bpb.de: Im Zentrum der Berichterstattung über die Corona-Krise stehen in Deutschland oft die Entwicklungen in Europa, den USA und Ostasien. Wie trifft die Pandemie andere Regionen der Welt?
Irene Weipert-Fenner: Die Regionen, die immer mehr in unsere Aufmerksamkeit rücken, sind die des sogenannten Globalen Südens. Wir sehen dramatische Entwicklungen der Fallzahlen von Corona-Infizierten in Lateinamerika, beispielsweise in Brasilien, Peru und Mexiko. In Subsahara-Afrika ist ein Anstieg der Fallzahlen zu erwarten, ebenso in Westasien und Nordafrika (WANA). Die offiziellen Zahlen sind dort noch gar nicht so hoch, was aber wohl daran liegt, dass wenig getestet wird. Einen wirklichen Eindruck über das Ausmaß der Krise wird man wahrscheinlich erst bekommen, wenn – so dramatisch das ist – die Todeszahlen steigen.
Kurz erklärtWestasien und Nordafrika
Die Region Westasien und Nordafrika (WANA) erstreckt sich von Afghanistan, Iran über Irak, Syrien, und Libanon bis ans Mittelmeer. Zu ihr gehören auch die Golfstaaten sowie die Länder im Norden Afrikas einschließlich Sudan und Mauretanien. Anders als die Bezeichnung "Naher und Mittlerer Osten" ist der Begriff "WANA" der Versuch, sich von einem eurozentristischen Blick auf die Region loszulösen ("nah" in Bezug auf Europa) und eine geographisch neutralere Betrachtungsweise zu verwenden.
Gibt es Regionen oder Länder, die besonders gefährdet sind?
Besonders gefährdet sind Länder, in denen Krieg oder bewaffnete Konflikte herrschen. Ein fragiler oder bereits zusammengebrochener Staat kann nicht die nötige Infrastruktur liefern, um das Virus einzudämmen. Dies trifft beispielsweise auf Länder in der sogenannten WANA-Region zu. Hier sind vor allem Externer Link: Syrien,
Zusätzlich gibt es besonders in Nordafrika informelle Bereiche, die vom Staat weder registriert noch kontrolliert werden, beispielsweise informelle Siedlungen, sogenannte Slums. Oft sind diese nicht an öffentliche Infrastruktur, wie Wasserversorgung oder Verkehr, angeschlossen. Stattdessen gibt es informelle Transportmöglichkeiten, etwa Sammeltaxis oder Mikrobusse. Hier ist ein Mindestabstand oder die Einhaltung von Hygieneregeln so gut wie unmöglich.
Darüber hinaus arbeiten in der WANA-Region Externer Link: bis zu 70 Prozent der Menschen im sogenannten informellen Sektor, beispielsweise im Straßenhandel oder als Tagelöhner. Der Zugang zum Gesundheitssystem und den Rentenkassen ist aber in vielen Ländern der Region an formale Beschäftigung gebunden. Viele Menschen des informellen Sektors leben daher sprichwörtlich von der Hand in den Mund. Die meisten Länder der Region haben relativ schnell auf die Krise reagiert, indem sie Ausgangsbeschränkungen drastischer Art verhängten. Wenn aber beispielsweise ein Straßenhändler das Haus nicht verlassen darf, verdient er kein Geld mehr. Da ihm meist soziale Sicherungssysteme fehlen, bedeutet das, dass er sich keine Nahrungsmittel leisten kann – zumal aktuell in der WANA-Region die Lebensmittelpreise ansteigen. Wenn er aber weiterhin arbeiten geht, um sich und seine Familie zu ernähren, riskiert er, sich oder andere anzustecken.
Welche Maßnahmen gibt es auf nationaler Ebene, um soziale und wirtschaftliche Sicherheit zu gewährleisten?
