Helge Pross (1927 - 1984) war Pionierin der Geschlechterforschung. Ihr Schwerpunkt lag im Bereich Frau und Familie. In zahlreichen Studien belegte sie die strukturelle Benachteiligung von Frauen und Mädchen.
Die Soziologin Helge Pross, die von 1965 bis 1984 an westdeutschen Universitäten lehrte, war eine Pionierin der Geschlechterforschung. Sie gehörte zu einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlerinnen, die sich in der Nachkriegszeit habilitierten und an eine Universität berufen wurden. Schon bald nach 1945 hatte Helge Pross erkannt, dass die Emanzipation der Frau zentral für die Entwicklung der Demokratie ist. Mit ihren großen Studien über strukturelle Benachteiligungen von Mädchen und Frauen sowie zu Männerfragen wollte sie die Menschen in Deutschland aufklären. Ihrer Überzeugung nach mussten noch weitere Barrieren beseitigt werden, um demokratische Prinzipien wie individuelle Freiheit und soziale Gleichheit zu verwirklichen.
Mit ihrer journalistischen Tätigkeit, die sie neben ihren Aufgaben als Professorin fortführte, vermittelte sie ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse auch einem breiten Publikum. Als Wissenschaftlerin für Geschlechterforschung und als Aufklärerin ist sie eine Wegbereiterin für eine geschlechtergerechte Demokratie.
Aufbruch in die Emanzipation
Helge Pross kam am 14. Juli 1927 in Düsseldorf als Tochter von Gertrud und Robert Nyssen zur Welt. Ihr Vater, der als junger Mann Philologie studierte und im Dritten Reich Mitglied der NSDAP war, hatte in der Stahlindustrie Karriere gemacht, während ihre Mutter fünf Töchter und einen Sohn versorgte. Ihre Sozialisation war geprägt durch die nationalsozialistischen Weltanschauung. Gleichzeitig kam sie über das Elternhaus mit Musik, Kunst und Literatur in Berührung.
Wenige Wochen vor der Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 wurde Helge Pross zum Reichsarbeitsdienst eingezogen. Dafür verließ sie das Gymnasium ohne ein formelles Reifezeugnis. Sie wurde einem Arbeitsdienstlager in der Dübener Heide zugeteilt. Von dort aus flüchtete sie vor den Truppen der Alliierten und fand Unterkunft bei einer Bäckerfamilie. Monate später kehrte sie zu ihrer Familie zurück, die die Bombenangriffe auf Düsseldorf überlebt hatte.
Der Wunsch zu studieren führte Helge Pross zurück zur Schule, wo sie – nach einem Sonderlehrgang – im April 1946 das Abitur ablegte. Die Eltern unterstützen diesen Wunsch, da sie ihre Tochter vor der "Abhängigkeit der Ungelernten" bewahren wollten. Noch im Mai des selben Jahres nahm sie an der Ruprecht-Carl-Universität in Heidelberg ein Studium auf, und zwar in den Fächern Soziologie, Geschichte, Staatslehre und deutsche Literaturgeschichte.
Nebenher machte Helge Pross erste journalistische Erfahrungen durch Veröffentlichungen in Studentenzeitschriften. Die Diskussion über einen Numerus clausus nur für Frauen nahm sie zum Anlass, eingehend über Bildungschancen von Frauen nachzudenken. Dazu schrieb sie ihren ersten Artikel mit dem Titel "Die geistige Ebenbürtigkeit der Frauen", der 1946 als Leserbrief in der Studentenzeitschrift Diogenes abgedruckt wurde.
Die eigene Emanzipation und die Beschäftigung mit geschlechtsspezifischen Benachteiligungen waren erste Schritte auf dem Weg zu einem Demokratieverständnis, dass sich an Fragen der individuellen Freiheit und der sozialen Gleichheit orientierte. Dazu gehörte auch, dass sich Helge Pross noch während ihres Studiums kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzte.
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das im Mai 1949 in Sonderbeilagen verschiedener Zeitschriften abgedruckt war, nahm sie "ungeheuer ernst". Insbesondere der Artikel 3, Absatz 2 "Männer und Frauen sind gleichberechtigt" sollte zur Richtschnur in ihrem Leben werden.
Stationen auf dem Weg zur Professur
1950 beendete Helge Pross ihr Studium mit einer Promotion über soziale Ideen Bettina von Arnims. Im gleichen Jahr heiratete sie den Politologen Harry Pross. Vorerst verdiente sie sich ihren Lebensunterhalt als freie Journalistin.
