Zuzahlungsregelungen
Die heute geltenden Zuzahlungsbestimmungen wurden im Wesentlichen mit dem Inkrafttreten des GKV-Gesundheitsmodernisierungsgesetzes (GMG) im Jahr 2004 verabschiedet. Mit dieser Reform wurden neue Zuzahlungen eingeführt (Praxisgebühr – bereits wieder abgeschafft, häusliche Krankenpflege) und bestehende Zuzahlungen erhöht. Sie orientieren sich seither an dem Richtwert von zehn Prozent der Kosten, wobei für jede einzelne Leistung mindestens fünf Euro (aber maximal der jeweilige Preis) und höchstens zehn Euro zuzuzahlen sind. Die im Jahr 2017 geltenden Zuzahlungsregelungen gehen aus der nachfolgenden Tabelle hervor.
Gesetzliche Sozial- und Überforderungsklauseln begrenzen allerdings in gewissem Maße die Höhe der individuellen Zuzahlungen:
Der Höchstbetrag für Zuzahlungen ist für jeden Versicherten auf 2 Prozent der Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt begrenzt (§ 62 SGB V). Der Versicherte muss das Erreichen der Belastungsgrenze gegenüber seiner Krankenkasse nachweisen und die Zuzahlungsbefreiung beantragen. Sind die Voraussetzungen erfüllt, so hat die Krankenkasse dem Versicherten eine entsprechende Bescheinigung auszustellen bzw. die zu viel gezahlten Zuzahlungen zu erstatten. Im Jahr 2015 waren aufgrund der 2-Prozent-Regelung gut 513.000 Versicherte von Zuzahlungen befreit .
Für chronisch Kranke, die wegen derselben schwerwiegenden Krankheit in Dauerbehandlung sind, gilt eine reduzierte Zuzahlungshöhe von maximal 1 Prozent der Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt (§ 62 SGB V). Auch chronisch Kranke müssen die Befreiung beantragen und entsprechende Nachweise liefern. Außerdem müssen sie die Dauerbehandlung gegenüber ihrer Krankenkasse jeweils spätestens nach dem Ablauf eines Kalenderjahres nachweisen. Im Jahr 2015 waren aufgrund dieser Regelung knapp 5,2 Millionen Versicherte von Zuzahlungen befreit .
Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sind von Zuzahlungen vollständig befreit, außer bei der Versorgung mit Zahnersatz.
Darüber hinaus hat das GMG die zuvor geltende vollständige Zuzahlungsbefreiung für sozial Schwache abgeschafft, also für solche Personen, die eine bestimmte Bruttoeinkommensgrenze unterschreiten oder Empfänger bestimmter staatlicher Fürsorgeleistungen waren.
In den zurückliegenden Jahren hat der Gesetzgeber verstärkt versucht, das Instrument der Zuzahlungen zu flexibilisieren, um die Inanspruchnahme von Leistungen durch die Versicherten in die gewünschte Richtung zu lenken. So sind Zuzahlungsnachlässe u.a. möglich, wenn die Versicherten
regelmäßig an qualitätsgesicherten Maßnahmen der Primärprävention oder der betrieblichen Gesundheitsförderung teilnehmen;
regelmäßig bestimmte Maßnahmen der Krankheitsfrüherkennung in Anspruch nehmen;
sich an der hausarztzentrierten Versorgung, an integrierten Versorgungsformen oder an strukturierten Behandlungsprogrammen für chronisch Kranke (Disease Management Programme) beteiligen.
Ebenso kann bei der Abgabe von rabattierten Arzneimitteln die betreffende Zuzahlung reduziert oder aufgehoben werden. Allerdings ist die Ermäßigung von oder der Verzicht auf Zuzahlungen an die begründete Erwartung geknüpft, dass dadurch insgesamt Einsparungen erzielt werden.
