Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

AIDS-Prävention: Erfolgsgeschichte mit offenem Ausgang | Homosexualität | bpb.de

Homosexualität Stationen der Ehe für alle in Deutschland Homophobie Schwul, verfolgt, geflohen Eine Regenbogen- geschichte Essay: Zwischen Verfolgung und Emanzipation Geschichte des CSD Diskriminierung Homosexualität und Fußball Schwule/Lesben und Muslime Homosexualität und Arbeitswelt Homophobie in der Popmusik Menschenrechte Regenbogenfamilien AIDS-Prävention Homosexualität und Religion/en Redaktion

AIDS-Prävention: Erfolgsgeschichte mit offenem Ausgang

Michael Bochow

/ 14 Minuten zu lesen

Mitte der 1980er Jahre erschüttert das Aufkommen der Immunschwächekrankheit AIDS die Welt. Neue Therapien und ein breiteres Bewusstsein für die Gefahren der Krankheit verbessern die Situation von HIV-Patienten heute deutlich.

Trotz vieler Erfolge im Kampf gegen die Immunschwächekrankheit: AIDS ist nach wie vor nicht heilbar. (© AP)

Einleitung

Auch wenn die alte Bundesrepublik mit ihren Ballungsgebieten (Hamburg, Köln/Düsseldorf, München, Frankfurt/M. und West-Berlin) Mitte der 1980er Jahre von der Immunschwächekrankheit AIDS in viel geringerem Ausmaß betroffen war als die Metropolen der USA (allen voran New York, Chicago, Los Angeles und San Francisco), hatte das Sterben schwuler Männer traumatisierende Auswirkungen auf die große Mehrheit der Schwulen und Bisexuellen. Der Verlust enger Freunde, bei einigen fast des gesamten Freundeskreises, und die Unsicherheit über den eigenen Serostatus (HIV-positiv oder -negativ) rief Angst und sexuelle Depression hervor.

In dieser Situation erwies sich das Kondom als erleichtert aufgegriffener Angstbändiger. Mit ihm suchten viele Aktivisten der AIDS-Hilfen, und nicht nur diese, eigene Ängste und die ihres Umfeldes zu bannen. Das Kondom wurde so nicht nur zu einem Mittel, das Risiko von Neuinfektionen deutlich zu verringern, es bot gleichzeitig die Möglichkeit, aus dem Imperativ des "Safer Sex" einen Ausweg zum "Save Sex" zu suchen.

Auf dem Höhepunkt der AIDS-Krise 1986 griff der Berliner Gesundheitswissenschaftler Rolf Rosenbrock in die Debatte über Strategien der Eindämmung der neuen Krankheit ein und gab der Diskussion eine Richtung, die schließlich maßgeblich werden sollte.[1] Rosenbrock wagte eine in der weit verbreitenden AIDS-Hysterie sehr kühne Prognose: "Bei günstiger (und wahrscheinlicher) Entwicklung wird AIDS eines Jahres einen unauffälligen Platz in der Statistik der Kranken und Toten einnehmen." Er nannte mehrere Bedingungen, damit diese erhoffte Entwicklung eintreten möge: Zu diesen gehörte vor allem die Berücksichtigung der beträchtlichen Ressourcen nicht-medizinischer Prävention, in der Zeit vor der Entwicklung hoch wirksamer antiretroviraler Medikamente ein selbstverständlicher, aber keineswegs hinreichend beachteter Imperativ.

