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"Mädchenseele" - Filmbesprechung | Geschlechtliche Vielfalt - trans* | bpb.de

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"Mädchenseele" - Filmbesprechung

Marguerite Seidel

/ 4 Minuten zu lesen

Nori wurde bei Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen, sie spürt aber schon als Kleinkind, dass sie ein Mädchen ist. In Alltagsbeobachtungen und Gesprächen wird deutlich, welchen Herausforderungen Kinder und ihre Familien im Anerkennungsprozess um das gelebte Geschlecht begegnen.

Filmstill Nori und ihre Mutter (© Anne Scheschonk)

Nori liebt ihre langen, wehenden Haare und das Kleid mit dem glitzernden Schmetterling. Sie schminkt sich gerne, trägt Ohrringe und nimmt Tanzstunden. Von Beginn an präsentiert die Regisseurin Anne Scheschonk die junge Protagonistin ihres Dokumentarfilms unverkennbar als Mädchen. Typisch weiblich geltende Gesten und Handlungen stehen im Fokus, während sie Nori auf dem Weg zur Schule begleitet, hinein in den Unterricht, in die Mädchenumkleidekabine und beim Spiel mit Freund*innen. Auch das Familienleben mit Noris alleinerziehender Mutter Josephin zeigt der Film in unterschiedlichsten Alltagsszenen. Die Momentaufnahmen spiegeln einen Ist-Zustand wider: Nori geht als Mädchen durchs Leben und wird von ihrem unmittelbaren Umfeld – von Mutter und Großmutter, Lehrenden und Mitschüler*innen – als solches wahrgenommen und akzeptiert.

Momentaufnahmen eines nicht selbstverständlichen Alltags

Im Kontrast zu den Alltagssituationen und des scheinbar "normalen" Lebens von Nori stehen Interviewsequenzen mit Mutter und Tochter. Sie mischen sich unter die Bilder der unbeschwerten Kindheit und qualifizieren diese als Errungenschaft. Denn erst die Gespräche geben Aufschluss über Noris früheres Leben als Junge, den Leidensdruck von Tochter und Mutter und die bis heute konfliktbeladene Loslösung vom biologischen Geschlecht. Häufig zeichnet die Kamera ihre Erinnerungen, Gedanken und Gefühle in Großaufnahme auf, um selbst kleinste Regungen einzufangen. Worte und Mimik zeugen davon, dass der Kampf um Anerkennung den Alltag stets prägt.

Nori beginnt als Kleinkind, mit Barbiepuppen zu spielen und Kleider für sich einzufordern. Ein gelbes T-Shirt dient solange als Pferdeschwanzersatz, bis die Mutter angesichts allmorgendlicher Streitereien um Frisur und Kleidung kapituliert und akzeptiert, dass ihr Kind lange blonde Haare haben möchte. Oder die Phase, in der Josephin Messer und Scheren verstecken muss, weil Nori droht, sich den Penis abzuschneiden und suizidäre Tendenzen zeigt. Bis heute ist Noris größter Wunsch eine geschlechtsangleichende Operation zu vollziehen. Ihren "P" findet sie nach wie vor unerträglich und als Josephin das Thema zur Sprache bringt, verlässt Nori zwischendurch den Raum.

Geschlechterklischees als Mittel zur Orientierung und Selbstverortung

In der Tat lassen Noris Äußerungen und ihr Verhalten, ihr Aussehen, ihre Vorlieben und Hobbys kaum Zweifel an ihrem gefühlten und gelebten Geschlecht. Zum einen gründet dieser Eindruck in der Auswahl der Szenen, die Noris Mädchenhaftigkeit gezielt betonen, indem klischeehaften Vorstellungen von typisch "Weiblichem" bzw. "Männlichem" und stereotype Handlungsweisen in den Vordergrund gestellt werden. Zum anderen ist es Noris eigene Darstellung als auffallend "mädchenhaftes" Mädchen, die nahelegt, dass der Rückgriff auf Rollenklischees für Kinder mit Trans*identität offensichtlich eine wirkungsvolle Methode bei der Selbstverortung und für die Kommunikation mit anderen sein kann. Vermeintlich eindeutig signalisieren diese der Außenwelt, welchem Geschlecht ein Mensch zuzuordnen ist.