Es werden vor allem Kredite gestundet – also deren Rückzahlung aufgeschoben – und insbesondere für kleinere und mittlere Unternehmen neue Kredite gewährt, um die Geschäfte weiterlaufen zu lassen und die Menschen in Arbeit zu halten. Eine weitere Maßnahme ist, Steuern später zahlen zu lassen, um das Geld im Wirtschaftssystem zu halten.
Kurz erklärtGlobaler Süden
Mit dem Begriff "Globaler Süden" wird umschrieben, dass bestimmte Länder und Regionen eine politisch und wirtschaftlich benachteiligte Position in einer globalisierten Welt einnehmen. Das sind beispielswiese viele Regionen oder Länder mit Kolonialerfahrung. Dabei ist Süden hier keine rein geografische Zuordnung, da Länder des "Globalen Südens" auch auf der Nordhalbkugel liegen können und bspw. Australien auf der Südhalbkugel als Industriestaat nicht zu diesen Ländern gezählt wird. Anders als mit dem Begriff "Entwicklungsländer" soll betont werden, dass Ungleichheiten kein Merkmal einzelner Länder sind, sondern sich weltweit in unterschiedlichen Konstellationen wiederfinden.
In den vergangenen Jahren gab es zudem Reformansätze hin zu direkten Auszahlungen an Bedürftige, die im Zuge der Corona-Krise in vielen Ländern nun ausgeweitet werden – auch auf informelle Arbeiterinnen und Arbeiter, um diese direkt in ihrer Überlebenssicherung zu unterstützen und auf diese Weise auch Proteste zu vermeiden. In Ägypten wird beispielsweise der Versuch unternommen, Gelder an informell Arbeitende über Poststellen auszuteilen. Zur Finanzierung dieser Maßnahmen werden in einigen Ländern, wie etwa Marokko, Corona-Fonds gegründet, wobei dabei auf die Solidarität der eigenen Bevölkerung gebaut wird. Privatpersonen sowie Unternehmen zahlen beispielsweise Spenden, um dem Staat noch zusätzliches Geld zur Verfügung zu stellen.
Das große Problem ist aber, dass die statistische Datenlage je nach Land sehr unterschiedlich und der Zugang zu den Bedürftigen meist mangelhaft ist. Zudem werden die finanziellen Mittel schnell erschöpft sein. Letztlich bleibt es bei der Frage, wie lange es sich Menschen leisten können, zu Hause zu bleiben.
Welche Rolle spielen regionale Akteure bei der Bewältigung der Krise?
Potenziell gäbe es für regionale Organisationen eine Menge zu tun. Die
Welche internationalen Initiativen gibt es?
Eine zentrale Rolle kommt dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zu. Hierbei geht es um finanzielle Nothilfen und darum, Gelder schnell aufzutreiben, um die genannten nationalen Maßnahmen finanzieren zu können. Dabei gibt es leider erneut einen Trend hin zu Krediten, dauerhafter Verschuldung und somit internationaler Abhängigkeit der Länder. Der Rückzug des Staates aus der Gesundheitsversorgung oder der Bereitstellung von öffentlicher Infrastruktur war auch ein Produkt der
In Ländern, wo sowohl die Möglichkeiten für die Eindämmung des Virus als auch die Gesundheitsversorgung desolat sind, wird zudem versucht, mit finanzieller und logistischer Unterstützung humanitäre Katastrophen zu verhindern. Das gilt insbesondere für die besonders gefährdeten Bürgerkriegsgebiete. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) versucht beispielsweise in Syrien zu helfen, die Weltbank im Jemen-Konflikt. Damit sind ebenfalls Dilemmata verbunden. In Syrien gibt es etwa Rebellengebiete im Nordwesten sowie die kurdische Selbstverwaltung im Nordosten, die dem syrischen Regime Baschar al-Assads ein Dorn im Auge sind. Die WHO kooperiert in Syrien jedoch vornehmlich mit den offiziellen Machthabenden, also dem Assad-Regime. Wer unterstützt dann aber medizinisch die Menschen im Nordosten und Nordwesten des Landes? Internationale Hilfe wird so schnell ein Druckmittel der autoritären Regime selbst, indem Rebellengebiete konsequent von dieser Versorgung abgeschnitten werden, um damit den Druck auf die Rebellen zu erhöhen.
