Die Konstruktion des Zusatzbeitrags 2009-2010
Die Krankenkassen legten bis Ende 2008 ihren jeweiligen Beitragssatz individuell fest. Die Beitragseinnahmen flossen bis zu diesem Zeitpunkt direkt an die einzelnen Krankenkassen. Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) trat 2009 eine weitreichende Reform der GKV-Finanzierung in Kraft
Das GKV-WSG sah für den Gesundheitsfonds folgende Konstruktion vor
Den Krankenkassen wurde das Recht zur individuellen Beitragsfestsetzung entzogen. Stattdessen wurde ein bundeseinheitlicher Beitragssatz eingeführt, der von der Bundesregierung per Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrats festgelegt wird.
Der Gesetzgeber richtete einen Gesundheitsfonds ein, der die Finanzströme in der GKV neu ordnet: Die Beitragseinnahmen und der steuerfinanzierte Bundeszuschuss (siehe Lerntour "Das GKV-Finanzierungssystem heute:
Interner Link: Steuerfinanzierter Bundeszuschuss ") fließen zunächst in diesen Fonds und werden von dort an die Krankenkassen verteilt.Wenn eine Krankenkasse mit den Mittelzuweisungen aus dem Gesundheitsfonds nicht auskommt, muss sie das Defizit durch die Erhebung eines kassenindividuellen Zusatzbeitrags decken. Dieser kassenindividuelle Zusatzbeitrag wirkt direkt an die betreffende Krankenkasse entrichtet.
Der kassenindividuelle Zusatzbeitrag wird ausschließlich von den Versicherten erhoben. Er konnte – bis Ende 2010 – entweder pauschal oder als Prozentsatz vom jeweiligen Bruttoeinkommen erhoben werden. Um die individuelle Belastung der Versicherten zu begrenzen, durfte er ein Prozent des individuellen Bruttoeinkommens nicht übersteigen.
Sobald eine Krankenkasse einen Zusatzbeitrag einführt oder erhöht, haben die Versicherten ein Sonderkündigungsrecht, auf das die Kasse sie hinweisen muss. Nach Einführung oder Anhebung eines Zusatzbeitrags entfällt die sonst nach einem Kassenwechsel geltende Mindestbindungsfrist von 18 Monaten. Der Versicherte kann dann die Krankenkasse sofort wechseln, ohne den erhöhten Zusatzbeitrag zahlen zu müssen.
Ordnungspolitisch soll nun dieser kassenindividuelle Zusatzbeitrag – und nicht mehr wie zuvor der kassenindividuelle Beitragssatz – als Wettbewerbsparameter der Krankenkassen dienen. Damit will der Gesetzgeber Druck auf die Krankenkassen erzeugen, ihre Kosten zu begrenzen.
Die Gesamtsumme der von allen Krankenkassen erhobenen Beiträge darf fünf Prozent der Einnahmen des Gesundheitsfonds nicht überschreiten. Wenn der Deckungsgrad durch den Gesundheitsfonds unter 95 Prozent sinken sollte, wäre die Bundesregierung gehalten, den – von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gemeinsam finanzierten – bundeseinheitlichen Beitragssatz anzuheben.
Die Bestimmungen zur Einführung des Zusatzbeitrags beinhalteten eine deutliche Mehrbelastung der Versicherten. Diese würden so lange, wie die Summe der Zusatzbeiträge den Schwellenwert von fünf Prozent der Gesamteinnahmen des Gesundheitsfonds nicht erreichte, ein Defizit ihrer Kasse alleine tragen müssen. Genau so lange wurde auch der Arbeitgeberbeitragssatz festgeschrieben.
Die Konstruktion des Zusatzbeitrags 2011-2014
Das von der schwarz-gelben Koalition 2010 verabschiedete und 2011 in Kraft getretene GKV-Finanzierungsgesetz (GKV-FinG) nahm wesentliche Veränderungen an der Konstruktion des Zusatzbeitrags vor. Die Reformen waren der Versuch, den Einstieg in die mittel- bzw. langfristige Umstellung des Finanzierungssystems auf eine Kopfpauschale vorzunehmen, um so den Arbeitgeberbeitrag dauerhaft von der Entwicklung der Krankenversicherungsbeiträge zu entkoppeln. Gegenüber dem 2009 unter der Großen Koalition eingeführten Bestimmungen sah das GKV-FinG folgende Neuregelungen vor:
Die bisherige Beschränkung des kassenindividuellen Zusatzbeitrags auf ein Prozent des Bruttoeinkommens entfiel. Demzufolge können bzw. müssen Krankenkassen, wenn dies zur Vermeidung eines Defizits notwendig ist, bei ihren Versicherten einen Zusatzbeitrag in unbegrenzter Höhe erheben. Damit wurde auch die Regelung hinfällig, dass die Gesamtsumme aller Zusatzbeiträge höchstens auf fünf Prozent dieser Gesamtausgaben steigen darf.