Schließlich ging sie 1952, mit einem Reise- und Forschungsstipendium in der Tasche, für zwei Jahre in die USA. Diese Zeit nutzte sie, um über deutsche Akademiker und Akademikerinnen zu forschen, die in die Vereinigten Staaten emigriert waren. In New York lernte sie den Staatsrechtler Franz Leopold Neumann kennen. Neumann, ebenfalls ein Emigrant aus Deutschland, sah den Sinn einer Demokratie darin, ein Höchstmaß an individueller Freiheit zu gewähren, gleichzeitig aber auch für soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Daher stand er dem Kapitalismus sehr kritisch gegenüber und wies auf die Gefahren der freien Marktwirtschaft hin. Seine Ansätze sowie die Erfahrungen der Emigranten und Emigrantinnen hinterließen Spuren im Denken der jungen Frau.
Ihre erste Ehe hielt vier Jahr. 1954 kehrte Helge Pross – in Begleitung von Neumann – nach Westdeutschland zurück. Noch im gleichen Jahr kam er bei einem Verkehrsunfall ums Leben, wodurch ihnen eine gemeinsame Zukunft verwehrt wurde. Ihr blieben die von ihm vermittelten Kontakte zur Frankfurter Schule. Von 1954 bis 1959 war Helge Pross Mitarbeiterin bei deren führenden Wissenschaftlern Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. In Frankfurt lernte sie auch ihren zweiten Ehemann, den Journalisten Karl W. Boetticher kennen, den sie 1972 heiratete.
In Westdeutschland nahm Helge Pross neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit auch ihre journalistische wieder auf. Des Öfteren äußerte sie sich jetzt in Zeitschriften und im Rundfunk zu frauenpolitischen Themen. 1963 erhielt sie für ihre journalistischen Beiträge den Kurt-Magnus-Förderpreis.
Dokumentationen der sozialen Benachteiligung von Mädchen und Frauen
Nach ihrer Habilitation 1963 im Fach Soziologie und dem Ruf 1965 an die Justus-Liebig-Universität in Gießen begann Helge Pross, Daten für ihre erste große Studie zu "Frauenfragen" zu sammeln. Diese Studie erschien 1969 unter dem Titel "Über Bildungschancen von Mädchen in der Bundesrepublik".
Innovativ für die damalige soziologische Forschung war, dass Helge Pross ihrer Untersuchung die Kategorie "Geschlecht" zu Grunde legte. So verglich sie die Bildungschancen der Mädchen mit denen der Jungen und dokumentierte eindrucksvoll, dass die Zugangsmöglichkeiten zu Gymnasien und Universitäten sowie zur ganzen Bandbreite der beruflichen Bildung für Mädchen eingeschränkter seien als für Jungen.
Diese soziale Ungleichheit führte sie auf geschlechtsspezifische Rollenzuschreibungen zurück:
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Die stärksten Hindernisse erwachsen aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und der Ideologie des weiblichen 'Wesens', die diese Arbeitsteilung stützt und zugleich von ihr erhalten wird. In Westdeutschland wie anderswo fällt Frauen die größere Verantwortung für Familie und Haushalt zu. Während ein Mann die Aufgabe des Vaters gleichsam im Nebenberuf wahrnehmen kann, summieren sich die Pflichten der Mutter zum Hauptberuf.
Diese Rollenfestschreibung der Frau als Mutter und Hausfrau, die mit dem biologischen Faktor des Gebärens begründet werde, so Helge Pross weiter, hätten die Mädchen derartig verinnerlicht, dass die meisten von ihnen diese Aufgabenverteilung akzeptierten. So würden diese als Beruf oder Studienfächer nur jene wählen, die der traditionellen Definition von Weiblichkeit entsprächen. Dazu würden sie eine geringere Qualifikation und Position sowie geringere Einkünfte und eine verkürzte Berufszeit in Kauf nehmen. Der bevorzugte Lebensentwurf der meisten Mädchen sei deshalb der der "Hausfrauenehe", wodurch die soziale Ungleichheit stets neu produziert werde. Als Folge davon hätten die meisten Frauen keinen Zugang zu einem selbstbestimmten, finanziell unabhängigen Leben und zu entscheidungsbefugten Positionen.
