Einleitung
"Bloß die Schwulen", sagt Walter, "die haben wir vergessen." Pessimistisch blickt der von Werner Dissel gespielte ältere Mann in die deutsche Zeitgeschichte der Homosexualitäten zurück. Dabei sitzt er in einem (Ost-)Berliner Lokal vor einem Tisch mit leeren Weinbrandgläsern, während im Hintergrund das lesbischwule Nachtleben gefeiert wird. Die historiografische Schlüsselszene aus Heiner Carows Film "Coming Out" (DDR, 1989) wirft ein resignierendes, aber nicht verzweifeltes Licht auf die Fortschrittshoffnungen, die der männerliebende Mann nach den Verfolgungen durch die Nationalsozialisten in das demokratische Deutschland gesetzt hatte. Auch heute noch, sagen seine etwas müden Augen dem ihm gegenübersitzenden jungen Lehrer Philipp, zieht der Verstoß gegen die heteronormative Ordnung Strafen und Kummer nach sich.
Hat sich die Lage gleichgeschlechtlich liebender Menschen in Deutschland zwischen 1945 und 1989 tatsächlich nicht verbessert? Oder zunächst weniger wertend gefragt: Wie veränderten sich die Lebensweisen homosexueller Menschen und ihr Umfeld in dieser Zeit?
Intimsphären, Halböffentlichkeiten und Repressionen
Bereits die Begrifflichkeit verweist auf einen Wandel. Während das Adjektiv "homosexuell" in den 1950er Jahren eng mit medizinischen, psychologischen und kriminologischen Diskursen über Devianz und Perversion verknüpft war,[1] gilt es heutzutage als weitgehend neutrale Beschreibung für die Liebe zu Menschen des gleichen Geschlechts.[2] Die geläufigsten Selbstbezeichnungen sind dagegen "schwul" bei den Männern und "lesbisch" bei den Frauen. In den 1950er Jahren wurden diese Worte von den "Betroffenen" noch sorgfältig vermieden. Frauen, die sich damals zu privaten Tanzveranstaltungen trafen oder zusammen wohnten, betonten eher ihre unschuldigen Freundinnenbande und ihre Anständigkeit als ihr gleichgeschlechtliches Lieben. Versuche, jenseits des Privaten Strukturen für "Gleichgesinnte" zu schaffen, blieben sehr spärlich.[3] Das rege soziale und kulturelle Großstadtleben frauenliebender Frauen der Weimarer Zeit, das die Nationalsozialisten zerstört hatten, fand in den 1950er und 1960er Jahren im westlichen wie im östlichen Deutschland kaum eine Fortsetzung. Jenseits von pubertären Romanzen à la "Mädchen in Uniform" - die zweite Verfilmung dieses Stoffs mit Romy Schneider kam 1958 in die Kinos - verkörperte in dieser Zeit allein die verheiratete Mutter das Idealbild der erwachsenen Frau. Nicht zuletzt aufgrund drohender Diskriminierungen und Schmähungen dominierte deswegen unter frauenliebenden Frauen eine Strategie des Sich-Verbergens.[4]
Ähnliches galt für die homophilen Männer. Für sie bestimmte Zeitschriften wie "Der Weg zu Freundschaft und Toleranz" aus Hamburg oder "Der Kreis" aus Zürich konnten sich jedoch im Westen über mehrere Jahre etablieren. Außerdem gab es überwiegend von Männern getragene Organisationen wie den "Verein für humanitäre Lebensgestaltung" in Frankfurt am Main, die mittels wissenschaftlicher Überzeugungsarbeit die gesellschaftliche Ablehnung der Homosexualität in Toleranz verwandeln wollten. Diesem Ziel und dem homophilen Geist der Zeit entsprachen das Leitbild der nicht-sexuellen Kameradschaft sowie die ästhetische und theoretische Überhöhung zwischenmännlicher Intimität.[5] Allerdings erreichten die genannten Publikationen und Gruppen kaum eine breitere Öffentlichkeit. Auch das Leben männerliebender Männer spielte sich weitgehend in privater Heimlichkeit ab. Dies galt umso mehr für die DDR, als Homosexuellengruppen und -zeitschriften dort verboten waren.[6]
In der Bundesrepublik erreichte die staatliche Repression um 1960 einen Höhepunkt, und viele Verlage und Vereine mussten ihre Arbeit einstellen. Zudem zwang die Strafbarkeit sexueller Handlungen zwischen Männern diese zur Vorsicht und ins Verborgene. Ein Großteil des häufig anonymen zwischenmännlichen Sexuallebens spielte sich im Halbdunkel öffentlicher Toiletten ab. Rund 45000 Personen wurden zwischen 1950 und 1965 im Westen nach §175 StGB verurteilt.[7]
Vgl. Hans-Joachim von Kondratowitz, Stichwort frühe Bundesrepublik, in: Rüdiger Lautmann (Hrsg.), Homosexualität. Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, Frankfurt/M. 1993, S. 239-243; Bert Thinius, Erfahrungen schwuler Männer in der DDR und in Deutschland Ost, in: Wolfram Setz (Hrsg.), Homosexualität in der DDR, Hamburg 2006, S. 17-20.
