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Femizide und notwendige Maßnahmen | Femizide und Gewalt gegen Frauen | bpb.de

Femizide und Gewalt gegen Frauen Rechtlicher Rahmen und Strafverfolgung Sexualisierte Gewalt im Krieg Mediale Darstellung Formen und Verbreitung Notwendige Maßnahmen Täterarbeit Redaktion

Femizide und notwendige Maßnahmen

Prof.in Dr. Monika Schröttle Dr. Maria Arnis

/ 15 Minuten zu lesen

Alle drei Tage wird in Deutschland eine Frau wegen ihres Geschlechts vom (Ex-)Partner getötet. Welche Maßnahmen können Femizide verhindern? Wie können Frauen in Risikosituationen besser vor Gewalt geschützt werden?

In Deutschland gibt es zu wenig Frauenhäuser und Beratungsstellen. Meist sind die Anlaufstellen für Frauen die von Gewalt betroffenen sind ausgelastet. (© picture-alliance/dpa, Philipp Schulze)

Seit über 40 Jahren setzen sich im Kontext der neuen Frauenbewegung engagierte Frauen in Deutschland sowie in vielen anderen Ländern aus Projekten, Initiativen, Wissenschaft und Politik für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen ein. Dies führte zwar zu relevanten Änderungen in Gesetzgebung, Praxis und Politik, aber bisher nicht zur Beendigung oder einem sichtbaren Rückgang von Interner Link: Gewalt gegen Frauen. Das Thema Femizid, welches die vorsätzliche Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts meint, markiert lediglich die Spitze des Eisbergs. Der patriarchalische Hintergrund von Femiziden wurde in den letzten Jahren in Deutschland und Europa, angestoßen durch NGOs und engagierte Wissenschaftler*innen, zunehmend öffentlich diskutiert und skandalisiert. Femizide werden überwiegend durch männliche Partner oder Ex-Partner verübt und sie stehen im Kontext geschlechtsspezifischer Macht-, Kontroll- und Hierarchieverhältnisse.

Motive und gesellschaftliche Hintergründe

Eine Externer Link: Untersuchung der britischen Forscherin Jane Monckton-Smith (2020), die 372 Fälle analysierte, in denen Frauen durch ihre Partner getötet worden waren, verweist auf die Dynamik von Macht und Kontrolle in den Geschlechterbeziehungen. Ihrer Analyse nach sind Femizide in einen Prozess eingebettet, der durch den Wunsch nach Kontrolle motiviert ist und weniger eine (affektive) Reaktion auf ein Ereignis ist. Sie beschreibt Femizide als Teil einer Dynamik, bei der die Motivation des Täters, die Frauen zu misshandeln, um sie zu kontrollieren, verbunden ist mit dem Willen sie zu töten, wenn sie sich aus der Kontrolle zu lösen versuchen. Es handle sich oft um Männer, die bereits in vorangegangenen Beziehungen Kontrolle und Gewalt ausgeübt hatten. In der Regel wirken sie relativ schnell auf eine enge und kontrollierende Beziehungsstruktur hin, die später von Einschüchterung und Misshandlung begleitet wird. Der (gefühlte) Kontrollverlust, wenn die Partnerin sich der Kontrolle des Täters widersetzt, führt schließlich zur Entscheidung die Partnerin zu töten.

Insgesamt zeigen diese und andere Fallanalysen auf, dass Femizide in einem breiteren Kontext von Geschlechterungleichheit und Machtstrukturen gesehen werden müssen. Sie verweisen auf die Notwendigkeit, geschlechtsspezifische Gewalt als ein gesellschaftliches Problem anzuerkennen und effektive Maßnahmen zu ergreifen, um Frauen in Risikosituationen besser vor Gewalt zu schützen.

Auch eine frühere kriminologische Externer Link: Untersuchung von Luise Greuel (2009) konnte aufzeigen, dass es sich bei Femiziden durch Partner oder Ex-Partner vergleichsweise häufig um geplante Tötungsdelikte und nicht um situative Eskalationen Interner Link: häuslicher Gewalt gehandelt hatte. In vielen Fällen war der Polizei keine vorherige Gewalt durch den Partner bekannt. Mit Blick auf sozialstatistische Merkmale konnten keine spezifischen Täterprofile gefunden werden. Entscheidender Faktor der Taten war nicht die Eskalation einer zuvor ausgeübten Gewalt, sondern die Eskalation eines inneren Konflikts des Täters, wenn die Frau sich der Kontrolle des Partners entzieht oder sich trennt. Greuel (2009) beschrieb einerseits Tätertypen, die sie als depressiv/suizidal mit extremer Abhängigkeit des Selbstwerts von der Partnerin einstufte, andererseits narzisstische Täter mit Racheabsichten. Die Täter zeigten im Vorfeld aufgrund einer extremen Krise eine kognitive Verengung und eine extreme Fixierung auf den Beziehungskonflikt. Einige zogen sich auffällig zurück, während andere durch Stalking, Ankündigung der Taten oder Drohungen auffällig wurden (ebd.).

