Was ist sexualisierte Kriegsgewalt?
In fast allen bewaffneten Konflikten ist sexualisierte Kriegsgewalt allgegenwärtig. Oft wird in diesem Zusammenhang vor allem über Vergewaltigungen gesprochen. Der Begriff umfasst jedoch auch andere sexualisierte Gewalttaten, die in Verbindung mit dem Kriegsgeschehen stattfinden. Dazu zählen beispielsweise unerwünschtes Anfassen von Körperteilen, erzwungenes Auskleiden, Zwangsprostitution und sexuelle Versklavung. Meistens sind Frauen und Mädchen betroffen – aber auch queere Menschen, nicht-binäre und trans*Personen sowie Männer und Jungen können dem ausgesetzt sein. Die Täter sind meistens männlich: Soldaten, Polizisten und Paramilitärs, aber auch Zivilisten oder Mitarbeiter von Hilfsorganisationen.
Sexualisierte Kriegsgewalt stellt einen schweren Eingriff in die körperliche Integrität eines Menschen dar und ist eine Menschenrechtsverletzung. Sie kann als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und als Kriegsverbrechen vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt werden.
Innerhalb des Kriegsgeschehens kommt es verstärkt zu sexualisierter Gewalt, wenn Soldaten oder bewaffnete Milizen ihre Macht und den Zusammenbruch rechtsstaatlicher Kontrollmechanismen ausnutzen. Häufig, das bestätigen Historikerinnen, vergewaltigen Soldaten, weil sie keine Strafverfolgung fürchten müssen. Diese Form der Gewalt kann auch Teil einer Kriegsstrategie sein. Sie wird dann innerhalb des Militärs toleriert, in manchen Fällen explizit angeordnet. Auch vor Ausbruch eines Krieges kann sexualisierte Gewalt Bestandteil von Pogromen oder anderen Formen der Unterdrückung sein. In jedem Falle ist sie immer Teil eines übergeordneten Systems der Diskriminierung und Unterdrückung. Es ist daher wichtig, bei der Analyse von sexualisierter Gewalt die spezifischen Kriegskontexte wie auch die Zeit vor Ausbruch eines Kriegs in den Blick zu nehmen. Denn zu einer umfassenden Analyse gehört auch die Tatsache, dass sexualisierte Gewalt bereits in Friedenszeiten Alltagserfahrung für viele Frauen und Mädchen ist. Über Jahrhunderte wurden diese Verbrechen bagatellisiert und verharmlost. Erst seit den Massenvergewaltigungen in Interner Link: Bosnien-Herzegowina in den 1990er Jahren wurden sie verstärkt in Öffentlichkeit und Politik als solche anerkannt.
Seit der Ausweitung des russischen Angriffs auf die Ukraine im Februar 2022 wird insbesondere der strategische Einsatz sexualisierter Gewalt als "Kriegswaffe" diskutiert. Warum eine Fokussierung auf den kriegsstrategischen Einsatz der Gewalt jedoch auch problematisch ist und was Überlebende jenseits der juristischen Aufarbeitung brauchen, soll im Folgenden erläutert werden.
Einsatz der Frauenrechtsbewegung für die Anerkennung sexualisierter Kriegsgewalt
Sexualisierte Kriegsgewalt ist in unzähligen historischen Quellen aus nahezu allen bewaffneten Konflikten seit der Antike belegt. Neben künstlerischer Darstellung und Literatur existieren Kirchendokumente, Gesetzestexte und Geschichtsschreibung, aber auch Berichte von Soldaten, Überlebenden und Angehörigen, die sexualisierte Gewalt dokumentieren. In der Geschichte wurde sie meistens nicht als Verbrechen thematisiert oder bezeichnet. Einer patriarchalen Logik folgend werden Frauen und Mädchen objektifiziert und zur Kriegsbeute degradiert, die Gewalt beschönigt, als kriegsstrategisches Mittel glorifiziert oder als "Kollateralschaden" bezeichnet. In Homers Ilias werden die Frauen Trojas den griechischen Soldaten beim Fall der Stadt als "Belohnung" versprochen. "Trostfrauen" wiederum wurden die zehntausenden Frauen genannt, die im Zweiten Weltkrieg durch das japanische Militär versklavt, vergewaltigt und zur Prostitution gezwungen wurden. Und auch in der modernen Interner Link: Medienberichterstattung wird sexualisierte Gewalt immer noch oft als "Sex-Verbrechen" normalisiert und verharmlost.