Dieser Bedeutungswandel ließ die Dichotomie homo/hetero jedoch unangetastet, die als zentrale Signatur des 20. Jahrhunderts betrachtet werden kann. Vgl. Eve Kosofsky Sedgwick, The Epistemology of the Closet, Berkeley-Los Angeles 1990; Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/M. 1977.
Vgl. Christina Karstädt/Anette von Zitzewitz (Hrsg.), ... viel zuviel verschwiegen. Eine historische Dokumentation von Lebensgeschichten lesbischer Frauen in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1996; Kirsten Plötz, Als fehle die bessere Hälfte. "Alleinstehende" Frauen in der frühen BRD, 1949-1969, Königstein/Ts. 2005.
Vgl. Sabine Puhlfürst, "Mehr als bloße Schwärmerei". Die Darstellung von Liebesbeziehungen zwischen Mädchen/jungen Frauen im Spiegel der deutschsprachigen Frauenliteratur des 20. Jahrhunderts, Essen 2002, S. 174-180; Ilse Kokula, Jahre des Glücks, Jahre des Leids. Gespräche mit älteren lesbischen Frauen, Kiel 1990².
Vgl. Burkhardt Riechers, Freundschaft und Anständigkeit. Leitbilder im Selbstverständnis männlicher Homosexueller in der frühen Bundesrepublik, in: Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten, 1 (1999), S. 12-46; Martin Dannecker, Der unstillbare Wunsch nach Anerkennung. Homosexuellenpolitik in den fünfziger und sechziger Jahren, in: Detlef Grumbach (Hrsg.), Was heißt hier schwul? Politik und Identitäten im Wandel, Hamburg 1997, S. 27-44.
Vgl. Andreas Sternweiler, Selbstbehauptung und Beharrlichkeit, Berlin 2004, S. 49; Rainer Herrn, Schwule Lebenswelten im Osten: andere Orte, andere Biographien, Berlin 1999, S. 30f und passim.
Vgl. A. Sternweiler (ebd.), S. 149; vgl. auch Sabine Mehlem, Polizeiliche Ermittlungsmethoden nach §175 StGB, in: Schwulenreferat im AStA der FU Berlin (Hrsg.), Homosexualität und Wissenschaft II, Berlin 1992, S. 193-208.