Zu ähnlichen und weiteren Ergebnissen kam die Externer Link: empirische Studie des europäischen Fem-UnitED-Projekts (Laufzeit: 2020-2022), das Tötungsdelikte an Frauen durch aktuelle oder frühere Partner in fünf Ländern in der Zeit von 2019 bis 2020 quantitativ und anhand von Fallanalysen qualitativ auswertete (Schröttle et al., 2021b). Von den in Deutschland registrierten 360 Tötungsdelikten an Frauen wurden 225, also 63%, von aktuellen oder früheren Partnern begangen (ebd., S. 35). In 12% dieser Fälle wurden weitere Opfer getötet (87 Opfer, davon 10 Kinder, 31 Familienmitglieder, 8 Freund*innen und 38 sonstige Personen). Bei 27% der Taten waren andere Personen während der Tat anwesend. Opfer und Täter kamen aus allen Altersgruppen und sozialen Lagen. Bei jedem dritten bis vierten Täter fanden sich Hinweise auf psychische Beeinträchtigungen (insbesondere Depressionen und Suizidalität); bei jedem fünften Tötungsdelikt tötete sich der Täter nach der Tat selbst. In einer Minderheit der Fälle waren vorherige Drohungen und Gewalt der Polizei oder dem Unterstützungssystem bekannt, soweit hierzu Informationen vorlagen. Wenn es zu einem Interner Link: Gerichtsprozess und einer Verurteilung kam, wurden 56% der Taten als Totschlag klassifiziert, und 44% als Mord, deutlich seltener als bei Tötungsdelikten in anderen Täter-Opfer-Beziehungen (Schröttle et al., 2021a).

Das Ausmaß von Tötungsdelikten an Frauen durch (Ex-)Partner wird auch im Rahmen der Externer Link: Polizeilichen Kriminalstatistik seit 2015 erfasst (Bundeskriminalamt, 2015-2021). Im Zeitverlauf lassen sich eher jährliche Schwankungen feststellen als langfristige Zu- oder Abnahmen der Taten.

Bei den Tötungsdelikten durch Partner, registriert das Bundeskriminalamt für 2019 insgesamt 117 Fälle von häuslicher Gewalt gegen Frauen, die zum Tod des Opfers führten. Darunter fanden sich 111 Fälle von Mord und Totschlag gegen Frauen und sechs Fälle von Körperverletzung mit Todesfolge. Die Zahlen für 2019 und 2020 unterscheiden sich teilweise von den Zahlen der Fälle der Datenerhebung des FEM-UnitED-Projekts für diese Jahre, was zum Teil darauf zurückzuführen sein dürfte, dass die Zeitpunkte für die Erfassung der Fälle leicht voneinander abweichen: die PKS dokumentiert die Fälle nach Abschluss der polizeilichen Ermittlungen, während das FEM-UnitED-Projekt, soweit möglich, den Fall zum tatsächlichen oder geschätzten Zeitpunkt des Delikts registriert. Dies könnte zu Abweichungen bei der Anzahl der jährlichen Fälle führen (Schröttle et al., 2021a).

Probleme und Lücken

Aus Diskussionen mit Praktiker*innen aus dem Hilfesystem und dem Gesundheitswesen, der Polizei und Justiz, den Medien und der Politik sowie den Ergebnissen der FEM-UnitED-Forschung wurden nachfolgende Problembereiche und Lücken bei der Verhinderung von Femiziden herausgearbeitet (Schröttle et al., 2021; Schröttle & Arnis, 2022).

