Ethnologische Studien über Gesellschaften, in denen andere Geschlechterordnungen als die Zweigeschlechterordnung von Mann und Frau – beispielsweise in Form von Drei- und Viergeschlechterordnungen oder jenen Geschlechterordnungen, in denen neben den Kategorien Mann und Frau weitere, als alternative Geschlechter bezeichnete Kategorien vorhanden sind – finden sich weltweit: in Nord-, Mittel- und Südamerika, in vielen Teilen Asiens, in Afrika sowie in Polynesien, Melanesien und auch in Teilen Europas. Berichte über alternative Geschlechter finden sich darüber hinaus in den verschiedensten Zeitaltern der Menschheitsgeschichte von der Bronze- bis zur Neuzeit.
Einige ethnographische Quellen verdeutlichen, dass insbesondere die gewalttätigen Expansionsbestrebungen europäischer Kolonialmächte durch die Kolonialisierung und Missionierung in den letzten 500 Jahren vielerorts Verantwortung für die Auslöschung kultureller Alternativen zu den westlich geprägten Zwei-Geschlechter-Modellen tragen.
Die folgende Annäherung an die kulturellen Alternativen zur Zweigeschlechterordnung anhand dreier ausgewählter Beispiele erfolgt daher unter Einbeziehung einer Reflektion der Folgen des Kolonialismus, der Missionierung, und bestimmter Formen der kulturellen Globalisierung sowie aktivistischer Stimmen und aktueller Studien aus den besprochenen Ländern. Die drei Beispiele aus dem indigenen Nordamerika, Thailand und Indien, wurden auch aufgrund der guten Quellenlage ausgewählt. Vielerorts fehlt eine derart gute Dokumentation.
Diese Beispiele verdeutlichen die Vielfalt kultureller Geschlechtskonstruktionen, denen Konzepte von Geschlecht und Geschlechterordnungen zu Grunde liegen, die die weit verbreitete Annahme einer universellen naturgegebenen Zweigeschlechtlichkeit als eurozentrisch kennzeichnen. Sie sollen in diesem Beitrag verdeutlichen, wie flexibel (und manchmal auch fragil) Geschlechterkonstruktionen sein können und wie sehr sie verschiedenen gesellschaftlichen Einflüssen unterworfen sind. Gerade die Veränderungen zeigen, dass Geschlechter und ihre Konstruktionen wandelbar und flexibel, und weder unveränderlich, noch essentiell oder universell sind.
Das Indigene Nordamerika
Für 155 der geschätzten 400 indigenen Gesellschaften, die zu Beginn der Kolonialisierung und Missionierung Nordamerikas existierten, dokumentieren ethnographische Berichte das Vorhandensein eines Dritten, und teilweise auch eines Vierten Geschlechts bzw. alternativer Geschlechter. Im Zuge der Kolonialisierung und Missionierung kam es in Nordamerikas häufig zu Völkermord mittels Krieg, Massenmorden, Verbreitung von Krankheiten, Vertreibung aus fruchtbaren Regionen und Aushungern sowie zur zwangsweisen Einführung fremder kultureller Werte in Form des Christentums und später auch des westlichen Schul- und Rechtssystems. Hierbei diente auch der Verweis auf die als "Sodomiten"
Hinter den Geschlechterordnungen verbargen sich vielfältige sowie unterschiedliche und teilweise gegensätzliche Konzepte, die das Argument von einer Vielzahl menschlicher Geschlechterordnungen unterstreichen.
In der Apsáalooke-Gesellschaft übte "Osh-Tisch" ("Findet sie und tötet sie") die Tätigkeiten von Frauen und Männern gleichzeitig aus und erlangte als Künstlerin, Heiler und berühmter Krieger über die Grenzen dieser Gesellschaft hinaus Bekanntheit. Hastiin Klah von den Dine kombinierte die Tätigkeiten einer Weberin und eines Heilers miteinander und schuf so eine kulturelle Neuerung. Diese Neuerung war eine heilige Webkunst, die ihren Weg in die Kunstausstellungen Chicagos fand und deren spätere Abwandlungen heute den Dine als Einkommensquelle dienen. Pi´tamakan ("Rennender Adler") erhielt aufgrund seiner Tapferkeit den Namen eines besonders geehrten Anführers. Pi´tamakan weigerte sich ein "Mädchen" zu sein, und wurde in der Kindheit als sakwo´mapi akikwan (Junge-Mädchen) bezeichnet. Als Erwachsener trug er im Camp Frauenkleider und auf den Kriegszügen Männerkleider und stiftete Sonnentanz-Feste, was Frauen vorenthalten war. Neben den hier deutlich werdenden Funktionen als Heiler_innen, Künstler_innen, Krieger_innen und Anführer_innen, konnten die alternativen Geschlechter andere wichtige gesellschaftliche Funktionen ausfüllen, z. B. als religiöse Spezialist_innen, als "Kuppler_innen", die Heiraten arrangierten sowie als Mittler zwischen den Geschlechtern und den Kulturen.