Entkriminalisierung des zwischenmännlichen Geschlechtsverkehrs
Dieser aus dem Jahr 1872 stammende Strafrechtsparagraf hing wie ein Damoklesschwert über der Geschichte der Homosexualitäten in Deutschland. Im Zuge der nationalsozialistischen Verfolgung war er 1935 verschärft und ausgeweitet worden. Die Justiz der DDR kehrte nach dem Krieg zur etwas milderen Weimarer Version zurück. Nach 1957 wurden homosexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern im Osten kaum noch bestraft, und 1968 strich man den §175 aus dem Strafrecht. Lediglich das sogenannte Schutzalter lag für gleichgeschlechtlichen Sex weiterhin höher als für gegengeschlechtlichen. 1988 schaffte die letzte unfrei gewählte Volkskammer auch diese Unterscheidung ab und setzte damit die juristische Gleichbehandlung von Homo- und Heterosexualität durch.[8]
Die westdeutschen Behörden hielten dagegen zunächst an der Fassung aus dem "Dritten Reich" fest. Beschwerden dagegen wiesen das Bundesverfassungsgericht 1957 und die Bundesregierung unter Konrad Adenauer 1962 zurück. Dabei verwiesen sie - ganz im Stil der repressiven Atmosphäre jener Jahre - auf christliche Normen und die Notwendigkeit, die "gesunde und natürliche Lebensordnung im Volke" zu schützen.[9] Nach dem Regierungswechsel in Bonn und nicht zuletzt aufgrund liberaler Interventionen kam es 1969 und 1973 zu einer Reform des Sexualstrafrechts. Danach waren einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen Männern über 21 Jahren auch in der Bundesrepublik legal.[10] Allerdings wendete man den §175 in Fällen, an denen jüngere Männer beteiligt waren, bis in die 1990er Jahre hinein an. Erst im Zuge der Rechtsangleichung nach der Vereinigung beider deutscher Staaten wurde 1994 der §175 endgültig aus dem deutschen Strafrecht getilgt.
Schwulenbewegung, Coming-Out und AIDS
Die Liberalisierung des Rechts trug mit dazu bei, dass sich das Selbstverständnis und die Organisationsformen homosexueller Männer nach 1970 grundlegend veränderten. Ein weiterer wichtiger Anstoß kam aus den USA, wo sich nach einem Aufstand gegen polizeiliche Repressionen - den New Yorker Stonewall-Unruhen von 1969 - die lesbischwule Bürgerrechtsbewegung formierte, die als eine Art Vorbild die westeuropäischen Entwicklungen der 1970er Jahre prägte. Entscheidend war außerdem der oft unter dem Kürzel "1968" zusammengefasste gesamtgesellschaftliche Wandel, der auch neue Formen des Umgangs mit den Homosexualitäten mit sich brachte. In den späten 1960er Jahren fanden sich - häufig im Umkreis der Studierendenbewegung - Gruppen zusammen, aus denen sich später die Schwulenbewegung entwickelte.[11]
Deren Akteure re-interpretierten das bisher meist abwertend gemeinte Wort "schwul" als Grundlage einer positiv besetzten Identität, die sie offen nach außen zeigten.[12] Dieses neue Selbstverständnis kursierte in zwei voneinander unterscheidbaren Varianten. Einerseits etablierte sich - insbesondere in den großen Städten - eine sichtbare Infrastruktur aus Bars, Saunen und Magazinen wie "Du&Ich" oder "him", die das erleichterte, ermöglichte und förderte, was viele bald als typisch "schwules Leben" betrachteten: das vorgeblich ungezwungene Ausagieren sexueller und anderweitiger Begierden. Von Skeptikern wurde diese Entwicklung indes als am Konsum orientierte Ghettoisierung beschrieben, die lediglich - so der Vorwurf - einen gesonderten Raum für die schwule community und deren Bedürfnisse schaffe, die strukturelle Homophobie der Gesamtgesellschaft aber unangetastet lasse. Andererseits verstand sich die Schwulenbewegung als sexuelle Avantgarde der Linken und wollte mittels einer umfassenden Revolutionierung der gesellschaftlichen Umstände auch die sozialen Probleme der Homosexuellen lösen. Obwohl die einzelnen Akteure permanent zwischen diesem politischen Register und dem Treiben der schwulen Szene wechselten, prägte der postulierte Widerspruch zwischen beiden die 1970er und 1980er Jahre.[13]
Ein anderer wichtiger Streitpunkt war die Frage, inwiefern und wie sehr man die eigene Andersartigkeit betonen und nach außen präsentieren sollte. Dabei spielte die bewusste Distanzierung von den Homophilen der 1950er und 1960er Jahre eine entscheidende Rolle.[14] Deren Sich-Verbergen stellten die Schwulenbewegten ein offenes Sich-Zeigen entgegen. 1972 organisierte man in Münster die erste "Schwulendemo", und 1979 fanden in Bremen und Berlin die ersten CSDs statt, Demonstrationen zum Christopher Street Day, mit denen an die Stonewall-Unruhen erinnert wurde. Im Rahmen individueller Biografien äußerte sich die neue Offenheit als Coming-Out. Jeder Einzelne war aufgefordert, die eigene Homosexualität gegenüber seiner Familie, seinen Freunden und seinen Kollegen zu thematisieren.[15] Mit diesem Sich-Zeigen korrespondierten auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft neue Formen der Wahrnehmung von und des Umgangs mit Homosexualität. Als Indiz dafür kann die Ausstrahlung von schwulen Filmen und Szenen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gelten. Rosa von Praunheims "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt" wurde 1972 in den Dritten Programmen und 1973 in der ARD, Wolfgang Petersens und Alexander Zieglers "Die Konsequenz" 1977 ebenfalls in der ARD gezeigt. Der Bayerische Rundfunk verweigerte in beiden Fällen die Ausstrahlung. Zehn Jahre später konnte man in der Fernsehserie "Lindenstraße" sehen, wie sich zwei Männer küssten. Derlei Sendungen erleichterten vielen Männern das Sprechen über Homosexualität und das Coming-Out.
