Die Ursprünge der Kassenvielfalt
Im Jahr 2017 konnten gab es in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) noch gut 100 Krankenkassen. 2010 waren es noch 169 gewesen, Anfang der 1990er-Jahre noch rund 1.200. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, also wenige Jahre nach Gründung der GKV zählte man sogar mehr als 20.000 Krankenkassen
Die bis heute bestehende Vielfalt von Krankenkassen hat historische Ursprünge: Die Krankenkassen waren ursprünglich zumeist berufsständisch und regional operierende Einrichtungen. In Leipzig gab es im Jahr 1885 beispielsweise 18 Ortskrankenkassen: eine für Metallarbeiterinnen und -arbeiter, eine für Buchbinderinnen und Buchbinder, eine für Verfertigerinnen und Verfertiger von Musikinstrumenten usw. Neben diesen 18 speziellen Ortskrankenkassen gab es in Leipzig noch 41 Betriebskrankenkassen.
Die berufsständische Organisation der Krankenversicherungen leitet sich aus dem bereits in den mittelalterlichen Zünften ausgeprägten Gedanken der innerberuflichen Solidarität bei Notlagen her. Durch das Krankenversicherungsgesetz des Jahres 1883 wurden die Industriearbeiter und Handwerker zur Mitgliedschaft in der Krankenkasse ihres jeweiligen Berufszweiges gezwungen. Vom Zwang zur Mitgliedschaft in einer berufsständischen Kasse konnte man sich jedoch durch Beitritt zu einer der "freien Hilfskassen" befreien, die daher den Namen "Ersatzkassen" erhielten.
Kassenarten
Das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) unterscheidet heute sechs Kassenarten:
Ortskrankenkassen (AOK),
Betriebskrankenkassen (BKK),
Innungskrankenkassen (IKK),
die Landwirtschaftliche Krankenkasse (LKK – Träger: Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau),
Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See (KBS – Träger: Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See),
Ersatzkassen (EK).
Bis 2008 gehörten die einzelnen Krankenkassen den jeweiligen Verbänden ihrer Kassenart an. Bei diesen Verbänden handelte es sich auf Bundes- und Landesebene zumeist um Körperschaften öffentlichen Rechts. Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz wurden diese Spitzenverbände auf Bundesebene in Gesellschaften bürgerlichen Rechts umgewandelt und ab dem 01.07.2008 durch einen GKV-Spitzenverband ersetzt. In ihm sind alle Krankenkassen auf Bundesebene zusammengeschlossen (§ 217a SGB V). Die verschiedenen Kassenarten gründeten daraufhin, teils unter neuem Namen, ihre bisherigen Bundesverbände neu. Diese Verbände sind aber keine mit hoheitlichen Aufgaben ausgestatteten Körperschaften öffentlichen Rechts mehr, sondern eingetragene Vereine mit freiwilliger Mitgliedschaft, Die Bundesverbände der Krankenkassen betreiben nun nach innen Servicearbeit für ihre Mitglieder und nach außen Lobbyarbeit in Politik und Öffentlichkeit. Bei diesen Verbänden handelt es sich somit nunmehr um freie Verbände, also reine Interessenverbände.
Die Orts-, Betriebs- und Innungskrankenkassen bilden jeweils Landesverbände, die weiterhin Körperschaften des öffentlichen Rechts sind (§ 207 Abs. 1 SGB V). Da wegen der zahlreichen Fusionen seit Einführung der freien Kassenwahl (1996) bei den Orts- und Innungskrankenkassen zumeist nur noch eine Kasse pro Bundesland existiert, nimmt diese Kasse zugleich die Aufgaben eines Landesverbandes wahr. Für die knappschaftliche Krankenversicherung übt die Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See diese Funktion aus (§ 212 Abs. 3 SGB V). Bei den Ersatzkassen existieren keine Landesverbände. Sie können sich zu einer Landesvertretung zusammenschließen und müssen für die Wahrnehmung der Steuerungsaufgaben auf Landesebene "einen gemeinsamen Bevollmächtigten mit Abschlussbefugnis" ernennen (§ 212 Abs. 5 SGB V).
Gemeinsam und einheitlich
Die Landesverbände der Krankenkassen haben die ihnen vom Gesetzgeber zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen (§ 211 Abs. 1 SGB V). Darunter fallen zahlreiche Tätigkeiten auf unterschiedlichsten Handlungsfeldern der Gesundheitspolitik. Die betreffenden Aufgaben gehen aus den übrigen Lerntouren hervor. Weiterhin haben die Landesverbände "die Mitgliedskassen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben und bei der Wahrnehmung ihrer Interessen" (§ 211 Abs. 2 SGB V) sowie "die zuständigen Behörden in Fragen der Gesetzgebung und Verwaltung" zu unterstützen (§ 211 Abs. 3 SGB V).
Die Verbände bleiben auch auf der nächsten Ebene die wesentlichen Akteure: Die Landesverbände der Krankenkassen beziehungsweise die Verbände der Ersatzkassen schließen in jedem Bundesland die Verträge mit den Kassenärztlichen Vereinigungen sowie den Krankenhäusern in der Region. Dazu kommen weitere Funktionen in Bezug auf andere Leistungsbereiche.
Ähnliches gilt für den GKV-Spitzenverband auf Bundesebene. Auch er hat "die ihm gesetzlich zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen" (§ 217f Abs. 1 SGB V) sowie "die Krankenkassen und ihre Landesverbände bei der Erfüllung ihrer Aufgaben und bei der Wahrnehmung ihrer Interessen" zu unterstützen (§ 217f Abs. 2 SGB V). Darüber hinaus soll er u.a. "Entscheidungen zur Organisation des Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitswettbewerbs der Krankenkassen" treffen (§ 217f. Abs. SGB V).
Der GKV-Spitzenverband trifft insbesondere Regelungen zu den sogenannten "wettbewerbsneutralen Feldern", also jenen Bereichen, in denen der Gesetzgeber den Kassen vorschreibt, "gemeinsam und einheitlich" zu handeln, wie es an zahlreichen Stellen im Fünften Sozialgesetzbuch heißt. Dies geschieht v.a. durch folgende Tätigkeiten:
Er schließt für die beteiligten Akteure kollektiv verbindliche Rahmenvereinbarungen mit den zuständigen Verbänden auf der Seite der Leistungserbringer. Insbesondere betrifft dies die Kassenärztliche Bundesvereinigung (mit der sie z.B. den Mantelvertrag zur vertragsärztlichen Versorgung abschließt) und die Deutsche Krankenhausgesellschaft. Das Fünfte Sozialgesetzbuch nennt aber auch Verbände der Leistungserbringer aus anderen Sektoren, z.B. für den Heilmittelsektor "die für die Wahrnehmung der Interessen der Heilmittelerbringer maßgeblichen Spitzenorganisationen auf Bundesebene" (§ 125 Abs. 1 SGB V) oder für den Hilfsmittelsektor die für die "Wahrnehmung der Interessen der Leistungserbringer maßgeblichen Spitzenorganisationen auf Bundesebene" (§ 126 Abs. 2 SGB V).
Er entscheidet in den diversen Gremien der Gemeinsamen Selbstverwaltung über ein breites Spektrum von Fragen zur Gesundheitsversorgung, deren Organisation und Vergütung. So ist er gemeinsam mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) Träger des Instituts des Bewertungsausschusses und des Instituts für das Entgeltsystem im Krankenhaus.
Nicht zuletzt koordiniert der GKV-Spitzenverband die Positionen der Krankenkassen zu Fragen der Gesundheitspolitik und bringt diese gegenüber der Politik und der Öffentlichkeit zum Ausdruck
Das Selbstverwaltungsprinzip
Ein tragendes Element der gesetzlichen Krankenversicherung ist das Selbstverwaltungsprinzip. Selbstverwaltung bedeutet nicht, dass der Staat sich aus der Gestaltung des Gesundheitssystems heraushält. Im Gegenteil: Der Gesetzgeber legt den ordnungspolitischen Rahmen für die gesetzliche Krankenversicherung durch die Verabschiedung von Generalnormen fest. Der Begriff "Generalnormen" drückt aber bereits aus, dass der Gesetzgeber nicht alle Detailfragen selbst regelt. Vielmehr überträgt er einigen unmittelbar beteiligten Akteuren, vor allem Krankenkassen und Ärzten sowie deren Verbänden, Aufgaben und Kompetenzen bei der Ausgestaltung seiner Rechtsvorschriften und überlässt ihnen entsprechende Handlungsspielräume. Besonders wichtige einschlägige Rechtsgrundlagen sind das Fünfte Sozialgesetzbuch (SGB V) und das Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG).
Die Selbstverwaltungsorganisationen in der gesetzlichen Krankenversicherung unterliegen der staatlichen Rechtsaufsicht (z.B. durch das Bundesministerium für Gesundheit, die betreffenden Ministerien auf Landesebene oder das Bundesversicherungsamt). Dies bedeutet, dass die Exekutive überwacht, ob das Handeln der Selbstverwaltungsakteure mit den rechtlichen Rahmenvorgaben übereinstimmt. Die Einrichtungen der Selbstverwaltung sind selbständige Verwaltungseinheiten des Staates und damit zugleich organisatorischer Teil der Staatsgewalt. Daher werden sie auch als "mittelbare Staatsverwaltung" bezeichnet.
Es lassen sich zwei Typen der Selbstverwaltung, nämlich die Soziale Selbstverwaltung und die Gemeinsame Selbstverwaltung, unterscheiden:
die Soziale Selbstverwaltung bezeichnet die Selbstverwaltung der gesetzlichen Krankenkassen durch Versicherte (zumeist Arbeitnehmer) und Arbeitgeber;
die Gemeinsame Selbstverwaltung bezeichnet das Zusammenwirken von Ärzten und Krankenkassen bei der Ausgestaltung der Rechtsvorschriften zur Gesundheitsversorgung, deren Organisation und Vergütung in der gesetzlichen Krankenversicherung.
Soziale Selbstverwaltung der Krankenkassen
Träger der gesetzlichen Krankenversicherung sind die Krankenkassen. Bei den Krankenkassen handelt es sich um rechtsfähige Körperschaften des öffentlichen Rechts. Sie unterliegen der Selbstverwaltung von Versicherten (zumeist Arbeitnehmern) und Arbeitgebern, die vom ehrenamtlichen, paritätisch besetzten Verwaltungsrat und vom hauptamtlichen Vorstand ausgeübt wird. Eine Ausnahme stellen noch zwei Ersatzkassen dar, in denen die Selbstverwaltung allein durch Versichertenvertreter erfolgt. Die Mitglieder des Verwaltungsrats werden in den Sozialwahlen von den wahlberechtigten Mitgliedern ihrer jeweiligen Seite gewählt. Die Sozialwahlen finden alle sechs Jahre statt. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände haben einen starken Einfluss auf die Selbstverwaltung der Krankenkassen (Klenk 2012). Die Selbstverwaltung der Krankenkassen und ihrer Verbände durch Versicherte und Arbeitgeber wird häufig auch als "Soziale Selbstverwaltung" bezeichnet.
Der Verwaltungsrat entscheidet über Fragen von grundsätzlicher Bedeutung (§ 197 Abs. 1 SGB V). Der hauptamtliche Vorstand ist für das operative Geschäft einer Krankenkasse zuständig. Er führt z.B. die Vertragsverhandlungen mit Leistungsanbietern, leitet die Krankenkasse als Organisation und organisiert die Betreuung der Versicherten.
Auf Bundesebene sind die Krankenkassen zum GKV-Spitzenverband zusammengefasst. Seine Kompetenzen beschränken sich auf so genannte "wettbewerbsneutrale" Felder, also solche Regelungsbereiche, für die der Gesetzgeber einheitliche Bestimmungen, häufig in Form von Mindest- oder Rahmenregelungen, vorgeschrieben hat (§ 217f SGB V). Hierzu trifft der GKV-Spitzenverband selbst Entscheidungen (z.B. die Festsetzung von Arzneimittelfestbeträgen) oder schließt Verträge mit den Spitzenorganisationen von Leistungsanbietern (z.B. den Rahmenvertrag für die vertragsärztliche Vergütung auf Bundesebene oder Mindeststandards für Qualitätsanforderungen).
In die Zuständigkeit der Selbstverwaltung der einzelnen Krankenkassen fallen hingegen solche Handlungsfelder, auf denen der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen und ihren Verbänden ausgetragen wird. Dies betrifft z.B. Verträge zur integrierten Versorgung oder zur hausarztzentrierten Versorgung, Rabattvereinbarungen mit Arzneimittelherstellern oder die Gewährung von Zusatzleistungen.
Auch der GKV-Spitzenverband unterliegt der Selbstverwaltung. Höchstes Selbstverwaltungsorgan des GKV-Spitzenverbandes ist die Mitgliederversammlung. Sie setzt sich paritätisch aus den Delegierten der Arbeitgeber- und der Versichertenseite aller Krankenkassen zusammen (§ 217b SGB V) und wählt den ebenfalls paritätisch besetzten Verwaltungsrat, in dem die unterschiedlichen Kassenarten nach einem bestimmten Proporz vertreten sind (§ 217c SGB V).
Gemeinsame Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen
Von der Sozialen Selbstverwaltung der Krankenkassen und ihrer Verbände durch Versicherte und Arbeitgeber ist die Gemeinsame Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen zu unterscheiden. Die Gemeinsame Selbstverwaltung regelt die beide Seiten betreffenden Angelegenheiten der Gesundheits- bzw. Krankenversorgung und ihrer Finanzierung. Auf diese Weise ist sie neben der Sozialen Selbstverwaltung daran beteiligt, den vom Gesetzgeber vorgegebenen Handlungsrahmen für die gesetzliche Krankenversicherung auszufüllen. Dies geschieht vor allem durch die zahlreichen vom Gesetzgeber geschaffenen Institutionen auf Bundes- und Landesebene sowie durch Verträge zwischen den Krankenkassen und den Leistungserbringern bzw. den Verbänden auf beiden Seiten.
Hierbei spielt die korporatistische Regulierung eine besonders große Rolle. Dies bedeutet, dass viele Tatbestände für Krankenkassen und für Leistungserbringer (bzw. einzelne Leistungserbringergruppen wie z.B. Vertragsärzte) kollektivvertraglich, also einheitlich und gemeinsam mit Geltungskraft für alle Mitglieder, durch die jeweiligen Verbände geregelt werden müssen. Die in Kollektivverträgen und den Gremien der Gemeinsamen Selbstverwaltung getroffenen Regelungen sind für die Individualakteure – also die einzelnen Krankenkassen, die Vertragsärzte, die Krankenhäuser, Versicherte, Patienten etc. – verbindlich. Unter den Institutionen, die solche kollektiv verbindlichen Entscheidungen treffen, ist der Gemeinsame Bundesausschuss von herausragender Bedeutung. Daneben haben seit der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre aber auch Selektivverträge (Individualverträge) zwischen einzelnen Krankenkassen und bestimmten Gemeinschaften von Leistungserbringern an Bedeutung gewonnen. Aber auch hier gelten in vielen Fällen die kollektivvertraglich geregelten Sachverhalte als Mindestregelungen für die Vertragsinhalte, z.B. auf dem Gebiet der Qualitätssicherung.
Wie die Soziale Selbstverwaltung unterliegt auch die Gemeinsame Selbstverwaltung der Rechtsaufsicht durch die jeweils zuständigen Behörden auf Bundes- und Landesebene. Sie können in diesem Rahmen Regelungen nicht nur beanstanden, sondern auch zum Instrument der Ersatzvornahme greifen
Krankenkassen im Wettbewerb
Seit 1996 haben die Mitglieder weitgehende Wahlmöglichkeiten unter den gesetzlichen Krankenkassen. Die Kassen befinden sich damit untereinander im Wettbewerb um Mitglieder.
Die Einführung von Wahlmöglichkeiten und Wettbewerb ist in einem breiten, parteiübergreifenden Konsens ("Kompromiss von Lahnstein" 1992) beschlossen worden. Die beteiligten Gesundheitspolitiker wollten damit mehrere Ziele erreichen:
Zum einen galt es, das bestehende System der Kassenzuweisung abzuschaffen, das mit nicht länger akzeptablen Ungleichbehandlungen verbunden war: Arbeiterinnen und Arbeiter wurden bis 1995 meist einer bestimmten Kasse zugewiesen und hatten keinerlei Wahlmöglichkeit. Angestellte konnten dagegen zwischen mehreren Kassen wählen. Zudem gab es eklatante Beitragssatzunterschiede zwischen den Krankenkassen zu Lasten der Arbeiterkassen.
Zum anderen sollte der Wettbewerb unter den Krankenkassen längerfristig dazu führen, dass die gesundheitliche Versorgung verbessert und stärker an den Wünschen und Bedürfnissen der Versicherten ausgerichtet würde. Maßgeblich war hier die Vorstellung, dass Wettbewerb die Krankenkassen und die Leistungserbringer dazu zwingen würde, den Versicherten möglichst gute Qualität zu einem möglichst günstigen Preis anzubieten.
Der Wettbewerb unter den Krankenkassen soll die gesundheitliche Versorgung verbessern. (© AP)
Der Wettbewerb unter den Krankenkassen soll die gesundheitliche Versorgung verbessern. (© AP)