Popmusik: Befreiung des Begehrens?
In ihren besten Momenten – und davon gibt es nicht wenige – steht Popkultur für die Befreiung des Begehrens. Als Elvis auf die Bühne kam und mit seinen Hüften wackelte oder die Beatles ihre Liebeslieder sangen, war das ekstatische Gekreische vieler Frauen (und Männer!) im Publikum ein Indiz dafür, dass jetzt der spießige Alltag, in dem Arbeit, Pflichten und Regeln den Ton angaben, vorbei war.
Als 1968 in zahlreichen Ländern die Musik von Jimi Hendrix, Bob Dylan, Joan Baez und Janis Joplin ertönte, formte sie den Soundtrack zu sozialen Revolutionen, die ein anderes Leben forderten. Umweltschutz und Kapitalismuskritik, Anti-Nationalismus und Befreiung der Sexualität waren vom Impuls des Pop zu einer neuen Utopie geleitet, die nicht nur – wie in der bildenden Kunst – der intellektuellen Elite vorbehalten sein sollte. Pop saß am Puls der Zeit und konnte auch mit denen Kontakt aufnehmen, die von den Mächtigen vergessen worden waren.
So ist es kein Wunder, dass immer wieder Gegenkulturen sich den Pop aneigneten – ob Hippie-RockerInnen oder Anarcho-Punks, ob rappende Afro-AmerikanerInnen oder die Discoszene, in der sich der schwule Underground traf: Pop schuf den Artikulationsraum für minoritäre Bewegungen, die von der Gesellschaft – teilweise inklusive ihrer Menschenrechte – ignoriert wurden. Ein Refrain wie "I Can't Get No Satisfaction" von den Rolling Stones ließ sich auf alltägliche Probleme und Unzufriedenheiten beziehen. Selten trafen sich das Allgemeine und das Spezifische, der Mensch und die Masse, so wie in der Popmusik.
Popmusik stand lange für die unzensierte alltägliche Meinungsäußerung – ein Menschenrecht. Doch auch der Traum einer freien Artikulation kann nach hinten losgehen, wenn homophobe und sexistische Logiken die Mainstream-Kultur durchdringen.
Rockmusik: Wild, weiß und meistens männlich
Rockmusik war die treibende popkulturelle Kraft von 1968. Verstärkte Gitarren besaßen die Eigenschaft, Wut und Unmut genauso wie sexuelle Energie und Entgrenzung zu assoziieren. Dass dabei fast immer weiße Männer das Zepter in der Hand hielten – ob das Mikro oder das Plektrum der E-Gitarre – fiel dabei den wenigsten auf, denn man war es so gewohnt. Die Rollen waren klar verteilt: Männer machten, wie schon in der Kneipe nebenan oder als Autoritäten im Berufsleben, den meisten Krach. Frauen durften helfen, bedienen und anhimmeln. So war die sexuelle Befreiung für abweichende Identitäten – Frauen eingeschlossen – eher eine Farce: Die Männer gaben an, wer begehrenswert war und wer nicht. Und ein Gitarrensolo konnte nicht nur Revolution signalisieren, sondern auch Machtstatus und Potenzgehabe bedeuten.
Weniger noch als andere Minderheiten hatten allerdings Schwule, Lesben und Transgender von der angeblichen Befreiung des Begehrens. Popmusik brach einige Regeln, die Regeln der Heteronormativität jedoch selten bis gar nicht. Normal war der coole Typ, der die coole Tussi hatte. Vielen Schwulen gefiel es zwar, dass man die Haare länger trug. Dies bedeutete aber nicht, dass sie die Angst ablegen konnten, sich zu outen. Gerade Rockmusik stabilisierte so eher die Idee des authentischen, weißen, hetero-männlichen Rockstars. Die wilden Kommunen, in denen zusammen gelebt und geliebt werden sollte, um die bürgerliche Familie als Gesellschaftsmodell abzulösen, erreichten in Sachen Sexualität ihre Grenzen. Das neue Leben schien sich kaum um Frauen, Schwule oder gar Lesben zu kümmern. Insbesondere Lesben litten weiterhin unter totaler Unsichtbarkeit und Exklusion.
