Die Schaffung eines integrierten Versorgungssystems zählt zu den größten Herausforderungen für das Versorgungssystem in Deutschland
Die moderne Medizin ist durch eine rasch fortschreitende Spezialisierung gekennzeichnet. Wenn das zunehmend spezialisierte Wissen für die Versorgung nutzbar gemacht werden soll, wächst in der Tendenz die Zahl der Spezialisten, die an der Versorgung eines Patienten beteiligt sind. Damit einhergeht eine Aufspaltung des Behandlungsverlaufs in viele einzelne Maßnahmen, die von unterschiedlichen Institutionen und Personen entschieden und ergriffen werden, also eine wachsende Desintegration der gesundheitlichen Versorgung. Im Ergebnis droht der Gesamtüberblick über die Versorgung eines Patienten dabei verloren zu gehen. Daher bedarf es einer guten Koordination und Kooperation zwischen den beteiligten Versorgungseinrichtungen. Dies schließt eine Kontinuität über die Sektoren und Institutionen der Versorgung hinweg ein.
Ein wachsender Integrationsbedarf ergibt sich aus einer Veränderung auf der "Nachfrageseite": Mit dem demographischen Wandel wächst die Zahl alter und multimorbider Menschen. In der Tendenz steigt damit auch die Zahl der an der Behandlung eines Patienten beteiligten Spezialisten. Diese Entwicklung verstärkt die skizzierten Tendenzen in der Medizin.
Integration ist somit eine zentrale Anforderung für ein qualitativ hochwertiges Gesundheitswesen. Es handelt sich dabei um ein übergreifendes Problem moderner Gesundheitssysteme. Im deutschen Gesundheitswesen stellt es sich aber mit besonderer Schärfe, denn dieses ist wie kaum ein anderes durch eine wechselseitige, historisch gewachsene Abschottung der Versorgungsbereiche gekennzeichnet ist.
Über alle Stufen der Gesundheitsversorgung hinweg gibt es Schnittstellen, an denen Versorgungsbrüche entstehen, nämlich
beim Wechsel zwischen ambulanter hausärztlicher und ambulanter fachärztlicher Versorgung,
beim Wechsel zwischen ambulanter zur stationärer Versorgung,
beim Übergang von der akutmedizinischen Versorgung zur Rehabilitation,
beim Zusammenwirken von Medizin einerseits sowie Pflege, Sozialarbeit und anderen betreuenden Aufgaben andererseits.
Die mangelnde Integration hat verschiedene Erscheinungsformen. Dazu zählen unzureichende Informationsübermittlung, mangelhafte oder fehlende Absprachen über Behandlungsschritte und ein unzureichender Austausch von Fachwissen. Wie der damalige Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen bereits 1994 konstatierte, führt die scharfe Trennung der Versorgungsbereiche zu einer "Diskontinuität der Behandlung, Betreuung und Verantwortlichkeit für den Patienten", zur "Belastung des Patienten mit unnötiger und teilweise riskanter Diagnostik", zu "Unterbrechungen der Therapie mit der damit einhergehenden Gefahr des Wirkungsverlustes", zu "Informationsdefizite(n)", zu "nicht optimal aufeinander abgestimmte(n) Behandlungen" und zu einer "unzureichende(n) oder fehlende(n) Nachsorge"
Die Abschottung der Versorgungssektoren hat sich im deutschen Gesundheitswesen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nach und nach herausgebildet: durch die Festlegung unterschiedlicher institutioneller Zuständigkeiten für die Krankenversorgung und für die politische Steuerung der Versorgungssektoren sowie durch die Etablierung unterschiedlicher Regeln für die Vergütung von Leistungen.
Wichtiger Ausdruck und wichtige Ursache der sektoralen Abschottung ist die gesetzliche Zuweisung des ambulanten Sicherstellungsauftrags an die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und des stationären Sicherstellungsauftrags an die Länder.
Der Gesetzeszustand, den das SGB V Ende der 1980er Jahre von der Beziehung zwischen ambulantem und stationärem Sektor zeichnete, ist der einer strikten Abschottung, die nur punktuell durchbrochen werden konnte. Einschlägige Bestimmungen zielten nicht im eigentlichen Sinne auf eine Integration von Versorgungsabläufen, sondern waren durchweg als Ausnahme von der Regel des ambulanten Behandlungsmonopols der Vertragsärzte formuliert.
Dabei band das SGB V die Zulassung stationärer Einrichtungen zur ambulanten Behandlung in den meisten Fällen an die Zustimmung der KVen (§§ 116, 118, 119 SGB V). In den Fällen, wo dies nicht zutraf – etwa bei der ambulanten Behandlung in poliklinischen Institutsambulanzen –, waren und sind Art und Umfang der ambulanten Behandlung häufig Gegenstand von Beanstandungen durch die KVen und nicht selten auch von rechtlichen Auseinandersetzungen zwischen KVen und ambulant behandelnden Krankenhäusern. Zweitens sind diese Ausnahmetatbestände zu einem erheblichen Teil nicht durch das Ziel einer Versorgungsintegration, sondern durch andere Absichten motiviert. Dazu zählen das Unvermögen der KVen, ihren Sicherstellungsauftrag nur auf dem Wege der Behandlung durch Vertragsärzte zu erfüllen (§ 116 SGB V), und das Erfordernis, den Notwendigkeiten von Lehre und Forschung Rechnung zu tragen (§ 117 SGB V).