Rosenbrock betonte gleichfalls die Notwendigkeit, maximalistische Konzepte zu vermeiden: "(D)ie Zielgröße Null-Risiko (...) führt zu Resignation oder zu totalitären Wahngebilden." Im Rahmen des befürworteten pragmatischen Ansatzes bei der Prävention von HIV-Übertragungen auf sexuellem Wege postulierte der Gesundheitswissenschaftler, "dass der Erfolg von Versuchen der Beeinflussung des Sexualverhaltens u.a. davon abhängig ist, dass die geforderte Änderung des sexuellen Verhaltens möglichst gering ist und möglichst leicht in die gewohnte Lebenspraxis eingefügt werden kann." Die Überlegenheit der Wirksamkeit von Selbsthilfeaktivitäten gegenüber restriktiven staatlichen Interventionen gehörte zu einer zentralen Annahme in diesem Konzept. Alle damals diskutierten gesundheitspolizeilichen Maßnahmen wurden als kontraproduktiv eingestuft: "Etwas überspitzt (...) ließe sich sagen, dass das gesamtgesellschaftliche Klima auch einen Teil des Infektionsklimas ausmacht." Betont wurde schließlich die Notwendigkeit des Auseinanderhaltens subjektiver Vorstellungen vom "richtigen" Leben und erfolgreicher AIDS-Prävention: "Gesundheitspolitik, die in Wahrheit Sittenpolitik zu sein versucht, kann sich auf diesem Wege in ihr glattes Gegenteil verkehren."

Streit im aufklärungsorientierten Lager

Die engagierte Studie Rosenbrocks lieferte eine willkommene konzeptionelle Handlungsanleitung für die AIDS-Hilfen, die sich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre vehement gegen die Vertreter einer repressiven seuchenpolizeilichen Linie in der AIDS-Politik wehrten. In der alten Bundesrepublik wurde diese politisch vor allem repräsentiert durch CSU-Politiker wie Peter Gauweiler, publizistisch sekundiert von Spiegel-Journalisten wie Hans Halter[2] und von sozialepidemiologisch agierenden Medizinern wie Michael G. Koch.[3]

In Absetzung von unbefolgbaren Safer-Sex-Katalogen aus den USA und in Anlehnung an die von Rosenbrock formulierte Ablehnung maximalistischer Konzepte beschloss die Deutsche AIDS-Hilfe, die lange Liste von Geboten und Verboten durch wenige klare und knappe Empfehlungen zu ersetzen. Für die Hauptbetroffenengruppe homo- und bisexueller Männer lauteten sie: 1. bei Analverkehr ein Kondom benutzen; 2. kein Sperma in den Mund des Partners. Die Konzentration auf diese Empfehlungen wurde - ganz im Sinne einer "minimalistischen" Strategie - als notwendig empfunden, um nicht nur die Akzeptanz der Normen des Safer Sex zu erhöhen, sondern auch ihre praktische Umsetzung zu erleichtern. Während die AIDS-Hilfen (nicht zu Unrecht) darauf beharrten, dass ihre Präventionsempfehlungen eine "minimal invasive" Schutzstrategie seien, rief das Ansinnen eines generalisierten und "zeitstabilen" Kondomgebrauchs sofort Kritiker in der gay community und in der (west)deutschen Sexualwissenschaft auf den Plan. Schwule Publizisten wie Matthias Frings[4] und Frank Rühmann[5] beklagten eine "Kondomisierung" der Sexualität; der Heidelberger Psychotherapeut Ulrich Clement kritisierte den "zum Teil kastrierenden Charakter des Safer Sex".[6]

Kennzeichnend für die Diskussionen in (West)Deutschland Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre war, und dies unterschied die Debatten deutlich von denen in Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden, dass innerhalb des Lagers derer, die auf individuelle Selbstverantwortlichkeit setzten, sich noch einmal zwei Positionen gegenüberstanden. Eine Mehrheit befürwortete einen zunächst unhinterfragten generalisierten Kondomgebrauch, eine bedeutsame Minderheit warnte vor einer blinden "Kondomisierung". Clement unterschied in einem viel beachteten Vortrag im "aufklärungsorientiertem Lager" zwischen "Präventionsrationalisten" und "Triebrealisten": "Die 'Präventionsrationalisten' glauben an die vernunftgesteuerte Lenkbarkeit der Sexualität. Theoretisch gehen sie von einem kognitiven Lernmodell aus und von der vorpsychoanalytischen Annahme, dass das 'Ich Herr im eigenen Haus' sei. Die 'Triebrealisten' beharren auf der Widerständigkeit und dionysischen Unbelehrbarkeit des Triebes. Theoretisch sehen sie einen hohen Stellenwert unbewusster Motive, präventionspolitisch vertreten sie eine kritische Position zur Safer-Sex-Kampagne."[7]

