Im Februar 2005 wurde die 23-jährige Hatun Aynur Sürücü an einer Bushaltestelle in Berlin-Tempelhof von einem ihrer drei Brüder erschossen. Der Grund: Sie trennte sich von ihrem Cousin, mit dem sie im Alter von 16 Jahren gegen ihren Willen verheiratet wurde, machte den Schulabschluss nach und begann eine Ausbildung zur Elektroinstallateurin. Nach Auffassung ihrer Familie hatte sie dadurch deren Ehre verletzt. Dieser Mord im Namen der Ehre war nicht der erste in Deutschland und ist längst nicht der letzte gewesen. Dennoch schreckte er die Öffentlichkeit auf und sorgte dafür, dass das Phänomen Gewalt aus dem Motiv der Ehre heraus politische Aufmerksamkeit erfuhr.
Gewalt bis hin zur Tötung von Menschen aus dem Motiv Ehre erscheint zunächst widersprüchlich, wenn nicht gar grotesk. Die öffentlichen Debatten beschränken sich einerseits zu häufig auf den Beurteilungsraum zwischen einer generellen Zuschreibung des Phänomens als Attribut der Einwanderungskultur und andererseits dem Negieren der Bedeutung des Phänomens in einer pluralistischen Gesellschaft. Einstweilen zeigt sich die Gewalt in vielen Facetten.
Das soziale Konstrukt der Ehre als Antrieb für Gewalt
In der öffentlichen Wahrnehmung wird Ehrgewalt meist auf Ehrenmorde und muslimisch geprägte Milieus reduziert. Das ist bereits grundlegend falsch. Ehrgewalt beginnt deutlich früher und umfasst eine Vielzahl von Handlungen, die die grundgesetzlich verbürgten Rechte der Menschen verletzen. Zudem ist sie nicht in islamischen Religionsauslegungen verwurzelt. Ehrgewalt betrifft Menschen in nahezu allen Teilen der Welt und hat durchaus auch im europäischen Raum Tradition. In islamisch geprägten Regionen, wie den arabischen, persisch-afghanischen, türkischen und kurdischen Kulturkreisen, sind Gewalttaten im Namen der Ehre jedoch verbreiteter.
Der Begriff Ehre gehört zum menschlichen Selbstverständnis, ist dabei gleichzeitig stark kulturell geprägt und wird unterschiedlich interpretiert. In der vorliegenden Betrachtung geht es um Vorstellungen von Familienehre und Geschlecht, die einem tradierten Verständnis entstammen.
Im kulturellen Kontext des Nahen und Mittleren Osten spielt die allgemeine Ehre (sharaf) eine ganz entscheidende Rolle.
Abhängig davon, wie stark sich eine Familie an diese Vorstellungen gebunden fühlt, variieren die individuellen Bewegräume und Lebensentwürfe der Mitglieder. Im Kontext von Migration können die Normen und Werte der Herkunftsgesellschaften die sozialen Gefüge, wie großfamiliäre Communities und Familienclans, in den Ankunftsländern prägen. Durch sie bleiben die Mitglieder enger mit ihrer Herkunftsgesellschaft verbunden. Dann können Ehrvorstellungen zur wichtigsten Leitlinie werden, die über den persönlichen Wünschen und sogar dem eigenen Leben steht. In dieser Argumentation muss eine empfundene Ehrverletzung vergolten werden, denn ansonsten stürzt es die gesamte Familie in die Ehrlosigkeit.
Formen von Ehrgewalt
Ehrgewalt tritt in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen auf. Sogenannte Ehrenmorde sind dabei nur die Spitze eines Eisberges, von dem die Gewalt viel alltäglicher ist.
Ehrenmord: Ein Familienmitglied wird getötet, weil es vermeintlich die Ehre der Familie verletzt hat. Die Tat wird von Familienmitgliedern geplant, umgesetzt und mindestens in Teilen der Familie mitgetragen. Ein Ehrenmord ist zum Teil eine gemeinschaftliche Handlung. Die meisten Definitionen beziehen sich auf drei zentrale Elemente:
ein Ehrenmord wird meist an Frauen oder Mädchen durch ihre männlichen Verwandten oder (Ex-) Partner begangen;
er hat die Wiederherstellung der kollektiven Familienehre zum Ziel und
er wird von den Tätern und darüber hinaus auch von einem relevanten sozialen Umfeld als eine notwendige Reaktion auf eine Verletzung von Verhaltensnormen durch das Opfer gerechtfertigt, die einer strengen und speziell für Frauen geltenden Sexualmoral entspringen.