In den wenigen Fällen, in denen Kriegsvergewaltigungen tatsächlich öffentlich als Verbrechen gebrandmarkt wurden, war dies mehr Teil der Kriegs- und Nachkriegspropaganda als ein ernstgemeinter Versuch, Unrecht anzuerkennen und das Leid und die Kraft zu würdigen, mit der Betroffene diese Gewalt überlebt hatten. So wurden im Zweiten Weltkrieg Frauen und Mädchen in allen vom Krieg berührten Regionen vergewaltigt. Verantwortlich waren Soldaten aller beteiligter Armeen, inklusive der Wehrmacht. Thematisiert und instrumentalisiert wurden jedoch beispielsweise in Westdeutschland vor allem die Verbrechen zum Ende des Krieges durch Angehörige der russischen Armee. So verknüpfte man Gewalt mit der Herkunft der Täter, bediente und schuf rassistische Stereotype.
Bereits seit den 1970er Jahren setzten sich Feministinnen, zum Beispiel aus der Bürgerrechtsbewegung in den USA und insbesondere jüdische und afroamerikanische Forscherinnen verstärkt dafür ein, frauenfeindliche Narrative zu brechen und sexualisierte Kriegsgewalt zu einem politischen Thema zu machen. Dennoch dauerte es bis in die 1990er Jahre, bis sich der gesellschaftliche Blick veränderte: Wendepunkt in der Betrachtung von sexualisierter Kriegsgewalt waren die Kriege in Bosnien-Herzegowina und Ruanda und die damit verbundenen Genozide. Sexualisierte Kriegsgewalt und insbesondere ihre systematische Anwendung im Kontext von Vertreibung und Interner Link: Genozid erhielt jetzt erstmals die Aufmerksamkeit einer breiteren internationalen Öffentlichkeit. Das vorherrschende Narrativ von vergewaltigten Frauen als unvermeidlichen "Kollateralschaden" des Krieges konnte vor allem durch die beharrliche Arbeit von Frauenrechtsaktivistinnen und dem Mut bosnischer Frauen, die über die erlebte Gewalt öffentlich sprachen, gebrochen werden. Dies gelang auch mit der Einordnung als "Kriegswaffe" und dem Fokus auf den gezielten, funktionalen Einsatz der Gewalt als Teil der Kriegsstrategie.
Ein wichtiger Ausgangspunkt für politische Veränderung war die Weltfrauenkonferenz 1995 in Beijing. Hier wurde in der Abschlusserklärung der systematische Einsatz von sexualisierter Gewalt benannt und angeprangert. Die Konferenz war bahnbrechend für die fünf Jahre später verabschiedete UN-Sicherheitsratsresolution 1325 und die daraus entstandene Agenda "Frauen, Frieden, Sicherheit". Die Resolution erkennt erstmals die besondere Schutzbedürftigkeit von Frauen und Mädchen in Krisengebieten sowie ihre zentrale Rolle als Akteurinnen für Frieden an. Die UN-Resolution 1325 enthält wichtige Maßnahmen, zum Beispiel die Partizipation von Frauen an Friedensprozessen und den Schutz von Frauen und Mädchen insbesondere vor sexualisierter geschlechtsspezifischer Gewalt sowie Strafverfolgung der Täter.
Sexualisierte Gewalt als Folge systematischer Diskriminierung
Im Zuge der weiteren Debatte etablierte sich – vor allem im politischen Diskurs – vermehrt die Einordnung als "Kriegswaffe". Dieser Begriff soll vor allem die Zerstörungskraft und die verheerenden Folgen, sowie den strategischen Einsatz sexualisierter Gewalt deutlich machen: So wurde zum Beispiel im Jahr 2014 – also ein Jahrzehnt nach den Kriegen in Bosnien-Herzegowina und Ruanda – sexualisierte Gewalt als "Waffe" von einer breiteren internationalen Öffentlichkeit thematisiert, als die systematische Verschleppung und Versklavung von Frauen und Mädchen im Kontext des Genozids an der jesidischen Bevölkerung im Irak durch den sogenannten Interner Link: Islamischen Staat angeprangert und verfolgt wurde. Die gestiegene Öffentlichkeit und eine veränderte Haltung haben auch dazu beigetragen, dass nach der Ausweitung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine im Jahr 2022 sowohl die ukrainische Regierung als auch die internationale Gemeinschaft sich verstärkt um die Dokumentation solcher Verbrechen bemüht und damit die Voraussetzung für künftige Strafverfolgung schafft.