Liberaler Präventionskonsens

Nach einem Höhepunkt der registrierten HIV-Infektionen Mitte der 1980er Jahre stabilisierte sich deren Zahl, um dann zurückzugehen.[8] Es könnte gefragt werden, ob dieser Rückgang vor allem auf die sich seit 1985 entwickelnde AIDS-Prävention zurückzuführen ist oder eher auf die mit AIDS verknüpfte Todesangst. Allein, eine solche isolierende Betrachtungsweise ist problematisch, weil die Erfolge der AIDS-Prävention nicht von der Angst, zum Teil Panik, der damaligen Zeit zu trennen sind. Unbestreitbar ist wohl, dass sich die auf gesellschaftliche Lernprozesse setzende Präventionsstrategie nicht so schnell durchgesetzt hätte, wenn nicht in der alten Bundesrepublik ein prekäres Gleichgewicht zwischen einer weiter bestehenden und weit verbreiteten antihomosexuellen Diskriminierung einerseits und einer gleichzeitigen gesellschaftlich organisierten Abwehr der tödlichen Bedrohung schwuler Männer durch AIDS andererseits hätte hergestellt werden können.

Vor dem Hintergrund der brutalen Verfolgung der Homosexuellen im "Dritten Reich" und angesichts des homosexuellenfeindlichen gesellschaftlichen Klimas der Adenauer-Zeit bestand in der liberalen Öffentlichkeit Einigkeit darüber, dass Vorsicht und Behutsamkeit in der AIDS-Politik dringend erforderlich seien. Hiervon profitierte neben der Hauptbetroffenengruppe der Schwulen auch die andere besonders betroffene Gruppe, die der Konsumentinnen und Konsumenten intravenös injizierter Drogen. Vor dem Hintergrund einer "großen Koalition" in der AIDS-Präventionspolitik, die sich Ende der 1980er Jahre durchsetzte und von liberalen CDU-Mitgliedern über die FDP und die SPD bis zu den Grünen reichte,[9] wurde ein gesellschaftliches Klima geschaffen, das der am meisten von HIV/AIDS betroffenen Gruppe der Männer, die Sex mit Männern haben (im Folgenden MSM), dazu verhalf, eine Routine des Risikomanagements im Hinblick auf AIDS zu entwickeln.[10]

Waren während des Höhepunktes der AIDS-Krise die Zahl der Sexualpartner und die Frequenz anal-genitaler Kontakte bei homo- und bisexuellen Männern stark zurückgegangen, so erfolgte eine Zunahme von beiden wieder ab Anfang der 1990er Jahre.[11] Dass dies vor der Einführung wirkungsmächtiger antiretroviraler Kombinationstherapien erfolgte, muss hervorgehoben werden. Das praktizierte Risikomanagement war Ausdruck einer größeren Zuversicht und Selbstsicherheit im Verfolgen individueller Bewältigungsstrategien in der AIDS-Krise. Diese erfolgten im Rahmen eines kollektiven Lernprozesses homo- und bisexueller Männer, der wiederum gestützt wurde durch das relativ liberale gesellschaftliche Klima in den 1990er Jahren. Schneller als ursprünglich gehofft werden konnte, bestätigten sich somit zwei zentrale Thesen des aufklärungsorientierten Präventionslagers: die These des gesundheitserhaltenden Potentials nichtmedizinischer Prävention und die These, dass das gesellschaftliche Klima einen wesentlichen Bestandteil des Infektionsklimas ausmacht.[12]

