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"Wir wollen wieder in die Schule" – Schule als sozialen Ort (wieder)entdecken

Wilfried Schubarth

/ 15 Minuten zu lesen

Kinder und Jugendliche sind von der Corona-Krise besonders betroffen. In der Krise haben sie die Schule als sozialen Ort, als Ort der Begegnung mit Freunden und Lehrkräften vermisst. Dies belegt die Relevanz der sozialen Dimension von Schule, die es künftig auszubauen gilt.

Dieser Beitrag ist eine Vorabveröffentlichung aus Interner Link: Aus Politik und Zeitgeschichte, Ausgabe "Schule", die am 14. Dezember 2020 erscheint.

Schülerinnen einer sechsten Klasse stehen vor Beginn des Unterrichts am ersten Schultag nach den Sommerferien an der Max-Planck-Schule in Kiel zusammen. (© picture-alliance/dpa)

Als Bundeskanzlerin Angela Merkel auf ihrer traditionellen Sommerpressekonferenz Ende August 2020 ihre Ziele für die nächste Zeit verkündete, stand die Aussage, "alles zu tun, dass unsere Kinder nicht Verlierer der Pandemie sind" ganz oben – noch vor dem Wirtschaftsleben und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Damit zeigte die Bundesregierung eine steile Lernkurve, waren doch Kinder und Jugendliche während der Corona-Pandemie lange Zeit nicht im Fokus gewesen. Seitdem lernen wir täglich mehr über die Pandemie und das Leben mit ihr. Dazu gehört, die Erfahrungen der Corona-Krise für die Zukunft kritisch aufzuarbeiten, auch im Bereich von Schule und Bildung.

In diesem Beitrag gehe ich den Fragen nach, was aus der Corona-Krise über Schule als sozialen Ort gelernt werden kann und was das für die Zukunft von Schule und Bildung bedeuten könnte. Dabei wird zunächst anhand aktueller Studien gezeigt, inwieweit Kinder und Jugendliche eine vernachlässigte Gruppe in der Corona-Krise waren. Daran anschließend werden theoretische und empirische Perspektiven auf Schule als sozialkommunikativer Lern- und Erfahrungsraum entwickelt und abschließend Folgerungen für Schule und Bildung abgeleitet.

Kinder und Jugendliche als Verlierer der Krise?

Bereits Ende April, sechs Wochen nach dem "Lockdown", fragte die Deutsche Presse-Agentur "Sind Kinder die Verlierer der Corona-Krise?" und verwies auf gesperrte Spielplätze, Kontaktverbote zu Peers und Großeltern sowie die weitgehende Schließung von Kitas und Schulen. Expert*innen wurden zitiert, die auf mögliche negative Folgen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen hinwiesen, so auf psychosoziale Schäden durch Eingesperrtsein und Kontaktverbote sowie auf die Überforderung der Familien durch "E-Schooling", was zu enormen Spannungen oder gar zu Gewalt führen könne. "E-Schooling" könne die Lehrkraft nicht ersetzen. Die Bedürfnisse von Kindern seien bisher nicht berücksichtigt worden – so ein erstes Fazit. Eine "Generation Corona" sei zu erwarten, äußerte die Sozialpsychologin Barbara Krahé im "Tagesspiegel".

Die in der Folgezeit präsentierten Studien schienen die Befürchtungen der Expert*innen zu bestätigen. Als erstes machten die JuCo- und KiCo-Studien der Universitäten Frankfurt am Main und Hildesheim auf die Probleme von Kindern und Jugendlichen aufmerksam. So zeigte die JuCo-Studie, eine Online-Befragung unter etwa 6000 Jugendlichen im Zeitraum April 2020, dass Jugendliche und junge Erwachsene nicht den Eindruck hatten, dass ihre Interessen in der derzeitigen Krise zählten. Ihre Sorgen würden nicht gehört, und in die Gestaltungsprozesse wären sie nicht eingebunden. Einsamkeitsgefühle und Verunsicherung seien verbreitet. Problematisch sei, dass sie nicht als junge Menschen, sondern ausschließlich als Schüler*innen gesehen werden, die im System funktionieren sollen. Das Autorenteam schlussfolgerte, dass das Recht junger Menschen auf Beteiligung und Schutz kein "Schönwetterrecht" sei, sondern krisenfest sein müsse, denn schließlich seien die Rechte der jungen Menschen Grundrechte, deren Einschränkung begründet werden müsse.