Motive für die Erhebung von Zuzahlungen
Die Motive für die Erhebung von Zuzahlungen sind unterschiedlich. Drei Motivbündel lassen sich unterscheiden:
Erstens soll die finanzielle Beteiligung an den Behandlungskosten für Versicherte einen Anreiz schaffen, sich auf die Inanspruchnahme "wirklich notwendiger" Leistungen zu beschränken. Hier schwingt offenkundig der Vorwurf mit, dass sie dies in mehr oder weniger großem Umfang nicht tun. Allerdings liegen dafür keine empirischen Belege vor. Außerdem wird der Großteil der Gesundheitsleistungen in der GKV durch Ärzte veranlasst ("Zweitinanspruchnahme"). Die Versicherten entscheiden die Versicherten nur darüber, ob sie einen Arzt aufsuchen ("Erstinanspruchnahme"). Hinter diesem Motiv, die Versicherten an den Kosten zu beteiligen, steckt die Erwartung, dass sie ihre Inanspruchnahme von Leistungen reduzieren und Zuzahlungen so indirekt zur Kostendämpfung beitragen.
Zweitens führen Zuzahlungen direkt zu einer Senkung der Leistungsausgaben, eben weil die Patienten einen Teil der Kosten selbst tragen. Im Jahr 2015 belief sich diese Summe auf knapp vier Milliarden Euro.
Drittens sollen Zuzahlungen ein gesundheitsbewusstes Verhalten der Versicherten fördern, weil sie dann Kosten in der Zukunft sparen können. Dass Zuzahlungen einen solchen Effekt haben, konnte bisher empirisch nicht nachgewiesen werden. Es deutet nichts daraufhin, dass ein solcher Effekt tatsächlich existiert. Für gesundheitsschädliche Verhaltensweisen sind meistens andere als finanzielle Gründe verantwortlich. Außerdem ist das Eintreten einer Erkrankung als Folge solcher Verhaltensweisen ein lediglich mögliches Ereignis in der Zukunft.
Wirkungen von Zuzahlungen – Einschränkungen des Solidarprinzips
Empirische Untersuchungen zeigen, dass Zuzahlungen vor allem dann die Inanspruchnahme beeinflussen, wenn sie für die Patienten finanziell deutlich spürbar sind. Dann treffen sie aber insbesondere sozial schwache Bevölkerungsschichten. Außerdem die Gefahr, dass medizinisch notwendige Behandlungen aus finanziellen Gründen unterbleiben oder verzögert werden. Analysen zur Wirkung der – 2013 abgeschafften – Praxisgebühr zeigen, dass Geringverdiener nach ihrer Einführung besonders häufig aus finanziellen Gründen auf den Arztbesuch verzichteten, ihn verschoben oder vorzogen (siehe nachfolgende Grafik).
Aber auch ungeachtet dessen stellen Zuzahlungen eine Verletzung des Solidarprinzips dar, weil sie Kranke und vor allem chronisch Kranke finanziell überproportional belasten und im Ergebnis die paritätische Finanzierung von Krankenbehandlungskosten aushöhlen.
Das Gesamtvolumen der Zuzahlungen zu GKV-Leistungen hat sich im Vergleich zu den frühen 1990er-Jahren erhöht. Im Jahr 2015 belief sich die Summe der Zuzahlungen auf gut 3,8 Milliarden Euro (Tabelle), also knapp zwei Prozent der GKV-Leistungsausgaben in diesem Jahr und rund 75 Euro pro GKV-Mitglied und Jahr.
Allerdings gehen die finanziellen Belastungen von Versicherten durch Zuzahlungen zu GKV-Leistungen noch weit über die Daten der GKV-Statistik hinaus. Zu den GKV-Zuzahlungen sind die so genannten Aufzahlungen zu addieren. Aufzahlungen sind die privaten Zahlungen zu solchen Leistungen, für die das GKV-Leistungsrecht nur Festzuschüsse vorsieht. Der Patient muss hier die Differenz zu den Gesamtkosten selbst tragen. Dies betrifft v.a. den Zahnersatz und die Hilfsmittel. Der Umfang dieser Aufzahlungen lässt sich nicht genau beziffern, weil sie privat zwischen Patient und Arzt abgewickelt werden, dürfte aber erheblich sein. Zudem ist es bei diesen Leistungen häufig schwierig, zwischen notwendigen und nicht notwendigen Leistungen zu unterscheiden. Des Weiteren enthält die GKV-Zuzahlungsstatistik nicht die Zahlungen für die so genannten individuellen Gesundheitsleistungen (siehe Lerntour Leistungskatalog).
