Beide Definitionen verdeutlichen, dass eine Unterscheidung zwischen analoger und digitaler Gewalt dem Phänomen nicht gerecht wird. Denn es handelt sich um Gewalthandlungen, die durch den Einsatz von IKT an Wirkungsmacht gewinnen und aus Sicht der Täter effektiver werden. Zudem wird diese Trennung der Realität nicht gerecht, da die meisten Betroffenen von Gewalt im sozialen Nahraum sowohl analoge als auch digitale Gewalt erleben (vgl. z.B. Parsons et al. 2019: 1). Eine weitere Studie konnte aufzeigen, dass junge Frauen die Opfer digitaler Gewalt waren, bereits im Vorfeld Gewalt von denselben Tätern erlebten; hierzu gehörten analoge Gewaltakte und beispielsweise die Drohung intimes Material zu veröffentlichen (vgl. Mas’udah et. al. 2024).
Digitale Gewalt findet nicht nur in digitalen Räumen statt, auch wenn sie dort beginnt. Sie kann in analoge Gewalt(-androhungen) münden oder hat reale Folgen, etwa wenn Personen mit digitalen Mitteln aufgespürt werden. Aufgrund der unterschiedlichen Ausprägungen kann das Phänomen auch nicht ausschließlich als psychische Gewalt bezeichnet werden. So würden die weitreichenden Gefahren verkannt werden.
Die Ausprägungen digitaler Gewalt sind vielfältig. Hierbei ist zwischen Hate Speech, Cybermobbing und Cybergrooming sowie digitaler Gewalt im sozialen Nahraum zu unterscheiden. Der Deutsche Juristinnenbund sieht auch diskriminierende Algorithmen als eine Form von digitaler Gewalt an, da sie bestehende soziale Ungleichheiten nicht nur widerspiegeln, sondern auch exponentiell verstärken (vgl. Deutscher Juristinnenbund o.J. & o.S.).
Der Fokus dieses Beitrags liegt auf digitaler Gewalt im sozialen Nahraum. Wie alle Formen von Gewalt im sozialen Nahraum, weist diese eine deutliche geschlechtsspezifische Komponente zu Lasten von Frauen auf. Sie wird von (Ex-)Partnern oder Personen ausgeübt, deren Beziehungswunsch nicht erwidert wurde.
Formen digitaler Gewalt
Digitale Gewalt hat viele Erscheinungsformen, die auch im Kontext von Hatespeech, Cybermobbing und Cybergrooming auftreten. Zu den bekanntesten Formen digitaler Gewalt im sozialen Nahraum zählt Cyberstalking. Stalking hat der Gesetzgeber definiert, als das unbefugte Nachstellen einer Person, die geeignet ist, deren Lebensgestaltung erheblich zu beeinträchtigen (vgl. Externer Link: § 238 StGB). Wenn das Nachstellen mit IKT-Mitteln einhergeht, wird von Cyberstalking gesprochen. Hierbei werden u.a. Personen verfolgt, bedroht, beobachtet, überwacht terrorisiert und/oder verunglimpft.
Eine digitale Überwachung kann durch die (versteckte) Installation von Spionage-Apps stattfinden, die einen Einblick in die digitale Welt der überwachten Person geben. Auch Familien-Apps, die das Familienleben koordinieren sollen, aber auch Ortungsdienste beinhalten und Eltern das vermeintliche Gefühl der Sicherheit geben, können Kamera und Mikrofon der Gruppenmitglieder aktivieren, Chats, Mails, Telefonate etc. mithören und lesen; darüber hinaus teilen sie permanent den Standort mit. Das Verstecken von Airtags im Gepäck, in der Kleidung oder im Spielzeug der (Ex-)Partnerin oder gemeinsamen Kinder ermöglicht eine permanente Ortung der Person. Die Einrichtung eines Smart Homes – also die Möglichkeit Geräte im Haus über das Netz fernzusteuern - kann neben möglichen Erleichterungen auch dazu führen, dass die darin befindliche Person rund um die Uhr überwacht wird. Auch können psychische Gewalthandlungen durch den Einsatz von Smart-Home-Komponenten verstärkt werden; dies ist etwa der Fall, wenn Geräte (z.B. Heizung oder Türschloss) heimlich von außen gesteuert werden, die Manipulation aber geleugnet wird.