Die parallel vorgenommene KiCo-Studie unter etwa 25 000 Eltern mit Kindern machte auf die Belastungen in den Familien aufmerksam, die mit dem Wegbrechen der Infrastruktur für Kinder und Jugendliche und die prekäre Situation in den Betreuungs-, Freizeit- und Bildungsangeboten entstanden waren. Familien seien eine Art Seismograph für gesellschaftliche Probleme, wobei sich soziale Folgen besonders dort zeigen würden, wo bereits vorher strukturelle Benachteiligung und mehrfache Belastungen vorlagen – ein Befund, der in den nachfolgenden Studien immer wieder bestätigt wurde. Gegenüber dem "Homeschooling" zeigten sich die Eltern eher neutral, die Unterstützung durch Lehrkräfte sowie die Information seitens der Schulen wurde dagegen mehrheitlich kritisiert.

Die Herausforderungen für Familien, aber auch die Gefährdungen für das Kindeswohl verdeutlichen zwei Studien des Deutschen Jugendinstituts: "Die Ergebnisse zur Betreuung und dem Kontakt zu Lehrkräften und Erzieher/innen legen nahe, dass es bisher im Zweifelsfall den Eltern überlassen bleibt, die Situation zu meistern – und wenn dies nicht gelingt, sind Kinder die Leidtragenden (…) Da sich noch kein Ende der Corona-Krise abzeichnet und es in einer globalisierten Gesellschaft jederzeit wieder zu einer solchen Krise kommen kann, sollte alles darangesetzt werden, Konzepte zu erstellen, die Familien in solchen Situationen noch stärker entlasten und das Wohl der Kinder in den Mittelpunkt stellen." Eine bundesweite Befragung von Jugendämtern konnte die Annahme eines Anstieges von Kindeswohlgefährdung zwar nicht belegen, verwies jedoch auf ein größer werdendes Dunkelfeld, da Fälle von Missbrauch, Gewalt und Vernachlässigung junger Menschen aufgrund unterbrochener Kommunikationswege nicht ausreichend erkannt würden. Zudem könnten zusätzliche Unterstützungsbedarfe entstehen. Zu bedenken seien auch mögliche "Spätfolgen", da Kinder für ihre Entwicklung andere Kinder, Bewegungsfreiheit und Erfahrungsräume bräuchten.

Einen ersten Eindruck über das Ausmaß häuslicher Gewalt im "Lockdown" vermittelte Anfang Juni eine Studie der Technischen Universität München auf Grundlage einer repräsentativen Online-Befragung unter rund 3800 Frauen zwischen 18 und 65 Jahren. Danach wurden in 6,5 Prozent aller Haushalte Kinder gewalttätig bestraft. Etwa 3 Prozent der Frauen wurden Opfer körperlicher Gewalt. 3,6 Prozent wurden von ihrem Partner vergewaltigt. Bei Frauen in Quarantäne und bei Familien mit finanziellen Problemen lagen die Zahlen deutlich höher. Nur ein sehr kleiner Teil der Betroffenen nutzte Hilfsangebote, weshalb die Werbung für solche Angebote ausgebaut werden sollte.