In Zusammenarbeit mit der Zeitschrift BRIGITTE, für die sie regelmäßig Kolumnen schrieb, erschien 1973 ihre zweite große Studie zur Benachteiligung von Frauen unter dem Titel "Gleichberechtigung im Beruf? Eine Untersuchung mit 7000 Arbeitnehmerinnen in der EWG". In dieser Studie dokumentierte Helge Pross, wie sich die soziale Ungleichheit im Berufsleben bzw. in der "außerhäuslichen Arbeit" von Frauen fortsetzte: Ansiedelung auf den unteren Positionen, weniger Fortbildungschancen, geringeres Einkommen, Doppelbelastung und Brüche in der Erwerbstätigkeit aufgrund der Familienarbeit, Teilzeitarbeit, geringere Aufstiegsmöglichkeiten, Abdrängung in so genannte "weibliche" Branchen.
Hinzukam, dass die meisten Frauen ihren Lebensentwurf schon früh an den zu erwartenden Familienpflichten ausrichteten. Somit konnte Helge Pross die im Titel gestellte Frage klar mit nein beantworten. Mit ihrem vergleichenden Ansatz machte sie zudem deutlich, dass die geschlechtsspezifische Ungleichheit kein westdeutsches, sondern ein europäisches Phänomen ist.
Aus ihrer Studie zog Helge Pross ferner den Schluss, dass die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, d.h. der Mann als Brotverdiener, die Frau als Fürsorgerin der Familie, ein zentraler Baustein des gegenwärtigen Wirtschaftssystems sei: "In keinem Land besteht ein manifestes Interesse an einer eingreifenden Veränderung der alten Arbeitsteilung. Anscheinend erfüllt die Familie in ihrer vorherrschenden Form mit besonderer Beanspruchung der Frauen die ihr zugewiesenen Funktionen der Kinderversorgung und -erziehung sowie des emotionalen Ausgleichs in einer für das Funktionieren des Industriesystems ausreichenden Manier." (Gleichberechtigung im Beruf?, 1973, S. 166)
Die ökonomischen Strukturen und die Dominanz traditioneller Vorstellungen vom Wesen der Frau führten dazu, dass eine Bewusstseinsveränderung nur schwerlich erreicht werden könne und folglich die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an außerhäuslichen Tätigkeiten noch in ferner Zukunft liegen würde.
Buchcover Die Wirklichkeit der Hausfrau von Helge Pross
Buchcover: Die Wirklichkeit der Hausfrau von Helge Pross
Buchcover: Die Wirklichkeit der Hausfrau von Helge Pross
In ihrer dritten Studie von 1975 wandte sich Helge Pross den "Nur-Hausfrauen" zu. Wieder in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift BRIGITTE stellte sie in Bezug auf 1.200 nichterwerbstätige Ehefrauen folgende Fragen: Wie leben sie? Wie denken sie? Wie sehen sie sich selbst? Damit gab sie einer der größten Frauengruppen in Westdeutschland eine Stimme, und zwar zu einer Zeit, in der Hausarbeit mit Geringschätzung betrachtet wurde und Trägerinnen der Neuen Frauenbewegung die Erwerbstätigkeit der Frau mit Emanzipation gleichsetzten. Demgegenüber stellte Helge Pross in ihrer Einleitung sachlich fest: "Die Hausfrauen erfüllen Zuliefererdienste für die Erwerbsgesellschaft. (...) Ihr Arbeitsaufwand (...) ist annähernd so groß wie der Arbeitsaufwand in der Erwerbswirtschaft. Wie immer man die häuslichen Verrichtungen bewertet, Arbeit sind sie in jedem Fall. Trotzdem werden sie sozial nicht honoriert, weil sie keine Erwerbsleistung sind." (Die Wirklichkeit der Hausfrau, 1975, S. 14)
Anhand der Selbsteinschätzungen der Hausfrauen attestierte Helge Pross ihnen eine subjektive Zufriedenheit, die allerdings von der objektiven Benachteiligung und der finanziellen Abhängigkeit kontrastiert werde. Zudem gab sie zu bedenken, dass in Zukunft aus dem Gefühl der Zufriedenheit durchaus ein Gefühl der Unzufriedenheit werden könne, da jüngere Frauen in der Regel besser ausgebildet seien als ältere und Erwerbstätigkeit für sie selbstverständlicher sei.
Dieser Prognose stellte sie eine Vision entgegen, die ihrem Demokratieverständnis entsprach:
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Erstrebenswert scheint ein Zustand, in dem Frauen und Männer mehr Möglichkeiten haben, ihre Daseinsweise oder die Formen der Verteilung von häuslichen und außerhäuslichen Pflichten freier zu wählen.
Dafür definierte sie folgende gesellschaftspolitische Aufgaben: Eine "Entlastung der Frauen von Familienaufgaben durch familienergänzende außerhäusliche Einrichtungen ebenso wie durch umfassendere Hilfen der Männer; auf der anderen Seite die breitere und differenzierte Öffnung des Ausbildungs- und des Berufsbereichs. Bessere Möglichkeiten für Fort- und Anschlussausbildungen und ein vielfältigeres Angebot an qualifizierten Teilzeitstellen. " (Die Wirklichkeit der Hausfrau, 1975, S. 253f.) Was in ihrem Maßnahmenkatalog für "Neuerungen" fehlte, war ein flexibleres Arbeitszeitmodel für beide Geschlechter.
Frauenfragen betreffen die Gesellschaft und damit auch die Männer
1976 nahm Helge Pross die Berufung auf den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Siegen an. In den kommenden Jahren erweiterte sie ihre wissenschaftliche Perspektive, indem sie – erneut in Kooperation mit der Zeitschrift BRIGITTE – "Selbstbilder" von Männern und deren Bilder von Frauen untersuchte. In dieser Studie, die 1978 unter dem Titel "Die Männer" erschien, machte sie deutlich, dass Frauenfragen in Beziehung zu Männerfragen stehen. Da die von der Frauenemanzipation hervorgerufenen Veränderungen die Strukturen der Familie berührten, berührten sie auch die Lebenssituation der Männer.
Zwar räumten die von Helge Pross befragten Männer den Frauen gleiche Rechte ein, aber die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung wurde von ihnen in keiner Weise in Frage gestellt. Einhellig würden sie die Meinung vertreten, Frauen sollten sich den Bedürfnissen der Familie unterordnen. In ihrem traditionellen Verständnis von "Männlichkeit" war Familienarbeit nicht vorgesehen und Vater zu sein spielte nur eine Nebenrolle. Die Erwerbstätigkeit war für sie das Synonym ihrer "Männlichkeit". Warum sollten sie die Geschlechterhierarchie ändern, so die Frage von Helge Pross, wenn die gegenwärtige Ordnung ihren Bedürfnissen entsprach? In den "Männerfragen" lag also ein Schlüssel, um die Zählebigkeit solcher Strukturen zu erklären, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen zum Problem machte.
Ihre Männerstudien konnte Helge Pross nicht mehr vertiefen, erlag sie doch 1984 – im Alter von nur 57 Jahren – einem Krebsleiden. Mit ihren Studien belegte sie eindrucksvoll, dass Frauen und Mädchen – im Unterschied zu Männern und Jungen– nach wie vor mit strukturellen Benachteiligungen zu kämpfen hatten, und zwar trotz gleicher Rechte. Gründe dafür fand sie in den traditionellen Konstruktionen von "Weiblichkeit" und "Männlichkeit". Die daraus abgeleiteten Verhaltensregeln und Erwartungen hätte die Mehrheit der Frauen und Männer derart verinnerlicht, dass ein Aufbrechen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung noch in weiter Ferne läge. Die ungleichen Wahl- und Handlungsmöglichkeiten hätten zur Folge, dass ein der Demokratie verpflichtetes Gemeinwesen – wie die BRD – die individuellen Neigungen und Fähigkeiten der Frauen nicht ausschöpfen könne.
Mit ihrem Forschungsinteresse an Frauen- und Männerfragen und den daraus resultierenden Erkenntnissen erscheint es nahe liegend, dass Helge Pross in direktem Kontakt zur alten und – mehr noch – zur neuen Frauenbewegung gestanden hätte. Tatsächlich hielt sie sich von beiden erstaunlich fern, wobei sie als Journalistin gelegentlich die politischen Aktionen der neuen Feministinnen kritisierte. Ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse flossen in die feministischen Debatten der 1970er und 1980er Jahre ein, ohne dass sich Helge Pross daran direkt beteiligte. Auch verließ die herausragende Soziologin die wissenschaftliche Institution nicht, um den Kampf für Chancengleichheit und neue Strukturen auf der Straße sowie der politischen Bühne fortzusetzen. Das übernahmen andere Frauen.
geb. 1962, freiberufliche Historikerin für Zeitgeschichte in Bonn, Forschungsschwerpunkte: Internationale Frauenbewegung, politische Biographie und feministisches Denken.
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