Stalker bedienen sich aber auch anderen Formen digitaler Gewalt, wie Doxing. Damit wird das Veröffentlichen von Kontaktdaten oder das Erstellen von Fake-Profilen beschrieben, unter anderem in Verbindung mit Gewaltaufrufen. Häufig wird Doxing mit Deepfaking kombiniert, welches die unerlaubte Fotomontage von Gesichtern, z.B. in pornografischem Material, durch Face Swap Apps (digitale Fotomontage, bei der Gesichter vertauscht werden) oder das digitale Entkleiden von Personen durch Nudification Apps beschreibt. Generative KI kann nicht nur Standbilder, sondern auch Figuren erzeugen, die interagieren und mit vermeintlich realer Stimme sprechen (voicecloning). Dies kann einerseits genutzt werden um Frauen zu diskreditieren, andererseits aber auch, um Täter als eine andere – vertraute – Personen erscheinen zu lassen (vgl. UNESCO 2023: 20). Auch wenn Doxing und Deepfaking überproportional sexuell konnotiert sind, ist dies nicht immer der Fall.
Von bildbasierter sexualisierter Gewalt wird hingegen ausgegangen, wenn z.B. einvernehmlich hergestelltes intimes Material ohne Zustimmung verbreitet wird, auch bekannt als „Rachepornos“. Die Herstellung und Verbreitung von heimlich hergestelltem intimem Material oder Aufnahmen sexualisierter Gewalt zählen ebenfalls dazu.
Als Cyberharassment wird digitale sexuelle Belästigung bezeichnet. Hiermit ist der unerwünschte Erhalt von pornografischem Material, sexuellen Avancen oder Nachrichten mit explizit sexuellem Inhalt (Sexting) gemeint. Dazu gehören auch sexuell konnotierte Emojis, wie Auberginen, Pflaumen oder Pfirsiche. Frauen berichten zudem, dass sie im Rahmen von professionellen Kontakten belästigende Nachrichten in Videokonferenzen, Chatgruppen oder ihren privaten Social Media Accounts erhalten oder aber mit Kosenamen angesprochen werden (vgl. siehe z.B. Kannegiser/Hunter 2024). Über einzelne Kontaktaufnahmen hinaus sind auch sexuell konnotierte „Witze“ oder allgemeine Beleidigungen in Chatgruppen als sexuelle Belästigung zu werten. Cyberharrasment wird oft als weniger schwerwiegend wahrgenommen, als andere Formen sexualisierter Gewalt. Sie wird jedoch deutlich häufiger als andere Formen erlebt (ebd. 9).
Ob Romance Scam (Beziehungsbetrug im Internet) eine Form digitaler ökonomischer Gewalt ist oder nicht, ist zu diskutieren.
Sind Suizide als Folge (digitaler) Gewalt auch Femizide?
Es ist zu überlegen, ob Suizide als Folge geschlechtsspezifischer (digitaler) Gewalt nicht auch als Femizide zu werten sind – zumindest dann, wenn sie als „Ausweg“ aus der Gewalt stattfanden. Dies würde neben einer entsprechenden statistischen Erfassung auch eine Strafverfolgung der mutmaßlichen Täter_innen beinhalten.