Am 10. Juli 2020 wurde die COPSY-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf vorgestellt, eine bundesweite Online-Befragung von über 1000 Kindern und Jugendlichen zwischen 11 und 17 Jahren sowie mehr als 1500 Eltern zu Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die psychische Gesundheit. Demnach habe sich die Lebensqualität der Kinder und Jugendlichen während der Corona-Pandemie verschlechtert. Zwei Drittel gaben eine verminderte Lebensqualität und ein geringeres psychisches Wohlbefinden an (im Vergleich: vor der Corona-Pandemie nur ein Drittel). Das Risiko für psychische Auffälligkeiten sei von 18 Prozent auf 31 Prozent angestiegen. Hyperaktivität (24 Prozent), emotionale Probleme (21 Prozent) und Verhaltensprobleme (19 Prozent) traten vermehrt auf, ebenso psychosomatische Beschwerden wie Gereiztheit (54 Prozent), Einschlafprobleme (44 Prozent) sowie Kopf- und Bauchschmerzen (40 bzw. 31 Prozent). Lernen sei für zwei Drittel anstrengender geworden. Der Schulalltag wurde teilweise als extrem belastend empfunden. Auch in den Familien habe sich die Stimmung verschlechtert: 27 Prozent der Kinder und Jugendlichen und 37 Prozent der Eltern berichteten, dass sie sich häufiger streiten als vor der Corona-Krise. Vor allem Kinder, deren Eltern einen niedrigen Bildungsabschluss oder einen Migrationshintergrund haben, erlebten die Veränderungen als äußerst schwierig. Finanzielle Probleme, beengter Wohnraum und eine fehlende Tagestruktur seien Risikofaktoren, weshalb Unterstützungskonzepte für Familien eingefordert werden. Zu ähnlichen Befunden gelangte eine Befragung von 150 Kinderärzten, die vor allem vor den Spätfolgen und möglichen Entwicklungsverzögerungen warnten.

Als erstes Zwischenfazit ist festzuhalten, dass Kinder und Jugendliche unter der Corona-Pandemie besonders zu leiden hatten und dass ihre Interessen und Bedürfnisse vernachlässigt wurden. Ihr Grundrecht auf Beteiligung sollte auch in Krisenzeiten gegeben sein. Das heißt auch, sie als junge Menschen zu respektieren und ihnen nicht nur die Rolle der Schülerin beziehungsweise des Schülers zuzuschreiben.

"Wir wollen wieder in die Schule"

Wie haben nun die Kinder und Jugendlichen den Fernunterricht in der Corona-Krise erlebt? Wer oder was wurde vermisst? Und was sagen die schulbezogenen Corona-Studien dazu?

Schon wenige Wochen nach der Schulschließung häuften sich Berichte, dass Schüler*innen die Schule vermissten, eine bis dahin kaum bekannte Erfahrung. Celine Jeschkeit (14), Binz: "Es ist für mich eine neue Erfahrung, digital unterrichtet zu werden, was ich persönlich nicht so gut finde. Im Klassenzimmer ist es jederzeit möglich, miteinander zu sprechen, Fragen zu stellen und ein Feedback zu bekommen. Da das im Moment nicht möglich ist, ist es wichtig, in Kontakt mit den Mitschülern zu bleiben." Ähnlich David Simovski aus Dagersheim, Jahrgangsstufe 1 des Technischen Gymnasiums, der vor allem seine Freunde vermisste: "Das Gemeinschaftsgefühl in der Klasse fehlt mir. Auch den meisten meiner Freunde geht es so." Das beobachtete auch Herbert Waldschmidt, Gottlieb-Daimler-Schule in Sindelfingen: "Viele Schüler sagen: 'Wir wollen wieder in die Schule.'" Und als die Schulen langsam wieder öffnen konnten, erkannte Lutz Feudel, Schulleiter am Gymnasium Landsberg: "Man lernt Dinge erst zu schätzen, wenn man sie plötzlich nicht mehr hat. Deswegen sind die Schülerinnen und Schüler froh, dass sie wiederkommen dürfen. Die Krise bringt auch positive Erfahrungen mit sich". Aber auch negative, so Andreas Slowig, Leiter des Christian-Woll-Gymnasiums in Halle: "Die Schere zwischen starken und schwächeren Schülerinnen und Schülern ist noch weiter auseinandergegangen." Bei der Rückkehr ins Schulhaus überwog jedoch die Freude: "Sieben Wochen Schule zu Hause hinterlassen Spuren. Die Schüler sind strahlend wiedergekommen. So etwas habe ich in 20 Jahren als Lehrer noch nicht erlebt. Aber klar, zuhause herrscht auf Dauer auch eine bedrückende Lernatmosphäre." Dass Kinder und Jugendliche besonders stark unter der Kontaktbeschränkung litten, wurde durch die Studie der TUI Stiftung belegt, womit frühere Befunde bestätigt wurden: Auf die Frage, was sie an der Schule besonders mögen, nannten zwei Drittel der 10- bis 18-Jährigen das Treffen mit Freunden und nur 23 Prozent, dass sie dort etwas lernen können.