Verwandte Lerntour
Wie solidarisch ist die gesetzliche Krankenversicherung? Teil 3: Interner Link: Der Leistungskatalog
Welche Kriterien staatliche Sozialpolitik bei der Finanzierung und der Leistungsgewährung zugrunde legt, ist Produkt sozialer Auseinandersetzungen und darauf bezogener Handlungsstrategien. Wenn die GKV am Beginn dieses Jahrhunderts in hohem Maße am Solidarprinzip ausgerichtet ist, so ist dies Ausdruck der in diesem Prozess wirkenden Kräfteverhältnisse und der auf ihrer Grundlage getroffenen Entscheidungen. Die Frage, ob und inwiefern die Ausrichtung am Solidarprinzip weiter Bestand haben soll, wird dabei durchaus kontrovers diskutiert. Ihre Beantwortung ist aus gegenwärtiger Perspektive offen.
Der Solidarausgleich hat sich in den Nachkriegsjahrzehnten als ein bedeutsamer Orientierungspunkt in der Entwicklung der GKV herauskristallisiert. Allerdings haben sich dort bis in die Gegenwart immer auch Bestimmungen zur Finanzierung sowie zum Leistungs- und Organisationsrecht gehalten, die dem Solidarprinzip zuwiderlaufen. Darin kommt zum Ausdruck, dass es bei Sozialpolitik immer auch darum geht, bestimmte soziale Gruppen durch die Gewährung von Privilegien an den Staat und die von ihm geschaffene Sozialordnung zu binden . Seit Mitte der 1970er Jahre und insbesondere durch die Gesundheitsreformen seit der Jahrhundertwende haben sich die Tendenzen zur Aushöhlung des Solidarprinzips deutlich verstärkt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist seine Geltung in der GKV in erster Linie durch die nachfolgend genannten Merkmale eingeschränkt.
Die erwähnten Zuzahlungen führen dazu, dass Kranke, insbesondere chronisch Kranke, überproportional mit Kosten belastet und die das Solidarprinzip kennzeichnenden Umverteilungsmechanismen geschwächt werden.
Die seit 2003 verabschiedeten Reformen (GMG, GKV-WSG, GKV-FinG) stellen eine Abkehr vom Grundsatz der paritätischen Beitragsfinanzierung als einem Kernelement des Solidarprinzips in der GKV dar. Der 2005 eingeführte Sonderbeitrag für die Versicherten in Höhe von 0,9 Prozentpunkten, die Einführung eines Zusatzbeitrags 2009 und dessen Erhöhung im Jahr 2011 mit der Option seiner unbegrenzten Ausweitung bei gleichzeitigem Einfrieren des Arbeitgeberbeitragssatzes verlagern die Finanzierungslasten aller künftigen Ausgabenüberhänge auf die Schultern der Versicherten. Mehr noch: Das GKV-FinG 2010 hat mit den erwähnten Bestimmungen die Tür zu einem vollständigen Umbau des GKV-Finanzierungssystems aufgestoßen.
Die seit 2007 allen Versicherten eingeräumte Option für monetäre Wahltarife begünstigt junge und gesunde Versicherte. Personen mit höherem Erkrankungsrisiko und chronisch Kranke dürften von diesen Angeboten keinen Gebrauch machen. Dem Solidarsystem werden durch die betreffenden Beitragsermäßigungen Mittel entzogen, die auf die Versichertengemeinschaft umgelegt werden müssen. Der Solidarausgleich wird damit geschwächt. Zugleich erhalten die Krankenkassen damit eine Option, Strategien der Risikoselektion zu verfolgen. Mit Selbstbehalt- und Beitragsrückerstattungsmodellen halten Prinzipien der privaten Krankenversicherung Einzug in die GKV.