Unabhängig von der wechselnden Parteizusammensetzung der Bundesregierungen seit 1990 (ebenso der Landesregierungen) wurde dieser auf Selbstverantwortung setzende Präventionsansatz weiter verfolgt. Der Erfolg der deutschen Präventionspolitik sei hier mit einer kurzen Zahlenreihe illustriert. Unter den postindustriellen westlichen Ländern ist die stärkste Ausbreitung von HIV in den USA und in der Schweiz zu beobachten: 0,6% der Bevölkerung zwischen 15 und 49 Jahren sind in beiden Ländern von einer Infektion mit dem HI-Virus betroffen. In der gleichen Altersgruppe sind in Frankreich 0,4%, in Großbritannien 0,2% und in Deutschland 0,1% der Bevölkerung betroffen.[13]

  1. Vgl. Rolf Rosenbrock, AIDS kann schneller besiegt werden, Hamburg 1986. Die folgenden Zitate und Bezüge finden sich in der Reihenfolge der Nennung auf den Seiten 11, 133f., 31f., 49, 66f und 48.

  2. Vgl. Hans Halter (Hrsg.), Todesseuche AIDS, Reinbek 1985.

  3. Vgl. Michael G. Koch, AIDS: Vom Molekül zur Pandemie, Heidelberg 1987.

  4. Vgl. Matthias Frings (Hrsg.), Dimensionen einer Krankheit - AIDS, Reinbek 1986:

  5. Vgl. Frank Rühmann, Sicherer Sex, in: Volkmar Sigusch/Hermann L. Gremliza (Hrsg.), Operation AIDS - Das Geschäft mit der Angst (Sexualität Konkret 7), Hamburg 1986.

  6. Ulrich Clement, Zur Sozialpsychologie des "Safer Sex", in: M. Frings (Anm. 4), S. 233.

  7. Ders., Zum Wahrheitsgehalt empirischer Sexualbefragungen. Vortrag auf der 16. Wissenschaftlichen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, Berlin 6.-8.10.1988, unveröff. Ms.

  8. Vgl. Ulrich Marcus, 20 Jahre HIV/AIDS-Epidemie in Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Glück gehabt? Zwei Jahrzehnte AIDS in Deutschland, Berlin-Wien 2000.

  9. Vgl. Günter Frankenberg, Deutschland - der verlegene Triumph des Pragmatismus, in: David Kirp/Ron Bayer (Hrsg.), Strategien gegen AIDS. Ein internationaler Politikvergleich, Berlin 1994.

  10. Vgl. Michael Bochow, Safer Sex: Quo vadis?, in: AIDS-Hilfe Frankfurt (Hrsg.), Vielfältig verbunden - 20 Jahre AIDS-Hilfe Frankfurt, Miltenberg-Frankfurt/M. 2005.

  11. Vgl. Michael Bochow/Axel J. Schmidt/Stefanie Grote, Schwule Männer und AIDS: Lebensstile, Szene, Sex 2007. Eine Befragung im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung/BZgA (AIDS-Forum DAH 55), Berlin 2010.

  12. Vgl. auch Rolf Rosenbrock/Doris Schaeffer (Hrsg.), Die Normalisierung von AIDS. Politik-Prävention-Krankenversorgung, Berlin 2002.

  13. Vgl. Michael T. Wright/Rolf Rosenbrock, Zur Normalisierung einer Infektionskrankheit, in: Günter Albrecht/Axel Groenemeyer/Friedrich W. Stallberg (Hrsg.), Handbuch Soziale Probleme, Wiesbaden 2010 (i.E.).

"Altes" und "neues" AIDS

Die seit 1996 verfügbaren antiretroviralen Kombinationstherapien bewirkten einen grundlegenden Wandel in der Situation der von HIV/AIDS betroffenen Menschen. In medizinischer Hinsicht waren jetzt therapeutische Interventionsmöglichkeiten gegeben, welche die wenigen vorher verfügbaren Mittel wie AZT (Azidothymidin) an positiver Wirkung weit übertrafen. Die Lebensqualität vieler Menschen mit AIDS verbesserte sich, und ihre Lebenserwartung stieg deutlich. Kündigte der Ausbruch des Vollbildes AIDS, ja selbst der Nachweis einer HIV-Infektion, für die meisten Betroffenen vor 1995 den nahen Tod an, so machten sich Ende der 1990er Jahre Menschen mit AIDS berechtigte Hoffnung auf viele weitere Lebensjahre. Die Kombinationstherapien machten AIDS zu einer behandelbaren chronischen Krankheit, wenngleich um den Preis einer Reihe von gravierenden Nebenwirkungen für viele Patienten.