Allerdings bestand nicht immer Einigkeit darüber, wie weit das Sich-Zeigen gehen sollte. 1973 löste diese Frage den Berliner "Tuntenstreit" aus.[16] Auf der einen Seite standen die "Tunten", die - nicht nur im Spiel mit den Geschlechterrollen - ihre Andersartigkeit vis-a-vis der Umgebung deutlich und provokativ zum Ausdruck bringen wollten, und auf der anderen diejenigen Vertreter der Linken, die ein eher unauffälliges Auftreten befürworteten, um die nicht-homosexuellen Verbündeten im Kampf gegen die Unterdrückung, insbesondere aus der Arbeiterklasse, nicht zu verschrecken. Eine vergleichbare Konstellation prägte den Eklat in der Bonner Beethovenhalle im Jahr 1980. Dorthin hatten die Allgemeine Homosexuelle Arbeitsgemeinschaft (AHA) und weitere schwule Organisationen die Vertreter verschiedener Parteien eingeladen, um im Vorfeld der Bundestagswahl über ihre homosexuellenpolitischen Forderungen zu diskutieren. Diese Veranstaltung sprengten andere Gruppen aus der Schwulenbewegung und ihrem Umfeld, die eine radikalere Veränderung des Systems forderten und der AHA eine reformistische Strategie der Anpassung vorwarfen. Dieser Widerspruch zwischen Tendenzen zur Integration in die Gesamtgesellschaft und dem Betonen der eigenen Andersartigkeit prägte die Schwulenbewegung.
Einen katastrophalen Einschnitt bedeutete in den 1980er Jahren das Auftreten der Immunschwächekrankheit AIDS. Die Trauer über den Tod von Freunden und der Wille zu überleben bestimmten den Alltag vieler männerliebender Männer. Zugleich schürten extreme Forderungen - wie etwa die des CSU-Politikers Peter Gauweiler nach Internierung aller infizierten Homosexuellen - Ängste vor kollektiver Diskriminierung. Im Rückblick kann man jedoch feststellen, dass die Debatten über AIDS und den Umgang mit der Krankheit sich eher in die entgegengesetzte Richtung auswirkten. Selbsthilfe-Vereine und Organisationen wie die Deutsche AIDS-Hilfe wurden gegründet und machten Homosexualität in neuer Weise und in bisher ungekanntem Umfang zum öffentlichen Thema. Sie trugen damit zur Professionalisierung der Schwulenbewegung bei. Zugleich intensivierte die zunehmende Förderung schwuler Organisationen durch staatliche Gelder und private Spenden deren offizielle und gesellschaftliche Anerkennung.[17] Wie mit dieser Anerkennung umzugehen sei und welche Folgen sich daraus ergeben - mit diesen Fragen begann sich die lesbischwule Bewegung in den 1990er Jahren zu beschäftigen.
Vgl. B. Thinius (Anm. 1), S. 16f.
Vgl. Hans-Georg Stümke, Homosexuelle in Deutschland. Eine politische Geschichte, München 1989, S. 183f.
Vgl. Michael Kandora, Homosexualität und Sittengesetz, in: Ulrich Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland, Göttingen 2002, S. 379-401; Christian Schäfer, Widernatürliche Unzucht. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1945, Berlin 2006.