Während die Erfahrungsberichte typische Stimmungen im "Lockdown" wiedergeben, konzentrierten sich die schulbezogenen Studien vor allem auf das Lernen im Fernunterricht. Danach habe die Krise bestehende Bildungsungleichheiten verschärft. Schereneffekte werden vor allem auf fehlende Kompetenzen zum selbstgesteuerten Lernen und zur Selbstorganisation des Tagesablaufes zurückgeführt, was wiederum mit fehlenden Entwicklungsmöglichkeiten in benachteiligten Familien zusammenhängt. Besonders große Herausforderungen werden für Schulen in "sozialen Brennpunkten" und bei Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf diagnostiziert.

Die Lernzeit habe sich, Elternbefragungen zufolge, von 7,4 auf 3,6 Stunden halbiert; umgekehrt sei die Zeit mit Computer, Fernsehen und Handy von 4 auf 5,1 Stunden angestiegen. Neben Wissenslücken wurde auch eine Vertrauenslücke konstatiert, da die Hälfte der Kinder nie Online-Unterricht und nie ein persönliches Gespräch mit einer Lehrkraft in dieser Zeit gehabt hätte. Auch wurden die Folgen der verminderten Lernzeit für das Erwerbseinkommen und den künftigen Arbeitsmarkterfolg berechnet. Im Unterschied zu den Eltern schätzen die Lehrkräfte den Fernunterricht so ein: Etwa ein Drittel hätten zu sämtlichen Schüler*innen Kontakt gehalten, die Hälfte hätte einen Großteil erreicht, nur drei Prozent hätten keinen Kontakt gehabt. Die Mehrheit befürchtet, dass der Einfluss des Elternhauses auf die schulischen Leistungen zugenommen habe. Zwei Drittel der Schulen hatten für den Fernunterricht kein Gesamtkonzept, bei digital gestütztem Lernen bestehe großer Nachholbedarf. Die Lernenden wünschten sich für künftigen Fernunterricht häufigeres Feedback, mehr Videokonferenzen und Erklärvideos sowie eine bessere Organisation. Expert*innen gaben Hinweise für eine Verbesserung des häuslichen Lernens für Lehrkräfte, Eltern und Bildungsadministration.

Als zweites Zwischenfazit ist zu festzustellen, dass Schüler*innen ihre Freunde, ihre Klasse und Lehrkräfte vermisst haben. In den Schulstudien kommt das jedoch kaum vor. Diese konzentrieren sich auf mangelnden Wissenszuwachs und auf sich verschärfende Ungleichheiten, während mögliche Verluste an sozialem Lernen sowie die sozialkommunikativen Bedürfnisse der Schüler*innen meist außen vor bleiben. Schule erscheint als reine Unterrichtsanstalt, die Wissenszuwachs zu generieren habe. Angesichts scheinbar zunehmender Probleme infolge der Corona-Krise stellt sich die Frage nach Defiziten im sozialen Umgang und entsprechenden Konsequenzen umso dringender.

Wozu ist die Schule da?