Der Frankfurter Sexualwissenschaftler Martin Dannecker führte vor diesem Hintergrund in die deutschsprachige Diskussion die Unterscheidung vom "alten" und vom "neuen" AIDS ein. Mit dieser Unterscheidung hebt er hervor, dass in den 1980er Jahren eine unmittelbare Verknüpfung von AIDS und nahem Tod gegeben war; diese werde seit der Einführung antiretroviraler (gegen ein Retrovirus gerichteter) Mittel von Vielen so nicht mehr wahrgenommen. Nur die unmittelbare Verknüpfung von HIV-Infektion und Todesdrohung habe die weitgehende Einhaltung von Safer Sex unter schwulen Männern bewirkt, eine deutliche Zunahme von ungeschützten Sexualkontakten sei daher unausweichlich.[14]

Safer Sex auf dem Rückzug?

Dannecker hatte wiederholt darauf hingewiesen, dass sich für einen bedeutsamen Anteil homosexueller Männer das Kondom trotz langjährigen Gebrauchs (als mehr oder weniger) störend beim Analverkehr erweise. Die bundesweiten Befragungen von MSM im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bestätigten dies.[15] Dennoch blieb das Schutzverhalten relativ zeitstabil. Werden die Erhebungsergebnisse von 1991 bis 2007 mittels adjustierter Stichproben verglichen, so zeigt sich eine bemerkenswerte Konstanz im Risikoverhalten der Befragten. Ungefähr 70 Prozent der Männer berichten jeweils, dass sie in den zwölf Monaten vor der Befragung keine Risikokontakte hatten (als solche wurde ungeschützter Analverkehr mit Partnern mit unbekanntem oder anderem Testergebnis definiert). Ungefähr ein Drittel der MSM gab in allen seit 1991 erfolgten Befragungen Risikokontakte an. Diese Gruppe kann (seit 1996) unterteilt werden in die Untergruppe der Männer (ein Fünftel aller Befragten) mit sporadischen Risikokontakten (weniger als fünf in zwölf Monaten vor der Befragung) und eine Untergruppe von Männern mit häufigeren Risikokontakten (ein Zehntel aller Befragten).[16]

Die Teilnahme am HIV-Antikörper-Test kann als weiteres Indiz für ein Risikobewusstsein homo- und bisexueller Männer seit den 1990er Jahre angesehen werden. Erst seit etwa 1996 folgen dank der antiretroviralen Medikamente aus einem positiven HIV-Test sinnvolle therapeutische Interventionen. Die Befragungen von MSM seit 1991 zeigen, dass der Anteil der Befragten, die einen HIV-Test haben machen lassen, zunimmt. Der Anteil der Männer, die sich häufiger als zweimal haben testen lassen, ist unter den Männern ab 25 Jahren in Großstädten mit mehr als 500000 Einwohnern von einem Viertel auf die Hälfte gestiegen.[17]