Welche politischen Auswirkungen der Corona-Pandemie zeichnen sich ab?
Es gibt kurz-, mittel- und langfristige Auswirkungen. Kurzfristige Auswirkungen hängen vom Krisenmanagement ab. Wenn die Regierungen beziehungsweise die Staatsoberhäupter der autoritären Regime es schaffen, als Manager der Krise gut dazustehen, und es schaffen, die Pandemie einzudämmen, kann dies zunächst regimestabilisierend wirken.
Mittel- bis langfristig habe ich diesbezüglich allerdings große Bedenken. Denn die Krise hat sehr verschiedene Facetten der wirtschaftlichen Verwundbarkeit dieser Regime aufgezeigt. Neben dem großen informellen Sektor zählen dazu die starke Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten und globalen Lieferketten, der Verfall der nationalen Währungen sowie insbesondere in Ländern der Golfregion die große Abhängigkeit von Erdölexporten, wie sie sich momentan im Kontext des Ölpreisverfalls zeigt. Diese Abhängigkeiten sowie die Notwendigkeit, vor dem Hintergrund der Corona-Krise schnell an zumeist kreditfinanziertes Geld zu kommen, wird ziemlich sicher zu weiteren Verschlechterungen der Wirtschaftslage führen. So werden sich mittel- bis langfristig die sozialen und soziökonomischen Konflikte verschärfen und damit auch stärkeren Druck auf die Regime ausüben.
Die Frage stellt sich daher, inwiefern die sich anbahnende Wirtschaftskrise Auswirkungen hat – zum einen auf die verschiedenen Elitegruppen und ihren Zugang zu immer knapper werdenden Ressourcen des Staates und zum anderen auf die Protestbewegungen, die sich in den letzten Jahren von Marokko bis Iran entwickelt haben. Man sollte sich nicht täuschen lassen, wenn Proteste kurzfristig zurückgehen. Mittel- bis langfristig werden sie wiederkommen. Das heißt nicht automatisch, dass es zu einem Zusammenbruch der Regime kommt. Die autoritären Staaten der WANA-Region versuchen schon jetzt, sich stärker abzusichern, indem sie ihre Repressionsmöglichkeiten erweitern. Im Zweifel werden sie die vor dem Hintergrund der Corona-Krise durchgeführte Beschneidung der Grundrechte und Ausweitung der Überwachungsmaßnahmen nicht wieder zurücknehmen.
Können sich durch die Pandemie Ungleichheiten innerhalb der WANA-Region und zu anderen Regionen der Welt verschärfen?
Die Ungleichheit tritt durch die Corona-Krise nicht nur deutlich hervor, sie nimmt auch zu. Dies hängt von den Startbedingungen ab. Wer die finanziellen Möglichkeiten hat, seine Wirtschaft über die Krise hinweg zu retten, wird – wenn wieder normal Handel betrieben, produziert und konsumiert werden kann – einen klaren Startvorteil haben, wenn der globale Wettbewerb wieder an Fahrt aufnimmt. Innerhalb der Region werden vor allem die ressourcenreichen Golfstaaten ihren Weg durch die Krise finden. Wie gut sie durchkommen, hängt aber auch ein wenig davon ab, wie sich der Ölpreis entwickelt. Die Länder, die ohnehin schon finanziell abhängig sind, werden dagegen noch abhängiger werden: Sie werden Schulden tilgen müssen und somit noch weniger Geld haben, um in die Wirtschaft zu investieren. Die große soziale Frage, die sich seit Jahrzehnten in der WANA-Region herausgebildet hat, wird sich so Externer Link: verschärfen und zur weiteren Destabilisierung beitragen.
Das Interview führte Eva Hochreuther. Redaktion: Lisa Santos, Frederik Schetter, Thomas Fettien.