Zum problematischen Verhältnis zwischen beiden Bewegungen vgl. Stefan Micheler, Heteronormativität, Homophobie und Sexualdenunziation in der deutschen Studierendenbewegung, in: Invertito, 1 (1999), S. 60-101.
Ihre wissenschaftshistorische Entsprechung fand diese Identitätspolitik in der Ablösung medizinischer und psychiatrischer Devianzdiskurse durch die Soziologie als neuer Leitdisziplin bei der Erforschung der Homosexualitäten. Vgl. Martin Dannecker/Reimut Reiche, Der gewöhnliche Homosexuelle. Eine soziologische Untersuchung über männliche Homosexuelle in der Bundesrepublik, Frankfurt/Main 1974.
Vgl. Benno Gammerl, "Sex gab's in Schöneberg, Revolution in Kreuzberg", in: Jungle World, Nr. 45 vom 5.11.2009, S. 6-9.
Dieser Bruch verhinderte lange Zeit die Erinnerung an die Vorläufer der Schwulenbewegung, vgl. M. Dannecker (Anm. 5). Ihre Wiederentdeckung war ein langwieriger Prozess, vgl. James D. Steakley, The Homosexual Emancipation Movement in Germany, New York 1975; Schwules Museum/Akademie der Künste, Berlin (Hrsg.), Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwulenbewegung, Berlin 1997.
Vgl. Martin Siems, Coming out. Hilfen zur homosexuellen Emanzipation, Reinbek 1980.
Vgl. Detlef Grumbach, Hundert Jahre Schwulenbewegung? in: ders. (Anm. 5), S. 12-26, hier: S. 23.
Vgl. ebd., S. 12; Michael Bochow, Hat Aids die soziale Situation schwuler Männer verändert? in: ebd., S. 139-149. Zum Umgang mit Aids in der DDR vgl. R. Herrn (Anm. 6).
Die zweite Frauen- und die Lesbenbewegung
Die Geschichte der zwischenfraulichen Homosexualitäten in der Bundesrepublik verlief nach 1970 weitgehend in anderen Bahnen als jene der Schwulenbewegung. Zwar arbeiteten einige Lesben Anfang der 1970er Jahre mit schwulen Gruppen zusammen, beispielsweise in der Frauengruppe bei der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW), die 1972 das erste Lesbenpfingsttreffen organisierte und damit eine wichtige Veranstaltungsreihe begründete. Allerdings kam es Mitte der 1970er Jahre zum Bruch zwischen den Männern und den Frauen der HAW, woraufhin letztere ihre Arbeit als Lesbisches Aktionszentrum (LAZ) fortsetzten.[18]
Diese Bezeichnung verweist darauf, dass frauenliebende Frauen in den 1970er Jahren mit den Lebensweisen und dem Sich-Verbergen der 1950er und 1960er Jahre brachen. Den entscheidenden Kontext, innerhalb dessen sie neue Modi der Intimität zwischen Frauen und alternative Organisationsformen entwickelten, bildete die zweite Frauenbewegung. 1972 initiierten lesbische Teilnehmerinnen am Frankfurter Weiberrat eine Debatte über die Diskriminierung homosexueller Frauen. In den folgenden Jahren entstanden Zeitschriften wie die "ukz - unsere kleine Zeitung" oder die "Lesbenpresse". Zudem kam es in mehreren Städten zur Gründung lesbisch-feministischer Gruppen.[19] Diese organisierten neben zahlreichen Frauenfesten Mitte der 1970er Jahre auch öffentlichkeitswirksame Protestaktionen gegen eine diffamierende Artikelserie über "Das Verbrechen der lesbischen Frauen", mit welcher die "Bild"-Zeitung die Mordanklage gegen Marion Ihns und Judy Andersen, den sogenannten "Hexenprozess von Itzehoe", begleitete.[20]