Angestoßen wurde die Diskussion u.a. durch die Eltern von Emily Drouet, einer 18-jährigen Studentin aus Schottland, die sich 2016 offenbar auch aufgrund physischer und digitaler Gewalt durch ihren (Ex-)partner Angus Milligan suizidierte. Dieser wurde im Nachhinein wegen einiger Delikte verurteilt, nicht aber wegen einer Mitschuld am Tod von Emily Drouet, die ihre Eltern vermuten. Sie begründen dies damit, dass ihre Tochter kurz vor ihrem Tod einer Freundin erzählt habe, dass Milligan sie gerade besucht und bedroht habe. Sie haben Screenshots und Chatverläufe, die auf eine gewalttätige Beziehung schließen und es gibt die Aussage einer Freundin, dass Milligan gedroht habe, pornografisches Material zu veröffentlichen. Das individuelle Verfahren ist noch nicht abgeschlossen, aber die Familie von Emily Drouet hat eine entsprechende Gesetzesinitiative gestartet.
In Deutschland wäre eine Mitschuld an einem Suizid strafbar, sofern die Gewalthandlungen nachgewiesen und einzelnen Täter_innen zuzuordnen sind.
Interventionen nach digitaler Gewalt
Es gibt Einigkeit darüber, dass die sozialen, physischen, psychischen und ökonomischen Symptome und Folgen digitaler und analoger Gewalt sich ähneln (vgl. z.B. Mas’udah et al 2024). Daher kann sich bei der Planung von Interventionen an der langjährigen Expertise von entsprechenden Fachberatungsstellen orientiert werden. Dennoch gibt es Unterschiede, die es zu beachten gilt: Betroffene ordnen die Taten häufig nicht als Gewalt ein, so dass die Unterstützung zunächst hier ansetzen muss. Auch die Tatsache, dass digitale Gewalt rund um die Uhr, unabhängig vom Standort des Täters und auch nach räumlicher Trennung ausgeübt werden kann, stellt eine besondere Belastung dar. Berater_innen müssen über ein Mindestmaß vom technischen Know-how verfügen, damit sie digitale Gewalt erkennen, dokumentieren, Attacken stoppen und auch bei einer digitalen Trennung – also z.B. das Auflösen gemeinsamer Accounts – unterstützen können. Eine gute Praxis stellt die Externer Link: Wiener Kompetenzstelle gegen Cybergewalt an Frauen dar, wo Berater_innen rund um die Uhr IT-Expert_innen konsultieren können.
Auch rechtliche Vertretungen müssen neben Gewaltdynamiken verstehen, wie digitale Gewalt funktioniert und in der Lage sein, rechtliche Errungenschaften im Bereich analoger Gewalt auf digitale Vorkommnisse zu übertragen.
Eine spezielle Auswirkung digitaler Gewalt kann der (vorübergehende) Rückzug aus dem Internet sein, der auch die Möglichkeit der Kontaktaufnahme zu Unterstützer_innen erschwert und insgesamt die Teilhabe an digitaler Kommunikation einschränkt. Dieser Rückzug ist für Frauen besonders folgenschwer, wenn sie Familie im Ausland haben (z.B. Migrantinnen) und/oder Frauen, die digitale Geräte als Hilfs- und Kommunikationsmittel benötigen (z.B. Frauen mit Behinderung). Je nach Berufsfeld kann diese Internetabstinenz auch wirtschaftliche Folgen haben. Weitere ökonomische Folgen digitaler Gewalt können entstehen, wenn die im Internet hinterlassenen Behauptungen die Arbeitssuche der Betroffenen erschweren oder gar zur Kündigung führen.
Im Gegensatz zu analoger Gewalt, produziert digitale Gewalt aber in der Regel Zeug_innen und Beweise. Vieles spricht dafür, dass ein Großteil zumindest junger Menschen mehrfach Zeug_innen digitaler Gewalt werden (vgl. Hate Aid 2021: 1). Diese können ein wichtiges Korrektiv darstellen, indem sie sich beispielsweise solidarisch verhalten, Täter_innen mit ihrem Handeln konfrontieren und Gegennarrative aufbauen.