Wenn man diese äußerste Form der Gewalt im Namen der Ehre verstehen will, muss man zudem begreifen, dass eine empfundene Ehrverletzung nicht verjährt. Brüskiert beispielsweise eine junge Frau ihren Vater und damit ihre ganze Familie, indem sie eine Heirat mit dem Mann ausschlägt, dem sie versprochen wurde und mit deren Familie bereits vertraglich alles geregelt war, dann kann sie nicht darauf hoffen, dass sich nach einer angemessenen Zeit „die Wogen wieder glätten“. Denn die durch sie verursachte „Schande“ bleibt.
Formen der Blutrache: Als Blutrache wird Gewalt gegen eine Person aus einer anderen Familie bezeichnet, weil diese die Ehre der anderen Familie verletzt habe. Blutrache kann sich über unterschiedlichste Gewaltformen erstrecken und von einer einfachen Körperverletzung bis hin zum Tötungsdelikt steigern. Zudem erfolgt sie wechselseitig. Während Ehrenmorde keine Hass- und auch keine Rachetaten sind, gilt bei der Blutrache das Prinzip „ein Leben für ein anderes“. Allerdings fordert der Kodex in vielen archaischen Kulturen, den Verursacher härter zu strafen und seine Tat zu vergelten. Es geht also auch um die Wiederherstellung der Ehre durch eine mindestens gleichwertige, wenn nicht gar höhere Bestrafung, die die begangene Tat sühnt. Blutrache hat zudem einen finanziellen Aspekt: Für die Tötung eines Menschen oder auch für verschiedene Verletzungen kann statt der Wiedervergeltung auch ein bestimmtes Blutgeld festgesetzt werden.
Zwangsheirat und Kinderehen: Unfreiwillige Eheschließungen oder Verheiratungen der eigenen Kinder sind in Deutschland Externer Link: nach § 237 StGB unter Strafe gestellt. Eine Zwangsheirat liegt vor, wenn mindestens ein Partner gegen seinen Willen zur Eheschließung gezwungen wird. Zwangsehen sind Ehegemeinschaften, die mindestens ein Partner verlassen möchte, dies jedoch nicht darf. Arrangierte Eheschließungen bezeichnen solche, die zwar von den Eltern verhandelt, von den Kindern jedoch Zustimmung oder zumindest eine Duldung erhalten. Der Übergang kann dabei fließend sein. In der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) werden nur wenige Fälle von Zwangsheirat erfasst (2022: 67). Die Organisation Terre des Femmes geht indes von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus. Eine nicht repräsentative Onlineumfrage der Organisation von 2022 ergab 1.468 Verdachtsfälle und 379 gesicherte Fälle von geplanten, versuchten und vollendeten Zwangsverheiratungen in Deutschland.
Ehrmotivierte häusliche und intrafamiliäre Gewalt: Um Ehrverlust vorzubeugen und Gehorsam wirksam einzufordern, wird in streng patriarchalen Familien, für die das beschriebene Ehrkonzept über dem eigenen Leben steht, oft Gewalt in der Partnerschaft oder Familie angewandt. Ausschlaggebend sind empfundene Illoyalität oder verweigerter Gehorsam der Ehefrau oder der Kinder, die die Familie später versorgen und erhalten sollen. Es geht vor allem darum, innerhalb des Familienverbands aufeinander angewiesen zu sein.