Dieser Kontrast von im "Lockdown" erlebter Bedeutung von Schule als sozialkommunikativer Ort einerseits und der Fokussierung auf Schulleistungen andererseits führt zur Frage, welche Leitbilder von Schule in der Gesellschaft existieren und wozu Schule eigentlich da ist – eine Frage, die seit Längerem diskutiert wird. In der Schultheorie ist Konsens, dass Schule verschiedene gesellschaftliche Funktionen zu erfüllen hat, die ein Spannungsfeld bilden: die Enkulturationsfunktion, die in die Kultur und Sinnsysteme einführt; die Qualifikationsfunktion, die auf berufsrelevante Fähigkeiten zielt; die Allokationsfunktion, die über Prüfungen unterschiedliche Berufslaufbahnen zuweist; und die Integrationsfunktion, die über die Vermittlung von Werten und Normen die gesellschaftspolitische Ordnung stabilisieren und zur Demokratisierung der Gesellschaft beitragen soll. Mitunter wird noch die Funktion als Treffpunkt für die Peergroup hinzugezählt. Gerade letztere wurde von den Schüler*innen im "Lockdown" als besonders bedeutsam erlebt, wurden doch vor allem die Peers vermisst. Insofern ist Schule der beste Platz, sich mit Freund*innen zu treffen.

Vor dem Hintergrund der skizierten Befundlage wird die These vertreten, dass sich durch die Corona-Krise die Spannung zwischen den Funktionen von Schule weiter verschärft hat: Die Diskussionen um die Abschlussprüfungen sowie um verminderte schulische Leistungen zeigen, dass der Fokus auf der Allokations- und die Qualifikationsfunktionen liegt, während die Legitimationsfunktion, insbesondere die Werte- und Demokratiebildung, außen vor blieb. Somit wurden die in den Bildungs- und Erziehungszielen formulierten personalen und sozialen Kompetenzen nur sehr eingeschränkt gefördert. Ausdruck dieser Schieflage ist die Wahrnehmung der Kinder und Jugendlichen vornehmlich als Leistungsträger*innen und die weitgehende Negierung ihrer sozialkommunikativen sowie Partizipationsbedürfnisse. Auch unsere Studien belegen diese Schieflage. So nehmen Lehrkräfte Mobbingfälle vor allem durch ihre "Leistungsbrille" wahr, was eine konstruktive Konfliktlösung erschwert.

Das Auseinanderfallen zwischen dem funktionalen und dem sozialen System von Schule führt nach dem Sozialpädagogen Lothar Böhnisch zu einem "Anomieproblem", dessen Kennzeichen die Trennung von Schüler*innenrolle und Schüler*innensein sei. Während bei Letzterem der junge Mensch als Ganzes gesehen wird, wird er bei der Schüler*innenrolle auf das Funktionieren im System Schule reduziert. Auch der Pädagoge Helmut Fend unterscheidet verschiedene Systeme von Schule – das Funktionssystem der Leistungserbringung, der sozialen Akzeptanz und das Selbstsystem – und plädiert für eine "ganzheitliche" Persönlichkeitsentwicklung, die Leistung, Selbstwertgefühl und soziale Empathie umfasst. Die Berichte über vermisste Rückmeldungen und mangelnde Lernmotivation verdeutlichen, dass Lernen vor allem ein sozialer Prozess ist, der von der unmittelbaren Interaktion lebt. Gerade der junge Mensch braucht für seine Entwicklung das Gegenüber und die Gruppe als Spiegelung und Anreiz. Digitalisierung und Fernunterricht können die direkte Begegnung nicht ersetzen. Die Bedeutung der Schule und Schulklasse als soziales System, der Lehrer-Schüler-Beziehung sowie der Peerkultur für das Gelingen des Bildungs- und Erziehungsauftrages ist belegt. Auch in der Gewalt- sowie der Gesundheitsforschung erweisen sich das Schul- beziehungsweise Klassenklima als wichtige Faktoren.