Der Beitragssatz für die Arbeitgeber wurde bei 7,3 Prozent explizit eingefroren. Wenn die Ausgaben der Krankenkassen schneller steigen als ihre Einnahmen sollten, so müssten die entstehende Lücke also allein und dauerhaft von den Versicherten gedeckt werden.
Der Zusatzbeitrag darf nicht mehr als Prozentsatz vom Einkommen, sondern nur noch als Pauschalbetrag erhoben werden. Damit verbunden war die Erwartung, dass von einem absoluten Betrag ein eindeutigeres Preissignal ausgeht als von einem prozentualen Wert.
Für Versicherte, die finanziell überfordert sind, ist ein steuerfinanzierter Zuschuss ("Sozialausgleich") vorgesehen. Dieser Zuschuss soll folgendermaßen organisiert werden: Der voraussichtliche Finanzbedarf der Krankenkassen wird für das Folgejahr geschätzt. Aus dieser Schätzung ergibt sich ein durchschnittlich notwendiger Zusatzbeitrag je GKV-Mitglied. Sollte dieser durchschnittliche Zusatzbeitrag zwei Prozent des Bruttoeinkommens eines GKV-Mitglieds übersteigen, wird die Differenz aus Steuermitteln ausgeglichen. Der Zuschuss bezieht sich aber nicht auf den kassenindividuell tatsächlich erhobenen Zusatzbeitrag, sondern nur auf den durchschnittlich notwendigen Zusatzbeitrag. Würde eine einzelne Kasse einen höheren Zusatzbeitrag erheben, so müsste das Mitglied diesen Zusatzbeitrag in voller Höhe tragen, auch wenn er mehr als zwei Prozent des Bruttoeinkommens ausmacht. Wenn Mitglieder diesen erhöhten Zusatzbeitrag vermeiden wollen, müssen sie die Krankenkasse wechseln.
Mit diesen Bestimmungen stellte das GKV-FinG eine Abkehr vom traditionellen Finanzierungsmodus in der GKV dar. Der Zusatzbeitrag erhielt den Charakter einer kleinen Kopfpauschale, die gegenüber den anderen Finanzierungskomponenten nach und nach an Bedeutung gewinnen würde. Da davon auszugehen war, dass die Kluft zwischen bruttolohnbezogenen Einnahmen und GKV-Ausgaben mittel- und langfristig wachsen würde, wären die Belastungen für die Versicherten weiter gestiegen. Dabei würden die Bezieher unterer und mittlerer Einkommen besonders stark belastet.
Der steuerfinanzierte Zuschuss für bedürftige GKV-Mitglieder war nicht geeignet, den primären Umverteilungseffekt einer Kopfpauschale zu kompensieren. Umgekehrt hätte eine Beteiligung Besserverdienender an der Finanzierung dieses Zuschusses über das Steuersystem deren Entlastung über die Einführung einer kleinen Kopfpauschale nicht ausgeglichen – auch deshalb, weil Besserverdienende einen höheren Steuersatz lediglich bei den Einkommensteuern, nicht aber bei den Verbrauchsteuern (v.a. der Mehrwertsteuer) entrichten. Angesichts der prekären Situation der öffentlichen Haushalte war es überdies zweifelhaft, ob die staatlichen Transferzahlungen von Dauer sein würden.
Verteilungspolitisch bedeutete das Einfrieren des Arbeitgeberbeitrags auf 7,3 Prozent des Bruttoentgelts eine Umverteilung zulasten der unteren Einkommensgruppen. Denn alle künftigen Kostensteigerungen in der Krankenversorgung werden unter dieser Regelung vollständig von den Versicherten getragen. Angesichts der Tatsache, dass die Lohnquote in Deutschland seit über einem Jahrzehnt kontinuierlich sinkt, ist auch nicht davon auszugehen, dass die daraus resultierenden Einkommensverluste über Einkommenszuwächse aus Tarifverhandlungen kompensiert werden können. Ordnungspolitisch bedeutete das Einfrieren, dass das ökonomische Interesse der Arbeitgeber an der Kostendämpfung sinken würde.