Drohen mit Ausschluss/Verstoßen/Zurückschicken in das Herkunftsland: Ehrgewalt umfasst auch psychische Gewaltformen. Eine Sanktion kann es etwa sein, aus der eignen Familie verstoßen zu werden. Damit einhergeht ein Kontaktverbot der gesamten Community. Die Betroffenen werden zur persona non grata erklärt, ihr soziales Gefüge besteht nicht mehr. Dies geht regelmäßig mit Wohnungs- und Besitzlosigkeit einher. Der Ausschluss bedeutet, keinerlei Unterstützung der Familie. Zwar handelt es sich hierbei nicht um strafbewährte Handlungen, die Auswirkungen sind für die Betroffenen jedoch immens. Doch auch der Zwang, Familienmitglieder gegen ihren Willen zu Verwandten in das Herkunftsland zu schicken und ihnen die Ausweisdokumente oder die Aufenthaltsgenehmigung wegzunehmen, um eine Rückkehr zu verhindern, ist ein Sanktionsmittel. Dieses Phänomen kann zudem mit Zwangsverheiratungen zusammenhängen.
Einschnitte in jegliche Persönlichkeitsrechte: Kontrollierendes Verhalten kann sich etwa darin äußern, dass eine sehr patriarchal geprägte Familie die Berufswahl bestimmt, oder sich über das Post- und Briefgeheimnis hinwegsetzt. So wird beispielsweise die Post geöffnet, oder Emails und das Handy der Betroffenen regelmäßig überprüft. Die Überwachung richtet sich vor allem gegen junge Mädchen. Insbesondere dann, wenn sie in das von den Eltern vorgesehene Alter kommen, in dem ein Mann für sie ausgewählt werden kann. Der Ruf des Mädchens ist immens wichtig für das Zustandekommen des Ehekontrakts. Damit sie nun keinen vermeintlichen Fehler begeht der kompromittierend wirken könnten, wie ein Treffen mit Jungs, werden auch die Brüder beauftragt, ihre Schwester zu beaufsichtigen und sie beispielsweise auf dem Schulweg oder zu Vorlesungen in die Uni zu begleiten. In extremeren Fällen kann eine regelrechte Nachstellung aus Sicht der Familie ein Präventivmittel darstellen, um für die Familienehre Sorge zu tragen.
Weibliche Genitalverstümmelung/-beschneidung
Typ 1: Die Klitoris wird ganz oder teilweise entfernt (Clitoridektomie).
Typ 2: Die Klitoris sowie die kleinen (eventuell auch die großen) Schamlippen werden ganz oder teilweise entfernt (Exzision).
Typ 3: Die äußeren Schamlippen werden ganz oder teilweise entfernt und die Wundränder miteinander vernäht, um die Vagina bis auf eine winzige Öffnung des Harnausgangs zu verschließen (Influbation). Dies wird auch als pharaonische Beschneidung bezeichnet. Wenn ein Mann beim Geschlechtsverkehr nicht eindringen kann, benutzt er oft ein Messer oder eine Rasierklinge (Defibulation). Wenn die Frau ein Kind geboren hat und die Vagina danach wieder verschlossen wird, nennt man dies Reinfibulation.
Typ 4: Sonstige Schädigungen; die Genitalien werden auf andere Weise verletzt oder verstümmelt (z.B. durchstochen, abgeschabt, verbrannt oder verätzt).
Die Externer Link: Bundesrepublik Deutschland hat einen Schutzbrief erstellt, der von Mädchen und Frauen, die gefährdet sind, bei sich tragen können, um einer Verstümmelung zu entgehen.
Besondere Betroffenheit von Frauen
Von Ehrgewalt sind besonders Mädchen und Frauen betroffen sowie homo- oder transsexuelle Menschen. Dies liegt an der Fokussierung des Ehrverständnisses auf Geschlechterrollen und Sexualität. Die Rolle der Frau ist ebenso klar definiert, wie die der Männer: Frauen sind die Hüterinnen der Familie.
Der Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung zeigt sich in der verordneten Jungfräulichkeit eines Mädchens bis zu ihrer Heirat, was für viele eine absolute Bürde darstellt. Die Journalistin Ninve Ermagan bezeichnet dieses Statut als „Jungfrauenwahn“, der Frauen auch in Europa massiv einschränke und ihnen weh tue. Gefährdet ein Mädchen durch eine Beziehung oder ein aus Sicht der Familie zu offenes Verhalten gegenüber Jungs ihre Jungfräulichkeit, ist dies oft ein Grund für Züchtigungen, meist durch die männlichen Familienmitglieder. Kommt es zum vorehelichen Geschlechtsverkehr, versuchen dies mittlerweile viele Frauen der Familie untereinander zu regeln, in dem sich das betroffene Mädchen unter Vollnarkose einer operativen Hymenrekonstruktion unterziehen muss. Mittlerweile existiert ein richtiger Markt hierfür.
Suizidalität und emotionaler Druck
Die Zwänge und der damit verbundene emotionale Druck zeigen sich nicht zuletzt in einer Verzweiflung, die bis zum Suizid gehen kann. In einer Studie der Charité Berlin untersuchen Meryam Schouler-Ocak und ihr Team das Phänomen der Suizidalität bei Frauen mit türkischem Migrationshintergrund genauer. Demnach leiden junge Frauen im Alter von 18 - 25 Jahren vor allem unter familiären und kulturellen Problemen, z. B. durch Verbote und anstehende/vollzogene Zwangsverheiratungen. Die Folgen seien tiefgreifende Identitätsprobleme, die die eigene Situation ausweglos erscheinen lassen. Ehre spielt insofern eine bedeutende Rolle, wenn sie der Grund für Verbote oder Werte ist, mit denen sich die Betroffene nicht arrangieren kann oder sie diese nicht (mehr) erfüllen kann.
Unterschied Ehrenmord und Femizid
Die Abgrenzung eines Ehrenmordes zu Beziehungstaten und Femiziden verschwimmt in der öffentlichen Debatte zunehmend. Auch in Beziehungstaten fühlt sich der Mann möglicherweise in seiner Ehre oder in seiner Männlichkeit verletzt, insofern ist die Motivation aus Sicht der Täter kaum voneinander zu unterscheiden – sofern der Täter nicht die Familienehre als Begründung angibt. Ein weiterer Unterschied zwischen einem Ehrenmord und einer Beziehungstat liegt im Unrechtsbewusstsein des Täters. Ein Ehrenmörder sieht sich verpflichtet, eine Frau – und dies kann die Ehefrau, die Ex-Partnerin, die Schwester und sogar die eigene Mutter sein – zu töten, wenn sie die Ehre verletzt hat. Und tatsächlich sind Frauen bei Ehrenmorden nicht nur die Opfer. Es sind auch Frauen, die innerhalb einer Familie die Tat befürworten, Mittäterinnen oder gar Auftraggeberinnen sind. Dies muss im Kontext einer Subsumtion von Ehrenmorden unter Femiziden beachtet werden, ebenso wie der Umstand, dass eben auch Männer zu Opfern von Ehrgewalt (insbesondere der Blutrache) werden.
Bestandsaufnahme
Die Bandbreite von Gewalthandlungen in den tradiert-patriarchalischen Familien ist groß und zuweilen sehr brutal. Das Ziel bleibt die Erhaltung der Familienehre. Ein besonderer Umstand zeigt sich im Verhalten gegenüber Außenstehenden: Denn kaum jemand aus den Strukturen spricht über die Vorfälle, sie werden untereinander geklärt. Polizei und Justiz sollen sich aus dieser Perspektive „nicht einmischen“.
Die Messung von Straftaten aus dem Motiv der Ehre heraus ist in Deutschland kaum möglich: In der PKS werden sie nicht unter diesem Aspekt erfasst. Auch fehlt es an einer flächendeckenden Untersuchung mit der Erhebung des Motivs, damit die Straftaten quantifiziert werden können.
Implikationen für Prävention und Opferschutz
Ist eine Frau von Ehrgewalt bedroht, benötigt diese Person zwingend alle nur erdenklichen Schutzmaßnahmen. Solche Fälle sind sehr schwierig: Denn die Personen, die sie am besten kennen, trachten ihr nun nach dem Leben. Versöhnungsversuche können gefährlich werden. Zudem gefährdet meist nicht nur eine Person das Leben der Betroffenen, sondern ein ganzes Personenkollektiv aus dem familiären Umfeld. Unabhängig von kulturellen und familiären Hintergründen, ist dieses Gewaltphänomen oft mit widersprüchlichem Opferverhalten verbunden. Dies hat mehrere Gründe:
Die Gewalt findet im eigenen Nahraum statt, also in der persönlichen Rückzugs- und Schutzzone.
Der Täter ist oder war ein geliebter Mensch (Partner, Ex-Partner oder ein Familienmitglied).
Die Opfer sind alltäglich physischer und/oder psychischer Gewalt, Bedrohungen, sozialer Isolation und Kontrolle ausgesetzt.
Das Selbstwertgefühl der Betroffenen wird regelmäßig zerstört.
Die Opfer befinden sich in einem emotionalen Abhängigkeitsverhältnis, teilweise auch in einem finanziellen.
Wenn eigene Kinder oder auch kleine Geschwister betroffen sind, kann sich das Opfer für den Schutz verantwortlich sehen.
Die Betroffenen versuchen häufig alles, um die Gewalt nach außen zu verbergen, weil sie sich schämen und auch nicht möchten, dass schlecht über ihre Familie geurteilt wird.
Die Opfer können Schuld empfinden. Ihnen wurde zum Teil ihr Leben lang eingeredet, die Familie zu verraten, wenn sie sich ein selbstbestimmtes Leben wünschen.
Für die Betroffenen kann es schwierig sein zu verinnerlichen, dass ihnen Unrecht angetan wird und sie Opfer von Straftaten sind, insbesondere wenn diese von der eignen Familie ausgeübt werden. Je tradierter und patriarchaler die Familienstrukturen gelebt werden und der Sozialisationsverlauf erfolgt ist, desto geringer wiegt das individuelle Recht eines Mädchens oder einer Frau. Denn meist wurden sie ihr komplettes Leben darauf vorbereitet, dem Mann zu dienen und eheliche Pflichten zu erfüllen. Zum Teil besitzen die Betroffenen kein Vertrauen in deutsche Behörden und erst recht nicht in die Polizei. Wenn sie zudem die deutsche Sprache nicht beherrschen, ist es umso schwerer Hilfe zu finden. Bei Frauen, die z.B. durch eine tolerantere Herkunftsfamilie, Schule, Arbeit, etc. liberaler sozialisiert sind, steigen die Chancen für das Aufsuchen staatlicher Instanzen, um die Gewalt anzuzeigen. Sie haben alternative Lebensentwürfe kennengelernt und finden eher den Zugang zu Hilfsangeboten. Insofern sind sämtliche Konzepte zur Integration und Bildungsteilhabe wichtige Bausteine für den Aufbau von Selbstwert und Empowerment.
Es existieren bereits Projekte, in denen das Konstrukt Ehre kritisch im Migrationskontext aufgearbeitet wird, wie bei der Externer Link: Initiative HEROES des Strohhalm e.V. Dies wurde 2007 initiiert und existiert mittlerweile in mehreren Städten. Ziel des Programmes ist es, durch Workshops gewaltlegitimierendes Ehrempfinden aufzuarbeiten und die Gleichstellung von jungen Frauen und Männern zu fördern. Zur Vermittlung der Inhalte verfolgen die Trainer das Prinzip der „Peer Education“, wonach ein Erfahrungsaustausch unter Gleichaltrigen stattfindet. Die Voraussetzung zur Teilnahme ist die Bereitschaft, tradierte Vorstellung hinsichtlich Ehre und Familienzwängen zu hinterfragen. Die Programme sind für junge Menschen zwischen 16 und 20 Jahren konzipiert. Dazu gibt es begleitende Schularbeit, pädagogisch angeleitete Rollenspiele und beispielsweise Theaterprojekte, die für Schüler ab der 8. Klasse entwickelt wurden.
In Berlin geht Terre des Femmes gemeinsam mit der Polizei seit 2022 vor den Sommerferien in die Schulen, um über das Phänomen Zwangsheirat niedrigschwellig aufzuklären. So soll auch der Zugang für betroffene Kinder und Jugendlicher zu Hilfsangeboten erleichtert werden. Die Termine im Rahmen dieser Externer Link: „Weißen Wochen“ werden auf der Homepage bekannt gegeben.
Damit solche Schutzmaßnahmen greifen können, bedarf es in ganz besonderem Maße der Aufmerksamkeit in Kindergärten, Schulen und Hochschulen sowie in sämtlichen staatlichen Institutionen und Ämtern. Hilfsangebote zu vermitteln funktioniert manchmal nur über kreative Zugänge. Die Erfahrungen zeigen, dass Hilfschancen steigen, je besser der Austausch zwischen Behörden, Beratungsstellen und Opferhilfeeinrichtungen gelebt wird.
In den vergangenen Jahren hat sich sehr viel getan, um Frauen und Kinder vor häuslicher Gewalt zu schützen. Die Polizeigesetze der Länder wurden angepasst, um dem Grundsatz „Wer schlägt der geht“ zur rechtlichen Durchsetzung zu verhelfen. Allerdings kann gerade dieses Prinzip im Kontext ehrbezogener häuslicher Gewalt eher schädlich sein: Wenn der Mann durch die Polizei aufgefordert wird seine Wohnung zu verlassen, könnten er und seine Familie dies als „Gesichtsverlust“ werten. Die Frau ist dann besonders gefährdet. Diese Erfahrung hat dazu geführt, dass die Polizeigesetze zum Teil angepasst wurden und Frauen bei einer entsprechenden Risikoprognose an einen geschützten Ort gebracht werden können.
Das Phänomen Paralleljustiz in der Diskussion
Als Parallelgesellschaften werden im öffentlichen Diskurs Bevölkerungsgruppen verstanden, die sich räumlich, kulturell und sozial von der sogenannten Mehrheitsgesellschaft abschotten. Der Begriff ist nicht einheitlich definiert, was nicht nur die wissenschaftliche, sondern vor allem die politische Diskussion und die Auseinandersetzung mit zugrundeliegenden Problemen und Integrationshemmnissen erheblich erschwert. Im Kontext des ehrbasierten Gewaltverhaltens muss auch die Rolle der Autoritäten berücksichtigt werden. Diese werden medial gerne als "Friedensrichter“ oder „Schlichter“ bezeichnet. Sie sind innerhalb der Community legitimiert, Konflikte zu verhandeln. Solche Vermittlungen finden somit nicht nur im privatrechtlichen Rahmen statt, wo sie zumindest in Teilen rechtlich unproblematisch wären, sondern auch im strafrechtlichen Bereich. Denn die Legitimation solcher Autoritäten hängt maßgeblich von der Maxime ab, Konflikte – egal, wie gewalttätig und strafrechtlich relevant sie sind – untereinander und „ohne Einmischung“ staatlicher Instanzen zu lösen. Somit kann eine akzeptierte Autorität durchaus den Tod einer Person anraten, wenn sie den Schaden der Ehrverletzung als andernfalls irreversibel bewertet. Ein Beispiel hierfür stellt der Mord an Hatun Sürücü am 7. Februar 2005 dar, der zuvor vom konsultierten „Schlichter“ befürwortet worden sein soll, was einem Todesurteil gleichkommt.
Fazit
Ehrgewalt ist eine weltweite Erscheinung, sie ist vielschichtig und facettenreich. Auch in Deutschland nimmt sie ganz unterschiedliche Formen an. Besonders maßgeblich für Gewalttaten im Namen der Ehre sind patriarchale, tradierte Lebensauffassungen, die die religiösen entsprechend ergänzen und somit noch heute Männer und Frauen auf ihre mit starren Geschlechterrollen verbundenen Rechte und Pflichten reduzieren. Veränderte Lebensrealitäten durch technische, aber auch gesellschaftliche Entwicklungen werden dabei nicht nur unberücksichtigt gelassen, sondern auf der persönlichen Einflussebene bekämpft. Den Mitgliedern wird die Freiheit auf ihre individuelle Lebensgestaltung, dem Verwirklichen ganz eigener Träume verwehrt und damit grundgesetzlich verbürgte Rechte, wie das auf freie Partner- und Berufswahl, immer wieder verletzt. Dies zu sehen und sich dem entschlossen entgegenzustellen, ist eine Aufgabe von Politik, Justiz aber auch der ganzen Gesellschaft. Die Düsseldorfer Rechtsanwältin Gülşen Çelebi sieht die Verantwortung vor allem im öffentlichen Umgang, weil jeder, der dieses Problem als eine „Ausnahme“ bezeichne, „die man nicht aufbauschen dürfe, macht sich mitschuldig an der Banalisierung des Leids.“