Das sexualisierte Kriegsgewalt als "Waffe" ernst genommen wird und internationale Reaktionen hervorruft, ist ein wichtiger Erfolg der weltweiten Frauenrechtsbewegung. Dabei sollte der Fokus der Betrachtung sich nicht allein um die Frage drehen, ob es eine Anordnung zu sexualisierter Kriegsgewalt gab oder nicht: Der Einsatz von sexualisierter Gewalt erfolgt oft nicht systematisch und wird nicht explizit von militärischen Befehlshabern befohlen. Vielmehr sorgen Vorgesetzte dafür, das schwere Menschenrechtsverbrechen wie Vergewaltigungen innerhalb der Militäreinheiten geduldet und nicht strafverfolgt werden. Damit wird bewusst eine Atmosphäre geschaffen, die Soldaten zu dieser Gewalt ermutigen kann. Wenn Militärs Vergewaltigungen durch ihre Soldaten regelrecht einplanen, statt sie zu verhindern, kann man von einer strategischen Dimension sprechen – auch ohne systematische Anordnung: Wenn der russische Präsident Wladimir Putin 2022 die mutmaßlich verantwortlichen Soldaten für das Massaker im Kiewer Vorort Butscha öffentlich für ihren Einsatz auszeichnet, so ist das ein eindeutiger Code an die Armee, dass die ausgeübten Verbrechen nicht nur geduldet, sondern sogar belohnt werden.
Weiter greift es zu kurz, sexualisierte Kriegsgewalt auf die systematische Anwendung durch eine Kriegspartei zu reduzieren. Frauen aus Kriegs- und Krisengebieten sind auch unabhängig von unmittelbaren Kampfhandlungen permanent der Gefahr von sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Das Ausmaß der Gewalt, das Frauen im nahen Umfeld, zu Hause, in einem Schutzbunker, auf der Flucht und auch im Nachkriegskontext erleben, kann weitaus höher sein als im direkten Zusammenhang mit den Kampfhandlungen. Wenn die öffentliche Sicherheit einbricht, wenn Frauen verstärkt in Abhängigkeiten geraten, steigt das Ausmaß von Übergriffen: Polizei, Militär und andere Behörden sind ins Kriegsgeschehen eingebunden und können Maßnahmen zum Schutz von Frauen vor Gewalt oder auch zur Strafverfolgung nur unzureichend durchsetzen. Gleichzeitig müssen Frauenhäuser und andere Schutzräume in Kriegsgebieten schließen.
Ein verengter Blick auf sexualisierte (Kriegs-)gewalt hat fatale Folgen: Die Bedarfe vieler Betroffener werden nicht erkannt, und es können keine wirksamen Gegenmaßnahmen entwickelt werden. Wenn sexualisierte Gewalt verhindert werden soll, muss sie nicht nur als Waffe, sondern als strukturelles Problem begriffen werden.
Viele Ursachen sexualisierter Gewalt bestehen unabhängig von Krieg oder Frieden. Auf beiden Seiten eines Krieges sind Gesellschaften geprägt von patriarchalen Wertvorstellungen. Ein Angriff mit sexuellen Mitteln kann auch deshalb das gesamte soziale Gefüge einer Gemeinschaft zerstören, weil die patriarchal geprägte Wertvorstellung des Täters sich häufig mit dem des Vaters, Ehemanns oder Bruders auf der anderen Seite gleicht. Alle Beteiligten des Kriegs sind geprägt durch eine ähnliche Vorstellung von "Ehre" und wie sie angegriffen werden kann. Bevor sie zum Militär gehen, wachsen Jungen weltweit in Gesellschaften auf, in denen Frauen systematisch diskriminiert und abgewertet werden. Wenn diese Jungen als Männer in eine Machtposition kommen, weil sie eine Waffe tragen, Schutz und Sicherheit versprechen und gleichzeitig keine Konsequenzen fürchten müssen, steigt die Gefahr sexualisierter Übergriffe.
