oftmals positiv. Bei einer Befragung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) gaben 34,8 Prozent der DMP-Patienten an, dass sich ihr Gesundheitszustand seit dem Eintritt in das DMP verbessert habe. Auch waren DMP-Patienten häufiger mit der Versorgung zufrieden als Patienten in der Regelversorgung
Allerdings bewirken Verbesserungen bei Prozessparametern nicht unbedingt eine Verbesserung der Ergebnisqualität. So konnten 58 Prozent der DMP-Patienten keine Verbesserung ihres Gesundheitszustands und mehr als zwei Drittel der Befragten bei zahlreichen Versorgungsaspekten (z.B. Gründlichkeit der Untersuchung, Zeitaufwand des Arztes) keine Veränderungen gegenüber der vorangegangenen Behandlung in der Regelversorgung feststellen (Zok 2008: 5). Auch bei objektiven Parametern ließen sich zwischen Patienten in DMPs und in der Regelversorgung kaum Verbesserungen feststellen.
Trotz festzustellender Behandlungsunterschiede zwischen DMPs und Regelversorgung lassen bisherige Evaluationen zumeist keine validen Aussagen über die Wirksamkeit von DMPs zu
Die DMPs sind nicht nur in ihrer Wirksamkeit umstritten. Sie stoßen auch auf eine Reihe von Implementationsproblemen und bringen ihrerseits auch unerwünschte Effekte mit sich. Dies betrifft zunächst die Verknüpfung der DMPs mit dem Risikostrukturausgleich. Sie hat überhaupt erst ein finanzielles Interesse der Krankenkassen an der Entwicklung besonderer Behandlungsprogramme für chronisch Kranke geschaffen
Gleichzeitig brachte diese Verknüpfung erhebliche Steuerungsprobleme mit sich. Denn sie schuf bei den Krankenkassen ein Interesse, möglichst viele ihrer Versicherten zur Einschreibung in diese Programme zu bewegen, nicht unbedingt daran, die Patienten in diesen Programmen auch möglichst gut zu versorgen
Mit den 2009 wirksam gewordenen Veränderungen der DMP-Finanzierung ist dieses Problem eher in den Hintergrund getreten, weil seither nur die besonderen Programm- bzw. Verwaltungskosten der DMPs im Risikostrukturausgleich berücksichtigt werden. Allerdings sind Fehlanreize damit nicht beseitigt. Nunmehr verlagert sich das Interesse der Krankenkassen darauf, eine hohe Zahl von Versicherten zu erreichen, die eine der im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich berücksichtigten Krankheiten aufweisen.
Darüber hinaus resultieren Probleme bei der DMP-Konzipierung und -Einführung aus der Fragmentierung der GKV-Akteure. Die Vielzahl der beteiligten Krankenkassen, KVen und anderer Vertragspartner führte zu einer sehr großen, sachlich kaum gerechtfertigten Zahl an einschlägigen Verträgen. Dies verstärkte die Unübersichtlichkeit des DMP-Systems und brachte überdies mit der großen Zahl aufwendiger Vertragsverhandlungen hohe Transaktionskosten mit sich.
Des Weiteren beklagen die beteiligten Akteure häufig die mit DMPs verbundene Bürokratie. Sie ergibt sich aus dem Akkreditierungsverfahren beim Bundesversicherungsamt und aus den Dokumentationspflichten, die den beteiligten Ärzten auferlegt werden. Vor diesem Hintergrund wurden die einschlägigen Bestimmungen mehrmals geändert. Eine Entlastung brachte die 2008 vollzogene Umstellung auf eine elektronische DMP-Dokumentation mit sich. Ungeachtet dessen ist der Aufwand nach wie vor überdurchschnittlich hoch.
Schließlich gab es in der Ärzteschaft anfangs starke Vorbehalte gegenüber Disease Management Programmen, die sich auf die mit ihnen verbundene Standardisierung ärztlichen Handelns bezogen. Ärzte sahen darin nicht selten eine Einschränkung ihrer Therapiefreiheit und eine Art "Kochbuchmedizin", die den Besonderheiten des Einzelfalls nicht ausreichend Rechnung trage. Solche Einstellungen sind heute immer noch anzutreffen, dürften mittlerweile aber nicht mehr so stark verbreitet sein.
Medizinische Versorgungszentren
Medizinische Versorgungszentren haben seit 2004 erheblich an Bedeutung gewonnen. Ende 2015 waren insgesamt 2.156 MVZs zugelassen
Für Krankenhäuser bietet die Beteiligung an oder die Gründung von MVZs die Möglichkeit, für einen beständigen Einweisungsstrom aus dem ambulanten Sektor zu sorgen. Zugleich kann die gemeinsame Trägerschaft von Krankenhaus und MVZ auch zu einer besseren Abstimmung der ambulanten Nachsorge stationär behandelter Patienten beitragen. Insofern können MVZ nicht nur zu einer stärkeren Integration im Rahmen der ambulanten Versorgung, sondern auch zu einer verbesserten sektorenübergreifenden Kooperation führen. Allerdings birgt die Trägerschaft von Krankenhäusern auch Risiken: So haben diese MVZs ein Interesse daran, Patienten zur stationären Versorgung in ein angeschlossenes Krankenhaus des Trägers einzuweisen – und zwar auch dann, wenn dieses Krankenhaus nicht das am besten geeignete oder eine Indikation nicht gegeben ist.