1. Unzureichende Intervention – mangelhafter Schutz für gefährdete Frauen

Der Zugang zu Unterstützungs- und Schutzmaßnahmen für gefährdete Frauen (und deren Kinder), die von häuslicher Gewalt durch (Ex-)Partner betroffen sind, ist in Deutschland unzureichend. Frauenhäuser, Interventions- und Beratungsstellen sind weder ausreichend vorhanden (vor allem in ländlichen Gebieten), noch personell oder materiell adäquat ausgestattet und oft unterfinanziert. Schutzmaßnahmen auf Basis von Risikobewertungen und -analysen zur Gewalteskalation in Paarbeziehungen sind zwar hoch relevant für die Prävention und werden auch von der Polizei häufig eingesetzt. Allerdings werden sie nicht von allen relevanten Stellen landesweit einheitlich und systematisch angewendet; zudem sind die vorhandenen Risikobewertungsinstrumente in vielen Fällen nicht geeignet, konkrete Bedrohungen und Warnzeichen für Femizide zu erfassen, insbesondere wenn keine vorherige Gewalt sichtbar wurde.

Auch die für die Prävention von Femiziden so wichtige Täterarbeit wird weder flächendeckend umgesetzt, noch erreicht sie in ausreichendem Maße potenzielle Femizid-Täter. Täterarbeitsprogramme richten sich meist an Straftäter, die vom Jugendamt, der Polizei oder der Staatsanwaltschaft vermittelt werden. Es gibt jedoch nur wenige Selbstmelder. Männer, die vorher keine Gewalt ausgeübt haben oder dies nicht zugeben, was für einen relevanten Teil der Femizid-Täter zutreffen dürfte, werden von bisherigen Täterprogrammen nicht erreicht.

Problematisch für die Prävention ist auch, dass bei Verstößen gegen polizeiliche Wegweisungs- und Schutzmaßnahmen zumeist keine oder nur unzureichende Sanktionen verhängt werden. Das Risiko für Frauen (und deren Kinder), Opfer eines Tötungsdelikts zu werden, ist in und nach der Trennungsphase, sowie im Zusammenhang mit Umgangs- und Sorgerechtsverfahren, besonders hoch; in der gängigen Praxis der Familiengerichte wird der Schutz von Frauen (und ihren Kindern) vor Gewalt häufig unzureichend beachtet und die Durchsetzung des Umgangs- und Sorgerechtes für gewalttätige Väter priorisiert.

2. Fehlende umfassende und wirksame Primärprävention

Männer, insbesondere männliche Jugendliche, werden als Zielgruppe von Präventionsmaßnahmen im Bereich der Gewalt gegen Frauen kaum erreicht. Trotz der gesetzlichen Gleichstellung erleben Frauen in Deutschland alltäglich Diskriminierungen aufgrund ihres Geschlechts, die auch in Gewalt münden. Dazu gehören Kontrolle und Dominanz seitens männlicher Partner sowie deren patriarchalische Einstellungen. Darüber hinaus trägt die Interner Link: Medienberichterstattung dazu bei, dass Gewalttaten gegen Frauen immer wieder als Privatsache und tragische Einzelfälle dargestellt werden, ohne den strukturellen Kontext zu vermitteln (Meltzer, 2021). Oft wird die Perspektive des Täters eingenommen, zu viel Aufmerksamkeit auf sein Leben und zu wenig auf die Perspektive und Rechte der betroffenen Frau gerichtet. Nicht selten reproduzieren die Medien Einstellungen, die Frauen für die Gewalt implizit verantwortlich machen.

Auch die psychische Belastung bzw. Traumatisierung infolge der Tötung einer Frau, insbesondere für Familienangehörige und Freunde, wird von vielen Medien kaum berücksichtigt. Zudem werden versteckte Formen von Gewalt gegen Frauen (z.B. psychische Gewalt, wirtschaftliche Kontrolle, Einschüchterung und Bedrohung, Stalking und sexuelle Belästigung) medial noch zu selten thematisiert.

3. Mangelnde interdisziplinäre Fortbildungen und unzureichende Zusammenarbeit

Es zeigt sich, dass Risikofaktoren und Warnzeichen im Vorfeld eines Femizids von vielen Akteur*innen, die als erste mit gewaltbetroffenen Frauen in Kontakt treten, etwa in der gesundheitlichen Versorgung, nicht erkannt werden, weil das notwendige Wissen und die Sensibilisierung für die Problematik fehlen. Teilweise sind auch Angehörige staatlicher und nicht-staatlicher Institutionen, etwa im Bereich der Justiz, zu wenig geschult, so dass der adäquate Umgang mit Hochrisikofällen nicht gewährleistet ist und sie nicht angemessen reagieren, um Betroffene zu schützen. Auch eine unzureichende Zusammenarbeit zwischen Institutionen schränkt die wirkungsvolle Prävention von Femiziden wesentlich ein.