Neuregelungen ab 2015
Im Juli 2014 verabschiedete der Bundesrat erneut ein Gesetz ("GKV-Finanzstruktur- und Qualitätsweiterentwicklungsgesetz" (GKV-FQWG)), das die Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen zum 1.1.2015 neu regelte. Seitdem gilt für die Zusatzbeiträge:
Die Zusatzbeiträge werden doch nicht mehr pauschal, sondern in Abhängigkeit zum Einkommen erhoben, wobei die Krankenkassen die Höhe des Anteils selbst festlegen können. Die Beiträge werden nicht - wie bisher - separat, sondern direkt vom Arbeitgeber an die Kassen abgeführt.
Das Sonderkündigungsrecht besteht weiterhin. Mitglieder, die die Zusatzbeiträge ihrer Krankenkasse ablehnen, können die Versicherung wechseln. Die Krankenkassen müssen dabei neue Hinweispflichten beachten.
Die Beitragssätze liegen bei 14,6 Prozent des Einkommens, der Arbeitgeberanteil bleibt bei 7,3 Prozent eingefroren. Den Zusatzbeitrag zahlen nicht die Arbeitgeber, sondern die Arbeitnehmer. Das bedeutet, dass mögliche Kostensteigerungen nach wie vor einseitig von den Versicherten zu tragen sind. Die Zusatzbeiträge stellen für die Kassen das wichtigste Instrument dar, um Mehrausgaben zu finanzieren.
Der 2005 eingeführte Sonderbeitrag für die Versicherte in Höhe von 0,9 Prozentpunkten wurde abgeschafft und der Beitragssatz damit von 15,5 Prozent auf 14,6 Prozent reduziert.
Die erneute Reform der GKV-Finanzierung ändert nur wenig an dem 2009 von der damaligen Großen Koalition eingeführten und 2011 von der schwarz-gelben Koalition modifizierten Finanzierungsmodell. Zwar schafft sie die "kleine Kopfpauschale", also den Zusatzbeitrag als einen einkommensunabhängigen Beitrag, ab. Jedoch bestehen alle anderen wesentlichen Komponenten der GKV-Finanzierung fort, mit denen die Last der Finanzierung künftiger Kassendefizite den Versicherten auferlegt wird.
Der Arbeitgeberbeitragssatz wird weiterhin bei 7,3 Prozent eingefroren, und zur Deckung eines Defizits werden ausschließlich die Versicherten in Form eines kassenindividuellen Zusatzbetrags herangezogen, der in seiner Höhe unbegrenzt ist. Insofern führt die Abschaffung des Sonderbeitrags nur scheinbar zu einer Rückkehr zur Beitragsparität. Im Grunde genommen wird der Zusatzbeitrag lediglich in den Sonderbeitrag umgewandelt und kassenindividuell ausgestaltet.
Darüber hinaus dürfte sich der Kassenwettbewerb um eine Vermeidung von Zusatzbeiträgen mit der Reduzierung des Beitragssatzes auf 14,6 Prozent weiter verschärfen, denn der bis Ende 2014 gültige Beitragssatz von 15,5 Prozent wirkte als ein Puffer, der die Vermeidung von Zusatzbeiträgen erleichterte.
2015 und 2016 hat die große Mehrheit der Krankenkassen einen Zusatzbeitrag eingeführt oder angehoben. 2016 erhoben nahezu alle Krankenkassen einen Zusatzbeitrag. Anfang 2016 belief sich der Zusatzbeitrag im Durchschnitt aller Kassen auf 1,1 Prozentpunkte, in der Spitze sogar auf 1,7 Prozentpunkte. Der durchschnittliche Gesamtbeitragssatz erreichte damit 15,7 %, der Höchstbeitragssatz 16,3 %. Versicherte mit einem jährlichen Einkommen in Höhe der Beitragsbemessungsgrenze (2016: 50.850 Euro) mussten somit Zusatzbeiträge in Höhe von bis zu 864,45 Euro pro Jahr entrichten. Es ist davon auszugehen, dass der Zusatzbeitrag in den kommenden Jahren weiter steigen wird.