In den vergangenen Jahren wurden immer wieder Visionen von Schulen entwickelt: vom "Gemeinsamen Haus des Lernens" (1995) über "Bildung neu denken" (2003) bis zum "New Learning" (2020). Der Bildungsforscher Hans Brügelmann hat ein Bild von Schule als Ort der Begegnung von Generationen und von Kulturen entworfen, die die Aufgabe hat, gemeinsame Orientierungen zu entwickeln, die trotz aller Verschiedenheit tragfähig sind. Im Unterschied zur PISA-Debatte, die den Blick verengt hätte, setzt er auf Selbst- und Mitbestimmung, Partizipation und die Vorbereitung der Schüler*innen auf ihre Rolle als Bürger*innen in der Demokratie. Angesichts der Polarisierung in der Gesellschaft und der Anfälligkeit auch Jugendlicher für Rechtspopulismus und Verschwörungsmythen ist die Diskussion um Partizipation, Werte- und Demokratiebildung längst überfällig.

Die Corona-Krise, so das dritte Zwischenfazit, hat die soziale Schieflage des Systems Schule offengelegt, einschließlich der Vernachlässigung des sozialen Systems von Schule. Eine Verbesserung der sozialen Qualität von Schule könnte auch die Bildungsungleichheiten vermindern helfen. Reformorientierte Schulen und Schulpreisträger-Schulen zeigen, wie das gelingen kann.

Fazit: Schule als sozialen und demokratischen Ort gestalten

Aus dem Dargelegten lassen sich fünf Punkte resümieren beziehungsweise ableiten:

  1. Kinder und Jugendliche sind von der Corona-Krise in mehrfacher Hinsicht betroffen: ihre Freiräume, Entwicklungsmöglichkeiten und sozialen Beziehungen sind eingeengt, hinzu kommen psychische Belastungen und Gefährdungen des Kindeswohl. Eine "Generation Corona" könnte die Folge sein. Dies steht im Kontrast zur öffentlichen Debatte, bei der sie oft nur als Leistungsträger*innen oder exzessive Partygänger*innen vorkommen.

  2. Kinder und Jugendliche haben in der Corona-Krise die Schule als sozialen Ort, als Ort der Begegnung mit ihren Freunden und Lehrkräften vermisst. In Entscheidungsprozesse an ihren Schulen wurden sie nicht einbezogen. Grund genug, die auch durch den PISA-Boom vernachlässigten sozialen Dimensionen von Schule (wieder) zu entdecken, die Partizipations- und sozialkommunikativen Bedürfnisse zu fördern und Ansätze des sozialen und Demokratie-Lernens auszubauen. Die Facetten des Sozialen sind vielfältig und reichen von der Beziehungs- und Schulkultur bis zur Architektur. Der Beitrag der Digitalisierung hingegen ist hier begrenzt.

  3. Die schulbezogenen Corona-Studien fokussieren auf den Fernunterricht. Wichtig wäre aber auch, die Entwicklung sozialer und demokratierelevanter Kompetenzen zu untersuchen und zu fördern und außerschulische Lernorte und Akteur*innen einzubeziehen.

  4. Für eine praxistaugliche Lehrkräftebildung heißt das, die sozialen Interaktionen zu professionalisieren und der Werte- und Demokratiebildung mehr Bedeutung beizumessen, einschließlich der Prävention von Gewalt, Mobbing, Extremismus und Hate Speech.

  5. Die Politik sollte erkennen, dass Schulen systemrelevant sind, nicht nur für den Wirtschaftsstandort, sondern auch langfristig für den Erhalt der Demokratie und das Überleben der Menschheit. Eine Krise ist bekanntlich auch eine Chance für Selbstreflexion und Neuanfang. Ob sie genutzt wird, wird die Zeit zeigen.

Dieser Beitrag ist eine Vorabveröffentlichung aus Interner Link: Aus Politik und Zeitgeschichte, Ausgabe "Schule", die am 14. Dezember 2020 erscheint.

ist Professor für Erziehungs- und Sozialisationstheorie am Department Erziehungswissenschaften der Universität Potsdam. E-Mail Link: wilschub@uni-potsdam.de