4. Problematische Rechtslage und -praxis

Bislang gibt es im deutschen Recht keine juristische Definition der geschlechtsspezifischen Tötung einer Frau; der Begriff Femizid wird im Gesetz bislang weder benannt noch definiert. Somit findet der geschlechtsspezifische Hintergrund von Interner Link: Femiziden in Gesetzgebung und Rechtsprechung kaum oder wenig Anerkennung, was dazu führt, dass diese Tötungsdelikte seltener als andere Taten als Mord verurteilt werden, mit der Folge niedrigerer Haftstrafen (Habermann, 2023). Auch der rechtliche Rahmen zur wirksamen Verhinderung von Femiziden ist bislang nicht ausreichend umgesetzt. Nach Ergebnissen der Staatenprüfung zur Externer Link: Umsetzung der Istanbul Konvention in Deutschland, fehlt eine konsequente Umsetzung wirksamer Schutzmaßnahmen. Sanktionen hätten nur einen geringen Abschreckungseffekt und Verstöße gegen die Schutzmaßnahmen würden nicht angemessen geahndet (GREVIO, 2022). Darüber hinaus werden personenbezogene Daten von Frauen (einschließlich ihres Aufenthaltsortes) in Hochrisikofällen nicht ausreichend anonymisiert. Wenn Fälle von gefährdeten Frauen (und deren Kinder) von mehreren Stellen bearbeitet und deren Aufenthaltsorte Tätern (über deren Anwält*innen) zugänglich sind, besteht ein erhebliches Risiko für diese, Opfer von Gewalt und Tötungsdelikten zu werden.

5. Unzureichende Datenbasis

Fallbezogene Daten zu Femiziden als wichtige Grundlage für die verbesserte Intervention und Prävention sind in Deutschland und Europa unzureichend vorhanden, obwohl Initiativen wie das Externer Link: European Observatory on Femicide (EOF) und andere Projekte auf nationaler Ebene hierzu erste Ansätze gestartet haben. Finanzielle Mittel für eine nationale Beobachtungsstelle für Femizide (wie etwa in Portugal, Malta oder Argentinien) stehen in Deutschland bislang nicht zur Verfügung, so dass eine umfassende Datenbasis für die Unterstützung der Praxis und der Entwicklung geeigneter Maßnahmen noch fehlt. Zudem gibt es zu wenig fundierte Forschung zum kontextuellen Hintergrund von Femiziden und zu Präventionsansätzen und ihrer Wirksamkeit.

6. Unzureichender Schutz für spezifisch gefährdete Zielgruppen

Betroffene Frauen sind über ihre Rechte und Unterstützungs- bzw. Handlungsmöglichkeiten oftmals nicht ausreichend informiert. Das trifft insbesondere für Frauen zu, für die es schwieriger ist, sich aus Gewaltsituationen durch Partner zu lösen, etwa für einen Teil der Migrantinnen und geflüchteten Frauen, der Frauen mit Behinderungen sowie der pflegebedürftigen Frauen. Um diese besser zu unterstützen, fehlen oftmals finanzielle und personelle Kapazitäten in Interventions- und Beratungsstellen sowie Frauenhäusern. Hier sind weitere zielgruppenspezifische Maßnahmen zum Schutz besonders gefährdeter Frauen erforderlich. Im Kontext von Gefährdungssituationen werden zudem Personen, die im Leben von gewaltbetroffenen Frauen oft eine unterstützende oder präventive Rolle spielen (z.B. Eltern, Geschwister oder Freunde), nicht ausreichend berücksichtigt und unterstützt. Darüber hinaus fehlen Maßnahmen zur spezifischen Unterstützung der Kinder ermordeter Frauen, welche im Rahmen von Ermittlungs- und Strafverfahren hoch belastet sind und kaum Unterstützung und Information erhalten.

Weitere Aktivitäten des FEM-UnitED- Projekts

Das FEM-UnitED-Projekt, das im Rahmen des Rights, Equality and Citizenship-Programms des EU DG Justice and Consumers von Forscherinnen und NGOs aus Zypern, Deutschland, Malta, Portugal und Spanien gemeinsam durchgeführt wurde (2020-2022), hatte nicht nur zum Ziel, Daten zu analysieren, sondern auch, zur Praxis- und Politikentwicklung beizutragen.

Neben der Durchführung von empirischen Analysen und der Erstellung von nationalen und international vergleichenden Berichten wurden digitale Workshops mit relevanten Berufsgruppen abgehalten (etwa Polizei/Justiz, Hilfesystem, Gesundheitssystem, Medien, Politik und Verwaltung), um zu eruieren, welche Probleme bei Intervention und Prävention bestehen und wie diese im Sinne der Verhinderung von Femiziden gelöst werden können.