Tabelle 3: Kennzahlen für Medizinische Versorgungszentren am 31.12.2015
Merkmal | Ausprägung |
---|---|
Anzahl der Zulassungen | 2.156 |
Gesamtzahl der im MVZ tätigen Ärzte | 10.020 |
Vertragsärzte | 1.341 |
Ärzte im Anstellungsverhältnis | 12.976 |
MVZ-Größe | Ø 6,6 Ärzte |
vorwiegende Gründer | Vertragsärzte und Krankenhäuser |
MVZ in Trägerschaft von Vertragsärzten | 42,2 % |
MVZ in Trägerschaft von Krankenhäusern | 42,2 % |
vorwiegende Rechtsformen | Gesellschaft mit beschränkter Haftung; Gesellschaft bürgerlichen Rechts |
am häufigsten beteiligte Facharztgruppen | Hausärzte und Internisten |
Quelle: KBV 2016.
Hausarztzentrierte Versorgung
Aufgrund der gesetzlichen Verpflichtung zum flächendeckenden Angebot einer hausarztzentrierten Versorgung haben Verträge zur hausarztzentrierten Versorgung mittlerweile eine große Verbreitung gefunden. Ob sich durch diese Hausarztverträge die Versorgungsqualität tatsächlich verbessert hat, ist indes höchst unsicher. Befunde über die Auswirkung von Hausarztmodellen bzw. der hausarztzentrierten Versorgung auf die Versorgungsqualität weisen in unterschiedliche Richtungen
Sicher scheint hingegen zu sein, dass sich die zunächst erhofften Einsparungen kaum realisieren lassen. Hausarztverträge bringen häufig Mehrkosten mit sich,
zum einen weil den beteiligten Ärzten Mehrleistungen (z.B. Dokumentation, Beteiligung an Qualitätszirkeln) gesondert vergütet werden;
zum anderen weil die gesetzlichen Bestimmungen dem Hausärzteverband in den meisten Ländern mittlerweile ein Vertragsmonopol verschafft und sie es mit Hilfe dieses Monopols und der Möglichkeit, im Falle der Nichteinigung mit den Krankenkassen die zuständige Schiedsstelle anzurufen, verstanden haben, hohe Honorarforderungen durchzusetzen.
Angesichts dieser Rahmenbedingungen sieht die Mehrzahl der Krankenkassen Hausarztverträge mittlerweile sehr kritisch. Zahlreiche von ihnen haben bereits geschlossene Hausarztverträge gekündigt, häufig in der Hoffnung, den Hausärzteverband damit unter Druck setzen und bessere Vertragsbedingungen aushandeln zu können. Darüber hinaus ist bei den Sozialgerichten eine Vielzahl von Verfahren zu den einschlägigen Versorgungsverträgen anhängig.
Ambulante spezialfachärztliche Versorgung
Die Effekte der Etablierung eines ambulanten spezialfachärztlichen Versorgungsbereichs dürften erst ab 2013 mit dem Inkrafttreten der G-BA-Richtlinie über dessen Ausgestaltung nach und nach sichtbar werden. Allerdings lässt sich schon jetzt ihr potentieller Beitrag zur besseren Verzahnung der Sektoren eher gering veranschlagen.
Zudem wird kritisiert, dass die neuen Regelungen eine sektorenübergreifende Versorgung eher behindern als fördern könnten. So wurde der Leistungskatalog nach § 116b SGB V gegenüber der vorher geltenden Rechtslage begrenzt, denn seit 2012 gehören Erkrankungen mit besonderen Krankheitsverläufen nur noch zum spezialfachärztlichen Versorgungsbereich, wenn sie schwere Verlaufsformen aufweisen. Darüber hinaus bedarf es für die Behandlung von schweren Verlaufsformen der Erkrankungen mit besonderen Krankheitsverläufen einer Überweisung durch den Vertragsarzt (§ 116b Abs. 4 SGB V), sofern der Patient nicht direkt aus der stationären Versorgung zugewiesen wird. Mit diesen Bestimmungen werden die Wahlmöglichkeiten der GKV-Versicherten eingeschränkt und die Kooperationen zwischen den Sektoren eher erschwert. Im Zuschnitt des neuen § 116b SGB V kommt denn wohl auch eher die Absicht zum Ausdruck, Einkommensinteressen von Vertragsärzten Rechnung zu tragen als die Integration von Versorgungsverläufen zu verbessern.