Empfehlungen der Eidgenössischen Kommission

Die Entwicklung von Routinen im Umgang mit AIDS - vor allem aber der Kontext des "neuen" AIDS - bewirkten in der nach wie vor in Deutschland von HIV/AIDS besonders betroffenen Gruppe der MSM eine zunehmende Verbreitung von Strategien der Risikominimierung, die nicht selten die alten Strategien der vermeintlichen Risikoeliminierung ablösten. Die dabei am meisten verbreitete Strategie ist die des "Serosorting": Darunter wird die Suche nach Sexualpartnern mit dem gleichen Serostatus (Testergebnis) verstanden, um bei Analverkehr vom Gebrauch des Kondoms absehen zu können. Dieser Strategiewandel (weniger der verantwortlichen Präventionsagenturen als der schwulen Männer selbst) ist nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen westeuropäischen Ländern, in den USA, in Australien und Kanada zu beobachten.[18] Unter MSM wird ein solches "Serosorting" auch von vielen positiven Männern betrieben, trotz der Warnungen eines Teils der Ärzteschaft vor der Entwicklung von "Superinfektionen" und Resistenzen gegenüber antiretroviralen Medikamenten. Die Diskussion um die Wahrscheinlichkeit und Gefährlichkeit von "Superinfektionen" nimmt in Deutschland jedoch einen vergleichsweise geringen Raum ein.

Im Gegensatz dazu zog eine Empfehlung der Eidgenössischen Kommission für AIDS-Fragen (EKAF) von 2008 besondere Aufmerksamkeit auf sich.[19] Die Hauptaussage ihrer Empfehlungen machten die schweizerischen Ärzte und Präventionsakteure zur Überschrift ihres Artikels: "HIV-infizierte Menschen ohne andere STD sind unter wirksamer antiretroviraler Therapie sexuell nicht infektiös". Die Autoren formulierten zwar drei einschränkende Bedingungen, unter denen ihre Aussage gelte, aber diese nahmen der Aussage nichts von ihrer provozierenden Wirkung. Als Bedingungen der Nichtinfektiosität von antiretroviral behandelten Menschen formulierten die Experten die Therapie-Befolgung der Patienten unter ärztlicher Kontrolle, eine Viruslast unter der Nachweisgrenze und das Nichtvorhandensein von anderen sexuell übertragbaren Krankheiten (STD).[20]

Die EKAF hatte ihre Empfehlungen zunächst vor allem im Hinblick auf Partner in Paarbeziehungen mit unterschiedlichem Testergebnis formuliert. Geradezu sensationell für den deutschen medizinischen Diskurs war, dass Ärzte und Präventionsakteure den Mut zu solch einer "starken" öffentlichen Empfehlung fanden. Im Empfinden vieler (behandelter) Positiver wurde ihnen endlich das Stigma genommen, eine permanent bedrohliche Infektionsquelle zu sein.[21] Die Diskussion über die EKAF-Aussagen zur Nichtinfektiosität HIV-Positiver setzte in Deutschland zunächst zögerlich ein. Bald wurde jedoch der von den schweizerischen Fachleuten für ihre Empfehlungen vorgegebene Rahmen von präventiven Vorkehrungen in Paarbeziehungen überschritten.

  1. Vgl. Martin Dannecker, Wider die Verleugnung sexueller Wünsche, in: AIDS-Infothek, 1 (2000), S. 4-10; ders., Erosion der HIV-Prävention, in: Zeitschrift für Sexualforschung, 15 (2002) 1, S. 58-64; ders., Abschied von AIDS, in: Zeitschrift für Sexualforschung, 19 (2006) 1, S. 63-67; ders., Zur Transformation von AIDS in eine behandelbare Krankheit, in: Volkmar Sigusch (Hrsg.), Sexuelle Störungen und ihre Behandlung, Stuttgart-New York 2007, S. 257-262.

  2. Vgl. Michael Bochow, Schwule Männer und AIDS. Eine Befragung im Auftrag der BZgA (AIDS-Forum 31), Berlin 1997; ders., Schwule Männer, AIDS und Safer Sex - Neue Entwicklungen. Eine Befragung im Auftrag der BZgA (AIDS-Forum DAH 40), Berlin 2001; ders./Michael T. Wright/Michael Lange, Schwule Männer und AIDS: Risikomanagement in den Zeiten der sozialen Normalisierung einer Infektionskrankheit. Eine Befragung im Auftrag der BZgA (AIDS-Forum DAH 48), Berlin 2004; M. Bochow et al. (Anm. 11).

  3. Vgl. Axel J. Schmidt/Michael Bochow, Trends in Risk Taking and Risk Reduction Among German MSM 1991-2007, Discussion Paper Forschungsgruppe Public Health SPI 2009-303, WZB, Berlin 2009.