Die Ergebnisse flossen in Handlungsempfehlungen für politische Entscheidungsträger*innen ein. Darüber hinaus wurden Journalistinnen geschult und eine nationale Externer Link: Öffentlichkeitskampagne mit Videos und Veranstaltungen durchgeführt (Schröttle et al., 2021a; Schröttle et al., 2021b; Schröttle & Arnis, 2022).

Empfehlungen und erforderliche Maßnahmen

Folgenden Handlungsempfehlungen ergaben sich darauf aufbauend. Insgesamt muss die bislang eher vernachlässigte Perspektive aus der Sicht von gewaltbetroffenen Frauen und Mädchen stärker beachtet werden (Schröttle et al., 2021; Schröttle & Arnis, 2022). Sie ist bei allen künftigen Maßnahmen und Strategien der Femizidprävention zu berücksichtigen.

1. Konsequente Intervention und Schutz für gefährdete Frauen

Um Femizide im Vorfeld besser erkennen und verhindern zu können, muss ein geeignetes (Hoch-)Risiko-Bewertungsinstrument entwickelt und in allen relevanten staatlichen und nicht-staatlichen Stellen landesweit implementiert werden. Dieses soll die spezifischen Warnsignale vor einem Femizid angemessen einbeziehen. Darüber hinaus müssen Leitlinien für den Umgang mit identifizierten Hochrisikofällen für und in allen relevanten Praxisfeldern entwickelt und entsprechend umgesetzt werden. Multiprofessionelle Fallkonferenzen für Hochrisikofälle sollten flächendeckend eingeführt werden, da die Kooperation unterschiedlicher Institutionen, zum Beispiel von Polizei, Hilfesystem, Täterarbeit und Jugendamt, bei Gefährdungssituationen erfolgreich schwere Gewalt gegen Frauen und Femizide verhindern können. Auch der Zugang zur sofortigen Hilfe und Unterstützung für alle gefährdeten Frauen und ein ausreichendes Angebot an geeigneten Schutzunterkünften muss gewährleistet werden. Dies erfordert eine adäquate Finanzierung von Frauenhäusern und Interventions- und Beratungsstellen. Um das Risiko für Frauen (und deren Kinder) möglichst gering zu halten, müssen zudem niedrigschwellige Täterarbeitsprogramme eingeführt werden, die auch potenzielle Gewalttäter flächendeckend erreichen.

2. Umfassende Primärprävention und Sensibilisierung

Über umfassende Öffentlichkeitsarbeit in den Bereichen Bildung, Kultur und Medien muss für geschlechtsspezifische Gewalt und Femizide, Warnsignale und gesellschaftliche Hintergründe sensibilisiert werden. Dabei sollten auch gezielt (männliche) Jugendliche über geeignete Sprache, Medieninhalte und soziale Medien angesprochen werden. Systematische Sensibilisierungskampagnen sollten entwickelt und von vielen Akteur*innen gemeinsam getragen werden. Bei der Medienberichterstattung sollte darauf geachtet werden, dass folgende Informationen zur Sensibilisierung und Aufklärung berücksichtigt werden: Hintergrundinformationen zu Femiziden und den Motiven männlicher Dominanz und Kontrolle über Frauen, Warnzeichen und Risikofaktoren, Informationen zu Hilfs- und Unterstützungsangeboten, die im Fall von (drohender) Gewalt (präventiv) genutzt werden können. Medienschulungen und die Entwicklung von ethischen Richtlinien für Medienschaffende könnten darüber hinaus einen wichtigen Beitrag zu einer konstruktiveren Berichterstattung und gesamtgesellschaftlichen Prävention leisten.

3. Verpflichtende Schulungen und systematische Weiterbildung

Fortlaufende und verpflichtende Schulungen sind insbesondere im Gesundheitswesen notwendig, da Beschäftigte in Gesundheitsberufen oft als erste mit gewaltbetroffenen oder -gefährdeten Frauen in Kontakt kommen. Auch im Bereich der Justiz (für alle Beschäftigten in Rechtsberufen, z.B. für Familien- und andere Richter*innen, Staatsanwält*innen, Rechtsanwält*innen und Rechtsberater*innen), sind Fortbildungen dringend erforderlich, um das Bewusstsein für Gewalt gegen Frauen und Femizide sowie den Schutz von Betroffenen zu schärfen. Dabei sind die Rollen und die Handlungsmöglichkeiten staatlicher Stellen und anderer Berufsgruppen bei der Prävention und Intervention zu vermitteln.