Homophobie beginnt nicht mit Beleidigungen von Menschen, die anders begehren oder aussehen, sondern mit gesellschaftlicher Unsichtbarkeit. Diejenigen, die anders begehren, brauchen Bilder, die sie darstellen, damit sie sich ihre Teilhabe an gesellschaftlichen Visionen auch vorstellen können – und andere sie kennen lernen. Nur Role-Models, die anders sind, und Repräsentationen, die diese sichtbar machen, können hier Abhilfe schaffen.
Hip Hop & Ragga
Die Hip Hop-Kultur bot in vielerlei Hinsicht eine Alternative zum weißen Authentizitätsgehabe der Rockmusik. Die Idee vom harten Typen mit der lauten Gitarre wurde abgelöst vom smarten Breakdancer, der sich zu Funk und Jazz bewegte. Als Hip Hop Ende der siebziger Jahre in der Bronx in New York entstand – voll von Rhythmen, die ehemalige Sklaven aus Afrika und Jamaika mitgebracht hatten –, schien er eine alternative Sprache für die People of Colour gefunden zu haben. Diese hatten selten Geld für teure Gitarren und Verstärker, zauberten aber aus Samples und von DJs gemixten Schallplatten neue Töne, während MCs auch ohne teure Musikunterrichtsstunden Sprechgesang und Dichtung zur urbanen Volksmusik machten. Rap berichtete sowohl aus der harten Realität des Ghettos als auch von den rauschenden Parties im Club. An der Rolle der Frauen und verdrängter bis offen ausgesprochener Homophobie hatte sich dabei leider kaum etwas geändert: Frauen kamen nur als halbnackte Verzierung für das Gebaren des Mannes vor, während Männer, die nicht hart genug wirkten, gleich als "schwul" betitelt wurden. Dabei war die Homophobie nicht nur eine Frage von Klasse oder Bildung. So sind abwertende Verwendungen von "Homos" und "Fags" ("Schwuchteln") neben Tracks von 50 Cent oder Ice Cube auch in den Reimen angeblich reflektierter Obama-Unterstützer und "Conscious"-Rapper wie Brand Nubian oder Common zu finden.
Trotzdem sollte die Homophobie in der afroamerikanischen Hip Hop-Kultur nicht als "schwarzes Problem" gelesen werden. Angesichts von wenig Macht und viel Benachteiligung muss man sich auf einen gemeinsamen Nenner einigen, um zusammenzuhalten. So halten häufig Migranten zu Migranten und Schwarze zu Schwarzen. Symbolisch kastriert und rechtlich gedemütigt wurden schwarze Amerikaner schon zu lange – noch bis Mitte der 1960er Jahre litten Afroamerikaner unter rassistischer Gesetzgebung. Dass sie dabei die Diskriminierung an andere Minderheiten weitergeben, um sich zu erleichtern, ist bitter, aber nachvollziehbar: Gegen "die da oben" kann man sich schließlich nicht wehren. Also flüchtet "Mann" in Religion oder neue Potenzfantasien, wie es weiße Missionare oder weiße männliche Rockstars vorgemacht haben. Die Übertreibung männlichen Macht-Gebarens zeugt also auch von der Ohnmacht, die es einst erzeugt hat: Eine übertrieben inszenierte Männlichkeit, die auf ihre Heterosexualität beharrt, legt also stets eine Abwehr von Ängsten offen. Das angeblich so Stabile muss immer wieder neu gefestigt werden und Widersprüche abstoßen. Dieser Logik nach muss der Homophobe (egal welcher Ethnie) – genau so wie der Rassist – das ausschließen, was "anders" zu sein scheint.