  4. Vgl. M. Bochow et al. (Anm. 11).

  5. Zur Entwicklung in Deutschland vgl. ebd.; einen instruktiven internationalen Überblick bieten Susan Kippax/Kane Race, Sustaining safe practices: twenty years on, in: Social Science & Medicine, 57 (2003) 1, S. 1-12.

  6. Vgl. Pietro Vernazza/Bernard Hirschel/Enos Bernasconi/Markus Flepp, HIV-infizierte Menschen ohne andere STD sind unter wirksamer antiretroviraler Therapie nicht infektiös, in: Schweizerische Ärztezeitung, (2008) 5, S. 165-169, online: www.saez.ch/pdf_d/2008/2008-05/2008-05-089.pdf (5.3.2010).

  7. Vgl. ebd., S. 165.

  8. Vgl. Corinna Gekeler/Bernd Aretz, Sexualität im Wandel. Positive Begegnungen 2008 in Stuttgart, in: INFACT. AIDS-Hilfe Magazin, (2009) 6, S. 15-17.

"Zunehmende Sorglosigkeit" oder anhaltende Medizinergläubigkeit?

Diskutiert wird inzwischen die Frage, ob sich in absehbarer Zeit (vor allem) in den großstädtischen Schwulenszenen das Bewusstsein durchsetzen wird, dass eine Viruslast unter der Nachweisgrenze bei HIV-Infizierten viel bedeutsamer ist als der generalisierte Gebrauch des Kondoms, auch bei Sexkontakten außerhalb von Paarbeziehungen. Die EKAF-Schlussfolgerungen werden gegenwärtig weder im deutschen Mediziner-Establishment noch bei den leitenden Akteuren der AIDS-Prävention uneingeschränkt akzeptiert. Dass neun Zehntel der über 8000 in Deutschland befragten MSM sich 2007 noch sehr skeptisch zur Nichtinfektiosität von antiretroviral behandelten Positiven äußern, lässt auf ein großes Vertrauen in "konservativ" argumentierende Mediziner schließen. Abzuwarten bleibt, wie sich diese Haltung entwickeln wird. Von abrupten Einstellungsänderungen ist allerdings nicht auszugehen.[22]

Die anhaltende Vorsicht unter homosexuellen Männern scheint die immer wieder vorgebrachte Behauptung zu widerlegen, es mache sich unter ihnen "zunehmende Sorglosigkeit" breit. Vor dem Hintergrund der seit 2002 vom Robert Koch-Institut (RKI) beobachteten Zunahme von registrierten HIV-Infektionen vor allem unter MSM wurde in unterschiedlichsten Zusammenhängen ein wachsendes Risikoverhalten in dieser Gruppe vermutet. Die Behauptung "zunehmender Sorglosigkeit" von MSM (oder generell von jungen Erwachsenen) wurde nicht nur von Vertretern der AIDS-Hilfen mehrfach geäußert, sondern vor allem auch in der Boulevardpresse kolportiert.[23]

Die empirische Evidenz, die aus den in Deutschland bislang erhobenen Daten abgeleitet werden kann, bestätigt die These von der "zunehmenden Sorglosigkeit" vorerst nicht. Die fachlich zuständigen Epidemiologen des RKI schlagen - traditionell vorsichtig formulierend - eine sehr differenzierte Interpretation der ihnen zugänglichen Informationen vor. Als "wahrscheinlichste Deutung" der vorliegenden Daten gilt für sie, "dass sich die Zunahme der neudiagnostizierten HIV-Infektionen zu einem kleineren Anteil aus vermehrter Testdurchführung und zum größeren Teil aus einer tatsächlichen Zunahme von Neuinfektionen zusammensetzt". Die Zunahme der Neuinfektionen wiederum kommt nach Einschätzung der RKI-Epidemiologen [24] eine Zunahme von sexuell übertragbaren Infektionen unter MSM, vor allem von Syphilis, erhöhe die Übertragungswahrscheinlichkeit von HIV.