4. Veränderung der Gesetzeslage und Rechtspraxis

In Bezug auf die bestehende Gesetzeslage und Rechtspraxis sollte im Rahmen einer juristischen Expertise geprüft werden, wo Gesetzesänderungen erforderlich sind, um die staatlichen Reaktionen auf und die Sanktionierungen von Gewalt gegen Frauen und (versuchten) Femiziden zu verbessern. Darüber hinaus ist eine Änderung der Rechtspraxis in familienrechtlichen Verfahren erforderlich, die das Umgangsrecht und das Sorgerecht betreffen, um dem Schutz gefährdeter Frauen absolute Priorität einzuräumen. Darüber hinaus muss eine angemessene strafrechtliche Sanktionierung von Femiziden die geschlechtsspezifischen Motive und Hintergründe berücksichtigen. Bei wiederholten Verstößen des Täters gegen die Bestimmungen des Gewaltschutzgesetzes müssen wirkungsvolle Sanktionen entwickelt und Reaktionen verschärft werden.

5. Datenerhebung, Monitoring und Forschung

Aufbauend auf der Arbeit von Initiativen wie dem European Observatory on Femicide (EOF) sollte auf nationaler Ebene ein umfassendes fallbezogenes "Monitoring" für Femizide eingerichtet werden, um die Fälle vertiefend zu untersuchen und die Erkenntnisse zu nutzen, um Tötungsdelikte an Frauen im Vorfeld zu verhindern. Darüber hinaus müssen alle Schutzmaßnahmen, Präventionsstrategien, Ermittlungs- und Sanktionspraktiken des Staates systematisch überwacht und auf ihre Wirksamkeit hin untersucht werden, um sie schrittweise zu verbessern (einschließlich der Erfassung und Analyse von Fällen misslungener Intervention). Sinnvoll wäre die Einrichtung und Finanzierung einer nationalen Femizid-Beobachtungsstelle, die systematisch Informationen über (versuchte) Femizide sammelt und Daten der staatlichen und nicht-staatlichen Stellen zusammenführt, dokumentiert und auswertet. Fallstudien und Erkenntnisse über die Erfahrungen überlebender Frauen versuchter Femizide sowie der Betroffenen/Angehörigen müssen berücksichtigt werden, um eine breitere Perspektive auf das Problem zu erhalten.

6. Schutz und Maßnahmen für spezifisch gefährdete Zielgruppen

Niedrigschwellige Präventions- und Unterstützungsangebote für Frauen, die sich in einem riskanten Trennungsprozess befinden, können helfen Femizide zu verhindern. Hierbei sollten spezifische Zielgruppen berücksichtigt und eine intersektionale Perspektive auf Risiken, Prävention und Intervention entwickelt werden. Entsprechende Maßnahmen sollten die zum Teil unterschiedlichen Lebens- und Gefährdungssituationen von Migrantinnen, geflüchteten Frauen, Frauen mit Behinderungen, Frauen in schwierigen sozialen Lagen, älteren Frauen, Frauen in Pflegesituationen, Frauen mit psychischen Erkrankungen und Suchtproblemen sowie Prostituierten einbeziehen. Diese sind oft mit größeren Hürden konfrontiert, schnelle und wirksame Hilfe und Unterstützung in Risikosituationen zu erlangen oder sich aus einer Gewaltsituation zu lösen. Darüber hinaus sind zur Bewältigung von Bedrohungen, Ängsten und psychischen Folgen von Gewalterfahrungen nachhaltige (auch therapeutische) Unterstützungsangebote für betroffene Frauen erforderlich, um sie beim Verlassen, Überleben und Überwinden von Gewaltsituationen zu stärken und zu unterstützen.

Fazit

Geschlechtsspezifische Gewalt ist keine Privatsache, sondern ein ernstzunehmendes gesellschaftliches Problem, das alle betrifft. Insgesamt muss über das Thema Gewalt gegen Frauen und Mädchen sowie Femizide eine verstärkte Sensibilisierung der Öffentlichkeit erfolgen, sowie der politischen Entscheidungsträger*innen und der Fachpraxis in unterschiedlichen Feldern. Gerade auch die sozialen Umfelder der Betroffenen müssen Warnsignale erkennen und Betroffene angemessen unterstützen können. Trotz der Umsetzung von Präventions- und Interventionsmaßnahmen gibt es auf nationaler Ebene immer noch große Herausforderungen und Verbesserungspotenziale. Insbesondere beim Zugang zu Hilfe und Unterstützung für gefährdete Frauen sowie einer verstärkten institutionenübergreifenden Zusammenarbeit. Diese kann einen wesentlichen Beitrag zur Verhinderung von Femiziden leisten. Über die fallbezogene Forschung hinaus sollten weitere systematische Studien zur staatlichen Intervention und Prävention durchgeführt werden. Schließlich ist auch die Politik gefordert, grundlegende Maßnahmen zu entwickeln und umzusetzen, die geschlechtsspezifische Gewalt und Femizide in Deutschland wirkungsvoll verhindern und nachhaltig beenden können.