Insbesondere in der ländlichen Umgebung, in der Nori aufwächst, dominieren konventionelle Rollenbilder das Zusammenleben. Alternative bzw. differenziertere Auffassungen von Gender und Geschlechtsidentität sind hier, anders als in Großstädten, im Alltag seltener sichtbar und stehen als mögliche Orientierungspunkte nicht zur Verfügung. Mehr noch: Josephin berichtet von offenen Vorbehalten und Unverständnis im Heimatort nach Noris Rollen- und Namenswechsel. Das Mädchen besucht aus diesem Grund die Schule in der nächsten Stadt. Ob und inwiefern das konservative Umfeld Noris Vorstellungen von Weiblichkeit und ihr Verhalten tatsächlich beeinflusst, wird im Film allerdings nicht thematisiert, sondern bleibt Spekulation.

Das Medium Film als Mittel für eine pluralistischere Wahrnehmung

Selten und fast unmerklich bricht die Regisseurin Anne Scheschonk den Geschlechtsdualismus auf, der Noris Leben wie auch den Film beherrscht. Sie zeigt im Kinderzimmer Piratenspielfiguren neben Puppenhaus und Plüschtiereinhorn, beobachtet Nori beim "Jungssport" Fußball oder wie sie im Kreis ihrer Freund*innen zunächst männlichen Wettbewerbseifer verurteilt, um gleich darauf selbst die Erste sein zu wollen. Die grundlegende Frage wird beiläufig dennoch gestellt, von Josephin, als sie Nori beim Kostümieren als Prinzessin zusieht: "Muss [Nori] sich überhaupt verwandeln?" Dass Geschlechtsidentität nicht zwingend eine Entweder-Oder-Entscheidung zwischen den Polen "männlich" oder "weiblich" bedeutet, klingt an dieser Stelle zumindest leise an.

"Mädchenseele" ist Anne Scheschonks erster Film, den sie auf Wunsch von Noris Mutter gedreht und mithilfe einer Crowdfunding-Kampagne finanziert hat. Auf diesem Weg hofft Josephin andere Kinder mit Trans*identität und ihre Familien zu bestärken und zugleich mehr Öffnung, Aufklärung und Akzeptanz zu bewirken (Anmerk. d. Red.: vgl. Interview mit der Regisseurin). Entstanden ist dabei kein Erklärfilm, sondern vielmehr ein einnehmendes Dokument, das in Alltagsausschnitten die Kämpfe eines trans*Kindes und seiner Mutter facettenreich zeigt.

Als Low-Budget-Produktion mag der Film inszenatorische Schwächen aufweisen: Die Alltagsbeobachtungen sind etwas langatmig. Durch den Einsatz atmosphärisch-romantischer Filmmusik und Einstellungen in Zeitlupe, wirken einige Szenen gewollt emotionalisiert – und das obwohl das Thema des Films ohnehin sehr emotional ist. Mit der Konzentration des Films auf nur zwei Protagonistinnen, bleiben zudem viele Fragen unbeantwortet. Insgesamt fehlt es dem Film als dokumentarisches Werk ein wenig an filmischer Raffinesse.

Seine Entstehung außerhalb konventioneller Produktionsstrukturen und institutioneller Zwänge ermöglicht es aber zugleich, das Thema trans*Identität anders aufzugreifen, als es meist in deutschsprachigen Medien geschieht. Jenseits großstädtischer Trends und bekannter jugendlicher Identitätsfindungsprozesse erzählt „Mädchenseele“ vielmehr auf Augenhöhe von Kindern und Eltern. Die einfühlsame Auseinandersetzung mit Nori und Josephin legt authentisch und vielschichtig offen, welch widersprüchliche Gefühle, innere wie äußere Konflikte das Aufwachsen mit Trans*Identität für junge Kinder und ihre Familien mit sich bringt.

In einer Videobotschaft an Nori zu Beginn des Films fasst es Josephin so zusammen: "An manchen Tagen, bin ich nicht sicher, ob ich das richtige tue, an anderen voller Gewissheit […]. Manchmal denke ich zurück […] an deine traurigen Augen und deine Frage, warum das Leben so schwer ist […]. Dann stellt sich für mich nicht die Frage ‚Richtig‘ oder ‚Falsch‘, sondern nur ‚Glücklich‘ oder ‚Unglücklich‘."

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Die freie Autorin und Redakteurin Marguerite Seidel hat Filmwissenschaften in Berlin, Paris und Montpellier studiert und war anschließend als Volontärin im Filmbereich der Bundeszentrale für politische Bildung, bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin für den Jugendfilm-Wettbewerb "Generation" und im Deutsch-Mosambikanischen Kulturzentrum/Goethe-Zentrum in Maputo tätig. Als Autorin und Redakteurin arbeitet sie im Bereich Film, Filmvermittlung und Fremdsprachen. Seit 2016 unterrichtet sie zudem Deutsch als Fremdsprache in einem Hamburger Gymnasium.