Es ist bei der Betrachtung von sexualisierter Kriegsgewalt daher wichtig, alle Formen der Gewalt zu benennen und alle Überlebenden zu unterstützen und zu schützen. Die Ursachen für sexualisierte Kriegsgewalt sind dabei nicht nur in der Motivation und möglichen Systematik der Täter zu finden, sondern vor allem in den Gesellschaften, aus denen sie kommen.
Überlebende brauchen ganzheitliche Unterstützung
Sexualisierte Gewalt kann massive und langanhaltende gesundheitliche und soziale Folgen haben, Schmerzen und chronische Krankheiten auslösen. Betroffene entwickeln posttraumatische Belastungsstörungen. Psychische Folgen wie Ängste oder Depressionen sind häufig. Forschungen zeigen, dass etwa die Hälfte der Frauen, die vergewaltigt wurden, langfristig unter posttraumatischen Stress-Symptomen leiden. Oft ist ihr Vertrauen in sich selbst und andere Menschen erschüttert. Frauen ziehen sich aus dem sozialen Leben zurück oder werden in ihren Gemeinschaften stigmatisiert und ausgegrenzt. Oft sprechen Frauen ein Leben lang nicht über das erlebte Unrecht. Manche Frauen sind infolge des Traumas nicht mehr arbeitsfähig. Vielen Frauen fehlen sogar die finanziellen Mittel um Medikamente zu bezahlen, die sie auf Grund von Folgeerkankungen benötigen. Überlebende sexualisierter Gewalt brauchen körperliche und materielle Sicherheit.
Wie stark und dauerhaft die Folgen eines Traumas sind und ob dieses verarbeitet werden kann, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Die Schwere der traumatischen Erfahrung, die jeweilige Persönlichkeit der Betroffenen und ihre eigenen Überlebensstrategien wirken sich auf die Zeit nach der Traumatisierung aus. Vor allem tragen jedoch die Erfahrungen zur Verarbeitung bei, die Betroffene nach der Gewalt in ihrem sozialen und gesellschaftspolitischen Umfeld machen. Frauenrechtsorganisationen in Krisengebieten bieten betroffene Frauen in akuten Fällen zum Beispiel zunächst einmal einen sicheren Rückzugsort (damit sie nicht zurück in ihre Familien müssen, wenn der Täter z.B. aus dem Kreis der Familie kommt), medizinische und psychosoziale Unterstützung. Außerdem werden die Frauen juristisch beraten wenn sie gegen die Täter vorgehen wollen und langfristig dabei unterstützt für sich und ihre Kinder eine neue Lebensperspektive zu schaffen
Ohne angemessene Unterstützung kann das Erlebte nicht verarbeitet werden. Unverarbeitet dauern die Folgen der erlebten Gewalt an und reichen tief in das Leben der Betroffenen. Sie prägen Beziehungen und werden oft als transgenerationale Traumata an die folgenden Generationen weitergegeben. Das gilt für Kinder und Enkel:innen, in deren Familien Vergewaltigung verschwiegen und tabuisiert wurde. Es gilt ebenso für Kinder, die sexualisierte Gewalt mit ansehen mussten. Und es gilt für Kinder, die durch eine Vergewaltigung gezeugt wurden. Es fällt Betroffenen von Vergewaltigungen beispielsweise oft schwer, emotionale Nähe zu den eigenen Kindern und anderen Nahestehenden einzugehen.
Es ist eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, die Verbrechen zu dokumentieren und aufzuarbeiten. Das betrifft Familien und Gemeinschaften, Politik und Justiz, Institutionen, Zivilgesellschaft und die allgemeine Öffentlichkeit. Es gilt, das Leid der Betroffenen anzuerkennen und die Kraft zu würdigen, mit der sie Gewalt und Unrecht überlebt haben. Hierfür braucht es ganzheitliche, traumasensible Unterstützung für Überlebende, die langfristig finanziert wird. Lokale und internationale Frauenrechtsorganisationen müssen politisch einbezogen und finanziell unterstützt werden. Aktivist:innen und Überlebende sollten in Friedensverhandlungen und beim Wiederaufbau eine tragende Rolle einnehmen.