Quellen / Literatur

Literaturverzeichnis

Bundeskriminalamt (BKA) (2015-2021): Partnerschaftsgewalt, Kriminalstatistische Auswertung online verfügbar unter Externer Link: https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/Lagebilder/Partnerschaftsgewalt/partnerschaftsgewalt_node.html

GREVIO (Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence – die Expertinnen- und Expertengruppe zum Thema Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt), (2022). (Grundlagen-) Evaluierungsbericht von GREVIO über gesetzgeberische und andere Maßnahmen zur Umsetzung des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) DEUTSCHLAND – Zusammenfassung, online verfügbar unter Externer Link: https://rm.coe.int/executive-summary-grevio-germany-in-german/1680a8693a

Greuel, L. (2009): Forschungsprojekt “Gewalteskalation in Paarbeziehungen“. Institut für Polizei und Sicherheitsforschung (IPoS), online verfügbar https://polizei.nrw/sites/default/files/2016- 11/Gewaltesk_Forschungsproj_lang.pdf2

Habermann J. (2023). Partnerinnentötungen und deren gerichtliche Sanktionierung. Eine vergleichende Urteilsanalyse zu Partnerinnentötungen als Form des Femizids. Springer VS, Wiesbaden. Externer Link: doi.org/10.1007/978-3-658-40741-4

Meltzer, C. (2021). Tragische Einzelfälle. Wie Medien über Gewalt gegen Frauen berichten. Otto Brenner Stiftung, online verfügbar unter https://www.otto-brennerstiftung.de/fileadmin/user_data/stiftung/02_Wissenschaftsportal/03_Publikationen/AP47_Tr agische_Einzelfaelle.pdf

Monckton Smith, J. (2020). Intimate partner femicide: Using Foucauldian analysis to track an eight stage progression to homicide. Violence against women, 26(11), 1267-1285. Externer Link: doi.org/10.1177/1077801219863876

Schröttle, M., Arnis, M. (2022). Kurzdossier zur Prävention von Femiziden: DEUTSCHLAND. Institut für empirische Soziologie (IfeS), an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen – Nürnberg, online verfügbar unter Externer Link: https://www.ifes.fau.de/files/2022/12/FEM-UnitED_Kurzdossier-Deutschland_DE_IfeS.pdf

Schröttle, M., Arnis, M., Paust, I., Pölzer, L. (2021a). Country report on femicide research and data: Germany. Institute for empirical Sociology (IfeS), at the Friedrich-Alexander University Erlangen – Nürnberg, online verfügbar unter Externer Link: https://www.ifes.fau.de/files/2022/12/FEM-UnitED_country-report_Version-in-Deutsch_DE_IfeS_final.pdf

Schröttle, M., Arnis, M., Naudi, M., Dimitrijevic, L., Farrugia, M., Galea, E., Shakou, A., Kouta, C., Rousou, E., Kofou, E., Pavlou, S., Iglesias, C., Magalhães Dias, C., Pontedeira, C., Magalhães, M.J., Coimbra, S., Paust, I., Pölzer, L., Marcuello Servós, C., Boira Sarto, S., Almaguer, P., Eito, A., Olaciregui Rodríguez, P. (2021b). Comparative report on femicide research and data in five countries (Cyprus, Germany, Malta, Portugal, Spain). FEM-UnitED Project, online verfügbar unter Externer Link: https://www.ifes.fau.de/files/2022/03/fem_united_comparative_report_femizide_final.pdf