Feministische Räume wie Frauenbuchläden und Frauenhäuser boten lesbischen Frauen in den 1970er und frühen 1980er Jahren die Möglichkeit, sich zu vernetzen und auf ihre Belange und ihre Forderungen aufmerksam zu machen. Dabei verwies das Wort "lesbisch" im feministischen Kontext nicht nur auf die Liebe zwischen Frauen, sondern als politisierte Geschlechtsidentität auch auf das Streben nach einem frauenbezogenen Leben in Unabhängigkeit von der männlich dominierten Gesellschaft.[21] Über diesen Punkt entspann sich in den 1980er Jahren eine Auseinandersetzung, die eine allmähliche und partielle Loslösung der Lesben- von der Frauenbewegung zur Folge hatte. In diesem Disput warfen die Lesben den Feministinnen vor, die sexuelle Dimension zwischenfraulicher Beziehungen zu verdrängen und die besonderen Bedürfnisse homosexueller Frauen zu marginalisieren. Umgekehrt wurde die Lesbenbewegung beschuldigt, den feministischen Impetus zu vernachlässigen und einem Verständnis des Lesbisch-Seins als entpolitisiertem Lebensstil das Wort zu reden.[22]
Unabhängig von diesen Diskrepanzen haben die Frauen- und die Lesbenbewegung zusammen mit fundamentalen Veränderungen im Geschlechterverhältnis auch einen Wandel in der Lebensweise und im Selbstverständnis frauenliebender Frauen bewirkt. Dieser spiegelte sich, ähnlich wie bei den Schwulen, in neuen Formen des Umgangs mit Homosexualität wider. Auch für lesbische Frauen wurde das Coming-Out, das bewusste Sich-Zeigen, zum biografischen Meilenstein. Gleichsam eine Vorlage für diesen Schritt lieferte Angelina Maccarones Film "Kommt Mausi raus?", der 1995 zur besten Sendezeit in der ARD zu sehen war. Diese und frühere Publikationen zu lesbischen Themen, wie die 1974 ausgestrahlte WDR-Dokumentation über die Berliner HAW-Frauengruppe,[23] verdeutlichen, dass sich auch die gesellschaftliche Wahrnehmung zwischenfraulicher Homosexualität änderte. Weitere wichtige Entwicklungen waren die Etablierung einer lesbischen Subkultur vor allem in den großen Städten sowie - beispielsweise durch die 1982 erfolgte Gründung des Lesbenrings als bundesrepublikanischer Dachorganisation - die Professionalisierung und Institutionalisierung der Lesbenbewegung
Lesben und Schwule in der DDR zwischen Kontrolle und Bewegung
Ähnliche Prozesse veränderten nach 1970 auch die Situation homosexueller Frauen und Männer im östlichen Deutschland, obschon sehr allmählich und aufgrund staatlicher Repressionen nicht ohne Rückschläge. Eine meist auf wenige Cafés und Lokale beschränkte Subkultur hatte es in mehreren ostdeutschen Städten bereits zuvor gegeben.[24] In den 1970er und 1980er Jahren etablierte die lesbischwule Bewegung daneben eigene Strukturen. Ein wesentlicher Unterschied zum Westen bestand dabei darin, dass Lesben und Schwule in der DDR sich nicht auf getrennten Wegen organisierten, sondern stärker zusammenarbeiteten.[25]
Den ersten Versuch in dieser Richtung unternahm 1973 die Homosexuelle Interessengemeinschaft Berlin (HIB). Wichtige Anregungen für die Gründung dieses Netzwerks lieferten Rosa von Praunheims Film aus dem Jahr 1972 und ein Vortrag über Homosexualität in der (Ost-)Berliner Stadtbibliothek.[26] Mehrere Jahre hindurch organisierte die HIB - meist in privaten oder halb-öffentlichen Räumen - Veranstaltungen und Diskussionsrunden. Daneben wandten sich die Mitglieder mit homosexuellenpolitischen Anliegen an die Medien und die Behörden der DDR. 1980 beendete die Initiative ihre Arbeit, nicht zuletzt aufgrund von Schikanen seitens staatlicher Stellen.[27]
In den 1980er Jahren kam es trotzdem zur Gründung weiterer lesbischwuler Gruppen, entweder unter dem Dach der evangelischen Kirche oder im Umfeld staatlicher Organisationen und Einrichtungen.[28] Diese Gruppen setzten sich für die Rechte Homosexueller ein, warben um Akzeptanz und versuchten, die Möglichkeiten für gleichgeschlechtliche Lebensweisen zu erweitern. Obwohl das Ministerium für Staatssicherheit und andere Organe diese Aktivitäten argwöhnisch beobachteten und behinderten,[29] verschafften sich Lesben und Schwule in der DDR dennoch zunehmend Raum und Sichtbarkeit.