Neben professionellen Beratungsangeboten gibt es zunehmend sehr eindrucksvolle Interventionen von Betroffenen, die ihre Handlungsmacht aufzeigen, für das Thema sensibilisieren und rechtliche Fortschritte erzielen. Beispielhaft zu nennen ist die Plattform „Anna Nackt“ (Externer Link: https://annanackt.com/) oder die strategische Klage von Laura Hughes und Jane Doe gegen den Apple-Konzern bezüglich der Verfolgung durch Airtags.
Ausblick
Im Bereich der geschlechtsspezifischen Gewalt hat sich das öffentliche Bewusstsein, die Rechtslage sowie die Infrastruktur zur Unterstützung der Betroffenen in den letzten Jahren deutlich verbessert. Eine konsequente Anwendung des bereits Erreichten ist für die Anerkennung digitaler Gewalt von großer Bedeutung. All dies kann durch individuelle (strategische) Strafverfolgung und Fortbildungen für Justiz und Polizei erreicht werden. Die Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften und spezialisierten Abteilungen bei der Kriminalpolizei könnte zumindest vorübergehend Abhilfe schaffen (Hateaid o.J. & o.S.). Rechtliche Lücken bestehen z.B. in einer adäquaten Erfassung von der Herstellung und Verbreitung von Deepfakes (vgl. Hate Aid o.J.). Der Deutsche Juristinnenbund plädiert zudem für die rechtliche Erfassung von „unzumutbar aufgedrängte[r] Sexualität“ (vgl. 2021: 10). Einigkeit gibt es darüber, dass die Informationsbeschaffung über die Identität von Tätern dringend erleichtert werden muss, damit Datenschutz nicht zum Täterschutz wird. Derzeit sind einige gesetzliche Veränderung im Gange, wie z.B. das Externer Link: Gesetz über digitale Dienste, die o.g. EU-Richtlinie, die bis Juni 2027 umgesetzt werden muss und das gerade beschlossene Gewalthilfegesetz. Auch liegt ein Diskussionsentwurf des Bundesministeriums der Justiz für ein Externer Link: Gesetz zur Stärkung der privaten Rechtsverfolgung im Internet vor. Hier böte sich die Möglichkeit, das Thema digitale Gewalt adäquat zu berücksichtigen.
Neben rechtlichen Regelungen die Betroffene unterstützen, sind auch solche notwendig, die Technik sowie Anbieter_innen von Plattformen einschränken bzw. in die Pflicht nehmen. Beispielsweise im Zusammenhang mit zeitnahen Löschpflichten oder Auskunftsansprüchen bezüglich der Daten von Tätern. Hierfür wird die Bereitstellung eines elektronischen Verfahrens zum Stellen von Strafanzeigen gefordert, in dem Beweismittel wie Screenshots rechtssicher hochgeladen werden können (vgl. Deutscher Juristinnenbund o.J. & Hate Aid o.J.). Kontrovers diskutiert wird die Klarnamenpflicht im Netz, die bei digitaler Gewalt hilfreich wäre, aber die anonyme Anwesenheit im Netz deutlich erschweren würde. Zu den technischen Restriktionen könnte beispielsweise die Einschränkung von Apps gehören, die unbemerkt ein Smartphone überwachen. Auch lautloses Fotografieren/Filmen mit dem Smartphone, wird in dem Zuge diskutiert. Als Vorbilder gelten Japan und Südkorea, in denen seit zehn Jahren die Funktionen unterbunden werden. Zudem könnte die Frage nach Dual-Use bereits bei der Herstellung von Apps etc. mitdiskutiert werden, also eine Risikoanalyse, die einen möglichen Missbrauch bedenkt und diesem technischen Einhalt gebietet.
Neben diesen Veränderungen wird es in Zukunft unabdingbar sein, dem Thema digitale Gewalt (im sozialen Nahraum) mehr Beachtung zu schenken. Sollte es nicht gelingen, die Nutzung von IKT für Frauen und Transpersonen sicherer zu gestalten, werden sie sich zunehmend aus dem Netz zurückziehen (vgl. Plan International 2020: 6). Das kann gesellschaftlich und politisch nicht gewollt sein.