Fussnoten

Fußnoten

  1. Interventionsstellen sind spezialisierte Stellen zur Beratung und Unterstützung von Gewaltbetroffenen, insbesondere im Zusammenhang mit Polizeieinsätzen und Gerichtsverfahren nach dem Gewaltschutzgesetz. Sie bieten psychosoziale Unterstützung für Frauen und Kinder an und entwickeln Sicherheitspläne zum Schutz der Opfer von häuslicher Gewalt. Die Mitarbeiter*innen suchen aktiv den Kontakt zu den Betroffenen und sind regional unterschiedlich organisiert. (Einige Interventionsstellen bieten auch gezielte Hilfe für Jungen und junge Männer an) (Externer Link: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ). Beratungsstellen bieten in der Regel langfristige Unterstützung an, um den Betroffenen bei der Bewältigung ihrer Gewalterfahrungen zu helfen, indem sie ihnen Informationen, Ratschläge und Unterstützung bieten, um ihre Situation zu verbessern und sie in der Wahrnehmung ihrer Rechte zu stärken. Das Angebot der Beratungsstellen ist kostenlos und kann auf Wunsch auch anonym in Anspruch genommen werden. Das Personal ist zur Verschwiegenheit verpflichtet (Externer Link: Frauenhauskoordinierung e.V. ).

  2. Risikobewertungsinstrumente sind zum Beispiel das Ontario Domestic Assault Risk Assessment (ODARA) oder das Danger Assessment von Campbell (DA) (s.a. Forum Opferhilfe 04/2021). Die Risikobewertung und -analyse in Fällen häuslicher Gewalt ist ein Verfahren um das Risiko zu ermitteln, dem das Opfer ausgesetzt ist, und der möglichen Gefahren und Bedrohungen, die im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt bestehen. In den meisten Fällen wird diese von der Polizei (oder anderen Fachleuten aus dem Hilfesystem) anhand von Instrumenten (wie ODARA, DA oder Dyrias u.ä) durchgeführt, um das Risiko für das Opfer jedoch auch für andere betroffene Personen wie Kinder oder andere Familienmitglieder zu bewerten und den Gefährdungs- und Bedrohungsgrad einzuschätzen, damit geeignete und wirksame Interventionen geplant werden können. Dabei werden unter anderem auch folgende Aspekte berücksichtigt: die Vorgeschichte des Täters, die Schwere der Gewalttat, der Besitz von Waffen sowie weitere gefährdungsrelevante Situationen (z.B. Scheidung oder neuer Lebenspartner) und die Bedürfnisse des Opfers. Zu den individuell auf das Opfer abgestimmten Maßnahmen gehören z.B. die Bereitstellung von Schutz- und Rückzugsmaßnahmen (als stärkste Maßnahme im Rahmen eines Hochrisikofalles gilt die Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm), Unterstützung bei der Suche nach einer sicheren Unterkunft, Hilfe bei der Beantragung von gerichtlichen Anordnungen und psychologische Betreuung (Externer Link: Weisser Ring e.v. ; Externer Link: bff: Frauen gegen Gewalt e.V.; Ein Handbuch).

  3. Multiple Fallkonferenzen stellen ein weiteres Konzept zur Risikoeinschätzung dar, das behördenübergreifend verschiedene Stellen (auch außerhalb der Polizei wie Jugendämter, Justiz, Opferhilfeeinrichtungen oder Einrichtungen der Täterarbeit) einbezieht. Ziel dieser Konferenzen ist es, Maßnahmen zur Prävention und/oder Strafverfolgung auf der Einzelfallebene zu vereinbaren und zu koordinieren, um weitere Gewalt und Femizide zu verhindern.

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Prof.in Dr. Monika Schröttle lehrt an der Hochschule Ravensburg-Weingarten (RWU) und leitet dort den Studiengang Soziale Arbeit und Teilhabe. Zugleich führt Sie als Leitung des Schwerpunkts Gender, Gewalt und Menschenrechte am Institut für empirische Soziologie (IfeS) an der Friedrich-Alexander-Universität in Nürnberg Forschungsprojekte für verschiedene Bundes- und Landesministerien durch. Sie ist Koordinatorin des European Observatory on Femicide (EOF) und Ko-Koordinatorin des European Network on Gender and Violence (www.engv.org). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Teilhabe, Gender, Gewalt und Menschenrechte mit Blick auf eine zukunftsorientierte Gestaltung von Gesellschaft und Politik.

Dr. Maria Arnis ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für empirische Soziologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (IfeS): Forschungs- und Beobachtungsstelle "Geschlecht, Gewalt und Menschenrechte (FOBES)". Ihre Arbeitsschwerpunkte sind interdisziplinäre Gender- und Gewaltforschung, sexualisierte Gewalt gegen Frauen (mit und ohne Behinderungen), häusliche Gewalt und (Ex-Partner) Stalking sowie Femizide, Kriminalprävention und Menschenrechtsforschung (insbesondere zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt).