Nicht nur Feministinnen beschleicht Unbehagen beim Betrachten des gegenwärtigen Zustands repräsentativer Demokratien. Die Bezeichnung "Postdemokratie" - so der Begriff des französischen Philosophen Jacques Rancière,
"Postdemokratische" Konstellation und die Situation von Frauen
Der Raum des Politischen, das heißt der öffentlichen Debatte, der Partizipation und des Mitentscheidens, wurde sukzessive verengt, so dass sich Bürgerinnen und Bürger durch die politische Elite nicht mehr vertreten fühlen. Dies zeitigt vielfältige Folgen. Im Jahr 2009 sank beispielsweise die Wahlbeteiligung bei den Bundestagswahlen auf das historische Nachkriegstief von knapp über 70 Prozent der Wahlberechtigten - nur 71 Prozent der weiblichen und nur 71,8 Prozent der männlichen Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab.
Doch, so lässt sich aus einer feministischen Perspektive fragen: Hat es jemals in der Bundesrepublik - wie auch in anderen liberalen Demokratien - ein "Davor", hat es also eine Konstellation gegeben, welche die Bezeichnung Demokratie - im Sinne von Selbstherrschaft, Selbstbestimmung und Autonomie aller Bürgerinnen und Bürger - verdient hätte? Hat es also aus einer Geschlechterperspektive jenen "Augenblick der Demokratie" gegeben, an dem Crouch seinen Befund des "Danach"
Paradoxer demokratischer Einschluss von Frauen
Trotz formal gleicher politischer Rechte ist die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor durch die quantitative und qualitative politische Unterrepräsentation von Frauen gekennzeichnet.
Und mehr noch: Deutschland hat seit fünf Jahren eine Bundeskanzlerin. Frauen sind also nicht mehr ganz so fremd in der Politik, sondern Politik wurde auch für Frauen ein Beruf wie jeder andere "Karriereberuf", allerdings mit ähnlichen Barrieren wie in anderen Berufsfeldern auch. Diese quantitativen Erfolge sind ohne Zweifel das Ergebnis der Quotenregelungen der Parteien, die sich im Rekrutierungsprozess aktiv um Frauen bemühen müssen. Vor allem die politische Mobilisierung von Frauen seit den 1970er Jahren schloss den gender gap in der politischen Beteiligung und weckte nicht nur das Interesse von Frauen an der Politik,
Im Global Gender Gap Report 2010 des World Economic Forums in Genf rangiert Deutschland allerdings nur auf Platz 13 (von 134 Ländern) im Bereich Political Empowerment
Zudem gibt es Indizien dafür, dass der gestiegenen quantitativen Repräsentation in politischen Institutionen eine Tendenz der Entmächtigung von Frauen, beispielsweise durch Sozialabbau und die Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen, wovon vor allem Frauen betroffen sind, gegenübersteht. So ist der gender pay gap in den vergangenen Jahren in der Bundesrepublik beispielsweise wieder gestiegen.
Die Stagnation beziehungsweise die Rückschläge in der Geschlechtergleichstellung möchte ich im Folgenden durch einen Blick auf die Geschlechtereffekte der Transformation von Demokratie im Kontext postdemokratischer Entwicklungen erklären.
"Feministisches Demokratieunbehagen": geschlechtsspezifische Folgen des "Verhandlungsstaates"
Im Zuge der ökonomischen Globalisierung und politischen Internationalisierung veränderten sich die Institutionen und Prozesse staatlicher Repräsentation und Entscheidung. Es gibt deutliche Indizien dafür, dass sich politische Entscheidungen zunehmend demokratisch legitimierten Gremien entziehen. Gesellschaftlich wichtige und verbindliche Entscheidungen werden in der Postdemokratie nicht mehr im Parlament, sondern vielmehr in der Lobby des Parlaments, in supranationalen Gremien wie der EU oder in Vorstandsetagen multinationaler Konzerne getroffen. Solche "Verhandlungsprozesse" im vor- oder nichtparlamentarischen Raum zeichnen sich durch die dichte Knüpfung eines geschlossenen "Netzwerks" politischer und privater, das heißt ökonomischer, teilweise auch zivilgesellschaftlicher Organisationen aus. Damit bergen diese Entscheidungsformen die Gefahr der Informalisierung von Politik in den Substrukturen von Verhandlungsrunden und -netzwerken, mit anderen Worten: der Schließung beziehungsweise Entöffentlichung politischer Entscheidungsräume.
Dies hat geschlechterpolitische Folgen: Zum einen sinken die Chancen zur Partizipation und zur egalitären quantitativen Repräsentation von Frauen. Denn die zunehmende Verlagerung politischer Entscheidungen in nicht einmal mehr durch den Wahlakt legitimierte "Verhandlungssysteme" und "Politiknetzwerke" schließt Frauen nachhaltig aus politischen Entscheidungsprozessen aus. Entöffentlichung, das heißt fehlende Öffentlichkeit und Kontrolle, ist - mit anderen Worten - ein Modus der "Maskulinisierung" von politischen Entscheidungsprozessen und der Verstärkung "männerbündischer" Strukturen. Zum anderen erschwert dieser Politikumbau das "Handeln für" gleichstellungspolitische Belange, also auch die qualitative Repräsentation von Frauen und die Responsivität politischer Institutionen für Geschlechtergerechtigkeit.
Welche Mechanismen tragen dazu bei, dass Frauen in der Netzwerkdemokratie quantitativ unterrepräsentiert bleiben? Erstens erfolgt die Teilnahme an nichtöffentlichen Zirkeln nicht durch eine Wahl in solche Gremien, sondern durch Kooptation. Kooptationsverfahren neigen dazu, das "Ähnliche" aufzunehmen - und dieses "Ähnliche" ist oftmals das ähnliche Geschlecht. Alison Woodward hat diese männliche Selbstrekrutierung am Beispiel der Bürokratie der EU-Kommission gezeigt.
Zweitens werden durch die Informalisierung von Politik gerade jene Repräsentationsorgane geschwächt, in die sich Frauen mühsam den Zugang durch Quotenregelungen erkämpft haben. Die Hinterzimmer der "Verhandlungsdemokratie" bleiben ihnen verschlossen. Ein solches Hinterzimmer sind die Beratungsgremien der Bundesregierung. Eine "Kleine Anfrage" im Deutschen Bundestag hat jüngst zu Tage gebracht, dass in manchen dieser Beratungsgremien - wo nicht nur beraten, sondern auch (vor-)entschieden wird - der Frauenanteil teilweise bei mageren 7,7 Prozent liegt, so beispielsweise im wissenschaftlichen Beirat der Bundesanstalt für Straßenwege.
Den Machtverlust von Frauen durch die Verlagerung von politischen Entscheidungen in neue Gremien macht auch die Studie von Benny Geys und Karsten Mause deutlich,
Zudem schlagen drittens Machtasymmetrien in solchen Public-Private-Netzwerken stärker zu Buche als im parlamentarischen Entscheidungsprozess, der durch Formen des Machtausgleichs gekennzeichnet ist. In die Netzwerke des Verhandlungsstaates sind zwar gesellschaftliche Akteure wie Nichtregierungsorganisationen (NRO), also auch Frauengruppen, teilweise integriert, doch die Macht und Stärke von ökonomischen Interessengruppen ist weit größer als jene von NROs. Vor allem marginalisierte oder minorisierte Frauen wie Migrantinnen haben weit geringere Chancen, in informellen Gremien gehört zu werden, als Frauen mit hohem - zumindest symbolischem - Kapital. Also selbst jene für Frauen prinzipiell offeneren Verhandlungsstrukturen erweisen sich als ethnisch und klassenspezifisch ungleiche Politikformen, die nicht nur gut ausgebildete Männer, sondern auch Frauen privilegieren, und damit Ausschlüsse produzieren und legitimieren.
Diese intensivere Form der informellen Verflechtung zwischen Interessenverbänden, Bürokratie und privaten Akteurinnen und Akteuren verhindert schließlich auch die erfolgreiche Intervention institutioneller Frauen- und Gleichstellungspolitik. Die informellen Institutionen sind deshalb auch für geschlechtsspezifische Themen undurchlässig. Also auch die qualitative Repräsentation von Frauen, das "aktive Handeln" für die Interessen und Bedürfnisse von Frauen, wird durch die Transformation von Demokratie beeinträchtigt, und der frauenpolitische Handlungsspielraum wird begrenzt. Dies zeigt sich in der jüngst bekannt gewordenen Kooperation zwischen dem Bundeswirtschaftsministerium und Rechtsanwaltskanzleien bei der Formulierung von Gesetzen in der Finanzmarktkrise: Das Prinzip des Gender Mainstreamings, also die Berücksichtigung der Geschlechtereffekte dieser Maßnahmen, fand keine Anwendung.
Chancen der Geschlechterdemokratisierung
Ist Geschlechterdemokratie also unmöglich geworden oder eröffnet die Transformation von Demokratie möglicherweise doch auch demokratiepolitische Chancen? Es folgen abschließend einige Bedingungen für eine geschlechtergerechte "Neuerfindung" von Demokratie. Ist die quantitative Repräsentation von Frauen in der Politik eine Frage der Geschlechtergerechtigkeit und sind effektiv sanktionierbare Quotenregelungen deshalb nach wie vor wichtig, so kann aber frauenpolitisches Engagement von Politikerinnen nicht qua Geschlecht erwartet werden.
Vielmehr muss die Frage der Repräsentation von Frauen mit der Frage verknüpft werden, wie frauenpolitische Institutionen und Gesetze in ihrem Bestand gesichert und erweitert, wie der Zugang von frauenbewegten zivilgesellschaftlichen Gruppierungen garantiert werden kann, damit das "Handeln für Frauen" in politischen Entscheidungsprozessen - und zwar nicht nur in Parlamenten und Parteien, sondern auch in Verhandlungsnetzwerken sowie bei der administrativen Umsetzung von Gesetzen - realisiert werden kann.
Neuere internationale Studien zeigen, dass es für die politische Durchsetzung der Interessen von Frauen, also für das acting for, mindestens dreierlei braucht: Zum ersten bedarf es öffentlicher Räume der Diskussion über "Fraueninteressen". Es ist eine Binsenwahrheit, dass es "die" Interessen aller Frauen nicht gibt, dass vielmehr die Interessen von Frauen vielfältig, ja dass sie auch antagonistisch sein können. Umso mehr kommt es darauf an, dass es Institutionen und Verfahren gibt, wie über solche Interessen gestritten werden kann. Diese Frauenöffentlichkeit kann nicht nur eine Parteienöffentlichkeit sein - traditionellerweise erfüllen die Parteien in westlichen Demokratien diese Funktion der Interessenbündelung und -artikulation. Vielmehr müssen frauenbewegte Gruppen aktiv in diesen Prozess der Interessenartikulation eingebunden werden und zwar in einem kritischen Prozess der öffentlichen Debatte ganz unterschiedlicher Gruppen von Frauen. Eine Möglichkeit wäre eine ständige "Frauenkonferenz", an der möglichst viele unterschiedliche Frauengruppen beteiligt werden sollten.
Zum zweiten braucht es Institutionen der Vermittlung von frauenbewegten Öffentlichkeiten in das politische System hinein. Es braucht also nicht nur Frauen in repräsentativen Entscheidungsorganen oder in Ministerien, sondern es braucht vor allem solche Frauen - und selbstverständlich auch Männer -, die sich für Geschlechtergerechtigkeit in politischen Entscheidungsprozessen einsetzen. Diese qualitative Repräsentation von Frauen kann nur im Rahmen gleichstellungspolitischer Institutionen wie beispielsweise Gleichstellungsstellen und Frauenbüros sowie einem eigenen Ministerium, welches die Gleichstellung nicht der Familienpolitik unterordnet, erfolgreich sein. Aktives Handeln für Frauen braucht zudem rechtlich gesicherte Instrumente einer Gleichstellungspolitik, also "bewehrte" Gleichstellungsprogramme. Der Abbau solcher gleichstellungspolitischer Institutionen ist weit gefährlicher für Gleichstellungspolitik als das Sinken der Frauenanteile im Bundestag oder in den Landesparlamenten.
Zum dritten darf Demokratie nicht nur als Verfahren der Mehrheitsfindung und Repräsentation verstanden werden. Demokratie hat vielmehr ganz unmittelbar mit den Lebensbedingungen unterschiedlicher Menschen zu tun. Ein "dünner" oder schwacher Begriff von Demokratie, der lediglich auf die Institutionen und Verfahren der Parteiendemokratie abzielt, ist angesichts der dramatischen Veränderungen westlicher Demokratien nicht mehr angemessen: Citizenship, das heißt aktive politische Teilnahme erfordert gleiche soziale Teilhabe. Mit anderen Worten: Nur die Ermächtigung von Frauen zur Politik - die Verfügung über Zeit und ökonomische Ressourcen im Sinne einer sozialen Gleichstellung - ermöglicht ihnen politische "Selbstbestimmung" und "Souveränität" - was den Gehalt des Begriffs "Demokratie" ausmacht.
Geschlechterdemokratisierung muss daher an der Verteilung von Arbeit und Generativität und den damit verbundenen Ungleichheiten ansetzen. Ein schon vielfach eingeklagter "neuer", demokratischer Geschlechtervertrag muss auf Gerechtigkeit bei der Verteilung von Arbeit, von gesellschaftlich notwendiger Fürsorge- und Pflegearbeit und von Erwerbsarbeit zielen.
Erschienen in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 1-2/2011)