Parallel dazu wandelte sich in den 1980er Jahren die gesellschaftliche Wahrnehmung der Homosexualitäten. Darauf verweisen die zunehmenden und wohlwollenden Erwähnungen des Themas in verschiedenen Zeitschriften[30] sowie Diskussionen über die Position homosexueller Menschen im Sozialismus auf wissenschaftlicher und politischer Ebene. 1985 publizierte ein Arbeitskreis der Humboldt-Universität ein Papier "Zur Situation homophiler Bürger in der DDR", und im selben Jahr fand in Leipzig eine Tagung über "Psychosoziale Aspekte der Homosexualität" statt.[31] Letztlich kann man auch die Abschaffung der strafrechtlichen Diskriminierung im Jahr 1988 als Indiz für eine Atmosphäre intensivierter Toleranz werten. Allerdings ist unklar, inwiefern diese Entwicklungen aus den Aktivitäten lesbischwuler Gruppen resultierten. Sicherlich reichten deren Forderungen nach einer umfassenden Akzeptanz homosexueller Lebensweisen deutlich weiter als das, was Teile der politischen Eliten in den späten 1980er Jahren zu gewähren bereit waren.
Resümee und Ausblick
Nach dem Mauerfall am 9. November 1989, dem Tag der Uraufführung von Heiner Carows "Coming Out" im (Ost-)Berliner "Kino International", griffen die west- und die ostdeutsche Geschichte der Homosexualitäten eng ineinander. Die Debatten und Tendenzen der vergangenen zwanzig Jahre können hier nur kurz skizziert werden: Zunächst begannen Lesben und Schwule - dem ostdeutschen Vorbild folgend - stärker zu kooperieren. Als lesbischwule Bürgerrechtsbewegung forderten sie in den 1990er Jahren die Gleichstellung homosexueller Lebensweisen. Ein prominentes Ergebnis dieser Politik war das Lebenspartnerschaftsgesetz von 2001, das die sogenannte Homo-Ehe ermöglichte und zugleich Debatten über "Regenbogenfamilien" beflügelte. In diesem Kontext kam es zum Streit darüber, ob diese Entwicklung als Errungenschaft zu begrüßen oder als Anpassung an heterosexuelle Beziehungsmuster abzulehnen sei, und zum Wiederaufflammen des Konflikts zwischen denen, die sich um Integration bemühten, und denen, die ihre Andersartigkeit betonten. Auch das Mischungsverhältnis von politischem Engagement und Szenetreiben - Stichwort Hedonisierung - wurde erneut diskutiert.[32] Manche Kommentatoren beobachteten stattdessen eine Pluralisierung von lesbischwulen Lebensstilen, welche die Identität der Homosexuellenbewegung zu untergraben drohe.[33] Eine radikale Kritik am Begriff der Identität wurde dagegen unter dem Schlagwort queer formuliert, das auf die Destabilisierung von und das Spiel mit Differenzen als Formen politischer Intervention verweist.
Wenn man auf das eingangs über die 1950er und 1960er Jahre Gesagte zurückblickt, bleiben wenig Zweifel daran, dass sich die Lebensweisen homosexueller Menschen und ihr Umfeld in den vergangenen sechzig Jahren grundlegend verändert haben. Die Zeitgeschichte der Homosexualitäten in Deutschland weist dabei zwei besonders interessante Aspekte auf. Zum einen war sie geprägt von einem Dialog zwischen Ost und West, der die oft allzu eindeutig gezogene Grenze zwischen der "vorbildlichen" Bundesrepublik und der "defizitären" DDR unterläuft. Zum anderen fügt sie sich nicht in eine kontinuierliche Fortschrittserzählung. Zwar verbesserte die Entkriminalisierung der Homosexualitäten und die auch jenseits des Strafrechts wirksamen, liberalisierenden und emanzipatorischen Prozesse die Situation männerliebender Männer und frauenliebender Frauen. Aber diese Entwicklungen setzten mitnichten 1945, sondern erst um 1970 ein, also nach einer langen, von Repressionen geprägten Phase der Nachkriegszeit.