Safer Sex: Quo vadis?

Ob sich die Zahl der HIV-Neuinfektionen in Deutschland inzwischen stabilisiert hat oder weiter zunimmt, kann gegenwärtig nicht beurteilt werden.[25] Sowohl eine weitere Zunahme wie auch ein Rückgang der beobachteten HIV-Neuinfektionen hätten allerdings keine direkten Auswirkungen auf die Risikowahrnehmung von MSM. Die vorliegenden Erhebungen belegen, dass eine quantitativ bedeutsame Gruppe von MSM seit langem mehr oder weniger differenzierte Strategien der Risikominimierung entwickeln, mit denen sie den von ihnen verlangten konsequenten und kontinuierlichen Kondomgebrauch umgehen.[26] Diese Strategien mögen teilweise defizitär und illusionär sein, sie sind jedoch für eine große Mehrheit homo- und bisexueller Männer kein Ausdruck von Sorglosigkeit.

Wenig hilfreich wären in dieser Situation Versuche, von homosexuellen Männern wieder strikte "Safer-Sex-Compliance", die gleichgesetzt wird mit "Kondom-Compliance", zu verlangen. Erfolgversprechender dürften massenmediale und personalkommunikative Interventionen sein, die homo- und bisexuellen Männern bei ihren Risikominderungsstrategien helfen, fatale Irrtümer zu vermeiden und illusionäre Verkennungen zu durchschauen. Trotz der mit der erfolgreichen Behandlung der HIV-Infektionen einhergehenden primärpräventiven Effekte bedarf es auch weiterhin einer auf individuelle Lernstrategien setzenden und gesellschaftliche Rahmenbedingungen beachtenden Prävention, wie sie Rosenbrock schon 1986 gefordert hat.

Ausblick

Eine solche Prävention benötigt nicht nur intelligente Konzepte, sondern auch hinreichende materielle und personelle Ressourcen, um sie sowohl in den großstädtischen Ballungsgebieten mit Schwulenszenen wie auch in den virtuellen Welten des Internets, die sich in den vergangenen zehn Jahren rasant entwickelt haben, umzusetzen. Zu einer langfristig angelegten Präventionsarbeit gehört, dies nicht nur den Verantwortlichen in den Kommunen, Ländern und auf Bundesebene, sondern auch einer breiten Öffentlichkeit deutlich zu machen.

Die gegenwärtig auf allen Ebenen diskutierten Sparprogramme, vor allem auch im Gesundheitsbereich, stimmen in dieser Hinsicht nicht optimistisch. Sozioökonomische und soziokulturelle Rahmenbedingungen, die einen hedonistischen Individualismus und Egoismus forcieren und Ansätze zu kollektivem Handeln und gemeinschaftlicher Solidarität entmutigen, lassen zukünftige anspruchsvolle und breit ansetzende Programme wenig wahrscheinlich erscheinen. Es bleibt abzuwarten, ob die gay community auf diese Entwicklung ähnlich phantasievoll und innovativ reagiert, wie sie es in der AIDS-Krise der 1980er Jahre vermocht hat.

Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 15-16/2010)

  1. Vgl. M. Bochow et al. (Anm. 11).

  2. Vgl. statt vieler Kai-Uwe Merkenich, Die neue Sorglosigkeit. Interview mit Anja Schlender, in: Berliner Zeitung vom 1.12.2007, S. 26.

  3. Robert-Koch-Institut, Epidemiologisches Bulletin, Sonderausgabe A (2008), S. 2.

  4. Vgl. Robert-Koch-Institut, Epidemiologisches Bulletin, 21 (2009).

  5. Vgl. M. Bochow (Anm. 10); ders. et al. (Anm. 11).

Fussnoten

Der Soziologe Michael Bochow, geboren 1948, ist seit 1987 tätig in der sozialwissenschaftlichen AIDS- und Minderheitenforschung in unterschiedlichen institutionellen Kontexten und Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Public Health am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).