Reformen des Risikostrukturausgleichs
Der Risikostrukturausgleich ist 1994 eingeführt und seitdem mehrmals reformiert worden. In seiner anfänglichen Variante berücksichtigte er die Indikatoren Alter, Einkommen, Geschlecht, Anzahl der beitragsfrei mitversicherten Familienangehörigen und Bezug einer Erwerbsminderungsrente. Die Krankheit und damit der Behandlungsbedarf einer Versichertengemeinschaft wurden hier nicht direkt erfasst, sondern nur indirekt mittels Indikatoren wie Alter und Geschlecht. Daher waren die Krankenkassen an einer Selektion guter Risiken interessiert und verzichteten weitgehend auf die Entwicklung von Programmen zur besseren Versorgung chronisch Kranker.
Angesichts dieser Fehlsteuerungen wurden die RSA-Indikatoren im Jahr 2002 erweitert: Nun erhielten die Krankenkassen zusätzliche Ausgleichszahlungen für Versicherte, die sich in besondere Versorgungsprogramme chronisch Kranke einschrieben (Disease Management Programme – DMP, siehe Lerntour "Versorgung und Regulierung – Aufbau eines integrierten Versorgungssystems").
Verwandte LerntourVersorgung und Regulierung – Aufbau eines integrierten Versorgungssystems
Damit wollte der Gesetzgeber die Krankenkassen veranlassen, solche Programme aufzulegen und damit die Versorgung chronisch Kranker zu verbessern. Dennoch blieben die Krankenkassen mit einer überdurchschnittlichen Krankheitslast finanziell weiter benachteiligt. Weiterhin hatten Krankenkassen ein Interesse daran, den Anteil behandlungsaufwendiger Versicherter so gering wie möglich zu halten. Daher folgte 2009 die Einführung eines "morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs" ("Morbi-RSA").
Seit 2009: Morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich
Das 2007 verabschiedete GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz organisierte den Risikostrukturausgleich neu. Erstmals wurden nun ausdrücklich auch Morbiditätsmerkmale direkt bei der Finanzmittelzuweisung an die Krankenkassen berücksichtigt ("morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich" – "Morbi-RSA"). Zugleich wurde die Finanzmittelzuweisung an die Krankenkassen mit der Einrichtung des Gesundheitsfonds neu organisiert (hierzu siehe Lerntour "Finanzierung: die Gesetzliche Krankenversicherung – der Gesundheitsfonds"). Diese Veränderungen traten zum 1.1.2009 in Kraft.
Verwandte LerntourFinanzierung: die Gesetzliche Krankenversicherung – der Gesundheitsfonds
Seitdem erhalten die Krankenkassen ihre Finanzmittelzuweisungen aus dem geschaffenen Gesundheitsfonds. Sie bestehen für die Pflichtleistungen der Krankenkassen aus einer Grundpauschale je Versichertem sowie risikoadjustierten Zu- und Abschlägen (siehe Abbildung "Funktionsweise des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs"). Diese Zu- und Abschläge bemessen sich nach dem Alter, dem Geschlecht und – dies ist neu – nach bestimmten Krankheitsmerkmalen der Versicherten richtet. Der Einkommensausgleich entfällt mit der Einführung des Gesundheitsfonds, weil die Beiträge nicht mehr an die einzelne Kasse, sondern zunächst in den Gesundheitsfonds fließen.
Das Bundesversicherungsamt legte einen Katalog von 80 Krankheiten fest, die im RSA zu berücksichtigen sind. Die Einstufung der Versicherten basiert auf ärztlichen Diagnosen. Diese Krankheiten sind besonders schwerwiegend, verlaufen chronisch und erfordern besonders hohe Aufwendungen. Krankenkassen, die einen höheren Anteil von Personen mit Krankheiten aus diesem Katalog haben, erhalten also einen entsprechend höheren Betrag aus dem Fonds. Das Bundesversicherungsamt ermittelt die Höhe der Grundpauschale sowie der Zu- und Abschläge und weist sie den Krankenkassen zu (§ 266 Abs. 5 SGB V). Grundpauschale sowie Zu- und Abschläge werden nach dem jeweiligen Stand der Erkenntnisse jährlich angepasst. Für Kinder erhalten die Krankenkassen einen einheitlichen Betrag aus dem Gesundheitsfonds. Er soll die durchschnittlichen Ausgaben für ihre Versorgung decken. Die Mittelzuweisung beruht auch beim Morbi-RSA weiterhin auf standardisierten Leistungsausgaben. Daher bleibt das Interesse der Krankenkassen an geringen Ausgaben bestehen.
Jenseits der Zuweisungen für die Pflichtleistungen erhalten die Krankenkassen weitere Mittel für die standardisierten Aufwendungen für satzungsgemäße Mehr- und Erprobungsleistungen sowie für ihre standardisierten Verwaltungsausgaben (§ 270 Abs. 1 SGB V). Der vorherige RSA hatte diese Kosten nicht berücksichtigt und somit nur 92 Prozent der Finanzkraft erfasst. Mit den Regelungen des GKV-WSG bezog sich der Ausgleich nun auf 100 Prozent der Finanzkraft.
Die Einführung von Morbiditätskriterien bedingte weitere Veränderungen am RSA. So wurde die Finanzierung der Disease Management Programme (DMPs) neu geregelt. Mit der Aufnahme von Krankheiten, die im Rahmen von DMPs versorgt werden, wurde die direkte Zuweisung für in DMPs eingeschriebene Versicherte überflüssig. Seit der Einführung des Morbi-RSA erhalten die Krankenkassen für jeden in ein DMP eingeschriebenen Versicherten nur noch eine Programmkostenpauschale. Sie gleicht die standardisierten Verwaltungskosten eines DMPs aus (§ 270 Abs. 1 SGB V).
Steuerungsprobleme des Morbi-RSA
Die Einführung von Morbiditätskriterien in den RSA stellt eine deutliche Verfeinerung der Anreizmechanismen in der GKV dar und trägt zu einer zielgenaueren Ressourcenallokation in der Krankenversorgung bei. Gleichwohl bringt auch diese Ausdifferenzierung von Anreizen diverse Steuerungsprobleme mit sich und hat deshalb in unterschiedlicher Hinsicht auch Kritik auf sich gezogen:
Die Beschränkung auf 80 Krankheiten ist sachlich nicht zu begründen, sondern vielmehr Ausdruck eines politischen Kompromisses.
Auch die Einführung des Morbi-RSA wird Anreize zur Risikoselektion nicht vermeiden, denn mit den berücksichtigten Krankheiten wird nur ein Teil des Behandlungsbedarfs einer Krankenkasse erfasst. Kassen mit ungünstigerer Risikostruktur werden auch weiterhin einen Wettbewerbsnachteil haben.
Krankenkassen haben ein Interesse daran, die Zahl ihrer Versicherten, die an einer im Morbi-RSA aufgenommenen Krankheiten leiden, zu erhöhen und entsprechende Manipulationen vorzunehmen bzw. Ärzte zu solchen Manipulationen zu veranlassen.
Krankenkassen, die für die Behandlung teurer Krankheiten Zuwendungen aus dem RSA erhalten, haben kein Interesse an einer wirksamen Prävention dieser Krankheiten.