Die Zäsur der 1970er Jahre sollte allerdings den Blick auf die Zeit davor nicht über Gebühr verdunkeln. Die Entgegensetzung der früheren Periode gleichsam als Zeit der bloßen Unfreiheit und der schwulen- und frauenbewegten Jahre nach 1970 als Phase der umfassenden Befreiung wird der Geschichte der Homosexualitäten nicht gerecht. Vor allem unterschlägt sie die Handlungsspielräume, die sich "Homophile" und "Freundinnen" in den 1950er und 1960er Jahren schufen, sowie deren positive Erfahrungen in jener Zeit. Deswegen sollte man allzu plakative Gegensätze meiden und stattdessen darauf achten, wie sich in je spezifischen historischen Situationen unterschiedliche homosexuelle Lebensweisen entwickelten. Diese waren einerseits von je besonderen Vorgaben und Zwängen geprägt, räumten den Akteuren aber andererseits immer auch Gestaltungsmöglichkeiten ein. Diese Ambivalenz zwischen emanzipatorischen Bemühungen und der Beharrlichkeit heteronormativer Ordnungsmuster prägt bis heute die Situation der Homosexualitäten.
Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 15-16/2010)
Vgl. Martina Weiland, "Und wir nehmen uns unser Recht!" Kurzgefasste Lesbenbewegungsgeschichte(n) der 70er, 80er, 90er Jahre in West-Berlin, in: Ihrsinn, Nr. 10 (1994), S. 8-16.
Vgl. Susanna Jäger, Doppelaxt oder Regenbogen? Zur Genealogie lesbisch-feministischer Identität, Tübingen 1998, S. 64f.; Ilse Kokula, Formen lesbischer Subkultur. Vergesellschaftung und soziale Bewegung, Berlin 1983.
Vgl. S. Jäger (ebd.), S. 65; Irene Beyer, Der "Lesbenprozess" in Itzehoe 1974.
Diskriminierung - Politisierung - Solidarisierung, in: Ihrsinn, Nr. 16 (1997), S. 13-24.
Diese Bedeutung entwarfen die US-amerikanischen Radicalesbians in einem Manifest aus dem Jahr 1970, vgl. Sabine Hark, Magisches Zeichen, in: dies. (Hrsg.), Grenzen lesbischer Identitäten, Berlin 1996, S. 96-133, hier: S. 102.
Vgl. S. Jäger (Anm. 19), S. 74; S. Hark (Anm. 21).
Vgl. S. Jäger (Anm. 19), S. 65.
Vgl. Jens Dobler: "Den Heten eine Kneipe wegnehmen", in: Sonntags-Club (Hrsg.), Verzaubert in Nord-Ost, Berlin 2009, S. 167-173.
Vgl. Lising Pagenstecher, Zur Geschichte der Lesbenbewegung in den beiden deutschen Staaten BRD und DDR, in: Ihrsinn, Nr. 10 (1994), S. 101-110.
Vgl. Stefanie Krautz, Lesbisches Engagement in Ost-Berlin 1978-1989, Marburg 2009, S. 67.
Vgl. Kay Nellißen/Kristine Schmidt, Homosexuelle Interessengemeinschaft Berlin, in: Sonntags-Club (Anm. 24), S. 178-185.
Vgl. B. Thinius (Anm. 1), S. 38-52; Ursula Sillge, Unsichtbare Frauen. Lesben und ihre Emanzipation in der DDR, Berlin 1991. Zur These, dass in der DDR private Netzwerke und persönliche Kommunikationen für Schwule bedeutsamer waren als in der Bundesrepublik vgl. R. Herrn (Anm. 6).
Vgl. B. Thinius (Anm. 1), S. 24-29; S. Krautz (Anm. 26), S. 51f.
Vgl. S. Krautz (Anm. 26), S. 18-22.
Vgl. B. Thinius (Anm. 1), S. 29-34. Thinius kritisiert diese Debatten als "Integrationsprogramm von oben".
Vgl. Werner Hinzpeter, Schöne schwule Welt, Berlin 1997; Bernd-Ulrich Hergemöller, Einführung in die Historiographie der Homosexualitäten, Tübingen 1999, S. 124.
D. Grumbach (Anm. 16), S. 16.