Dies ist allerdings keine Erfindung des Hip Hop oder seinen jamaikanischen Kollegen Ragga und Dancehall. Diese Musik der Unterdrückten der Insel Jamaika, wo mehr rassistische Ghetto-Gewalt und soziale Ungleichheit herrschen als in den Vereinigten Staaten, versucht der Brutalität das Alltags mit religiösen Fluchtphantasien zu entkommen. Rastafaris und Christen, Muslime und Säkulare stimmen in den Dancehall-Parties wie selbstverständlich zu den Texten von Szene-Stars wie Buju Banton oder T.O.K. ein. Auch wenn diese gerade davon singen, dass Schwule und Lesben – gar nicht zu denken an Transgender und Transsexuelle – in der Hölle Gottes schmoren sollen. Was für den Rap "Homo" und "Faggot" sind, sind für Ragga und Dancehall "Chi Chi Man" und "Battyman" – abwertende Begriffe, die mal reale Homosexuelle adressieren, mal als Schimpfwort gegenüber Menschen benutzt werden, die man schwächen, beleidigen oder feminisieren will. Die so traurige wie groteske Wahrheit ist dabei, dass die meisten Fans dieses Spiel kritiklos mitspielen. Während sich Sound und sozialer Zusammenhang stark von dem rechtsideologischer Stammtische unterscheiden, stimmen die Logiken ihres rassistischen wie sexistischen "Humors" teilweise auf erschreckende Art und Weise überein. Dies ist auch im deutschen Hip Hop-Kontext so. Rapper wie Bushido oder Kool Savas fällt auch nichts anderes ein, als die Ghetto-Dummheiten ihrer jamaikanischen oder amerikanischen Vorgänger zu wiederholen. Damit auch sie als harte Rapper im nicht ganz so harten Deutschland akzeptiert werden.
Fiktion oder Wirklichkeit, Kunst oder Krieg?
Werden homophobe MusikerInnen von Demonstranten oder den Medien mal nach ihren reaktionären Texten befragt, fangen sie meistens an zu stammeln. Das sei doch alles gar nicht so gemeint, Schwule und Lesben seien ihnen egal – und Musik sei ja nur Kunst und nicht Realität. Dazu komme außerdem die demokratische Redefreiheit – und Meinung sei ja keine Gewalt.
Dies ist falsch: Gerade die Popmusik ermöglicht die Artikulation von Wünschen, die auch Einfluss auf die Wirklichkeit haben können. Deswegen sind Bilder und Worte zwar noch lange keine Taten – aber sie können zu ihnen inspirieren. Sicher sind Popfans selten so dumm wie die Medien sie machen, und Fans werden von gewaltvollen Computerspielen genauso wenig gleich Mörder wie KonsumentInnen von Horrorfilmen zu Verrückten werden. Doch die ganze Kraft von Pop beruht auf der Vermischung von Erlebtem und Erfundenem. Das ist bei den Liebesliedern von Bob Dylan genauso wie bei den Raps von 50 Cent. Beide probieren immerhin ein Produkt zu verkaufen, welches total "real" und glaubhaft sein soll. Einer der Lieblingssprüche von Rappern ist dementsprechend auch: "Keep it Real".
Durch diese unscharfe Trennung von künstlerischer Freiheit und dem Anspruch auf Authentizität verschwimmen die Grenzen. Die Aussicht, schwule Fans bei heterosexuellen Rap- oder Ragga-Parties zu sehen – ob auf der Bühne oder geoutet im Publikum – ist somit minimal. Denn dort fürchten schwule Männer immer noch körperliche Gewalt – und Lesben die mehrfache Demütigung, entweder ausgelacht, diskriminiert oder als Sexfantasie von Männern dargestellt zu werden. Der Rapper und Produzent Kanye West war einer der ersten, der das bestgehütete Geheimnis der Hip Hop-Community – ihre Homophobie – öffentlich auf großer Bühne kritisierte. Eine löbliche – bisher aber seltene – Ausnahme.