Dass das Bedürfnis nach Liebe und Geborgenheit vor allem mit eigenem biologischen Kind in der Kleinfamilie verwirklicht werden kann, ist eine gängige Vorstellung. Biologisch, also Erbgut teilend, steht hier in Abgrenzung zu einer sozialen und verantwortlichen Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen. Gerade weil mit der Kleinfamilie etwas Essentielles wie das Liebesbedürfnis angesprochen wird, wirkt es plausibel, es als die einzig natürliche Form des Zusammenlebens darzustellen. Und das obwohl dieses Modell eine Erfindung der bürgerlichen Welt der letzten 200 Jahre ist.
Eine etwa 70-jährige Frau erzählte mir, sie sei auf einem von Großfamilie und Mitarbeitern geprägtem Bauernhof aufgewachsen. Sie beschrieb eine glückliche Kindheit, in der sie mehrere stabile Bezugspersonen hatte und nicht nur eine Mama, die mit ihr zu Hause hockte. Die Kleinfamilie kam uns im Gespräch wie ein historischer Unfall vor, weil uns die inhärente Isolation unmenschlich erschien. Doch wie kam es zu diesem historischen Unfall? Er ist erstens eine Folge aus der Effizienzanforderung am Arbeitsplatz, der Industrialisierung und Verstädterung zum Zweiten und einer sexistischen Pädagogik, die zur strikten Teilung zwischen privatem und öffentlichem Raum führte, zum Dritten.
Als sich das Modell des männlichen Ernährers etablierte, wurde die Kinderbetreuung komplett den Frauen zugeschoben, die dafür daheim bleiben sollten. Das war deshalb praktisch, weil durch die Industrialisierung das Geld vermehrt außerhalb des eigenen Hauses verdient wurde und nicht mehr auf einem Gut. Damit das alles kostengünstig funktionierte, erfanden männliche Pädagogen wie Rousseau und Leibniz die Rede vom Mutterinstinkt, der festnageln sollte, dass allein die biologische Mutter sich instinktiv richtig um das Kind kümmern kann und sie darin ihre einzige Erfüllung im Leben findet – ohne Entlohnung und Unterstützung. So konnte man Frauen als Hausfrau und Mutter ans Haus binden, auf dass sie dort allein die Windeln wechselten und den Ehemann mit Liebe und warmem Essen versorgten. Die Kleinfamilie als Kernzelle der kapitalistischen Gesellschaft war geboren.
Mutterschaft bedeutet Isolation
Heute kennen Frauen die Probleme der Mehrfachbelastung und Vereinbarkeit von Beruf und Familie sehr gut, da wir die Kinderbetreuung in den privaten Raum verbannt haben, wo sie auf dem Rücken der Frauen funktionieren soll. Bis heute hält sich das Missverständnis, Gleichberechtigung sei erreicht, wenn Frauen an den Arbeitsbereichen der Männer gleichberechtigt teilhaben können. Vergessen wird, dass Gleichberechtigung nur dann funktionieren kann, wenn auch Männer die Arbeit übernehmen, die Frauen tun: Fürsorge, Pflege, Haushalt und Kinderbetreuung. Erst seit Frauen vermehrt in die Lohnarbeit, die Universitäten und andere Institutionen des öffentlichen Bereichs vordringen, stellt sich die Frage, ob da eine Kita angeschlossen werden sollte. Denn wenn die Frauen in den öffentlichen Bereich vordringen, müssen sie die Kinder mitnehmen. So sollte es selbstverständlich werden, dass ihre Betreuung gleich nebenan stattfinden kann – firmen-, fabriks-, uni- und parlamentsintern.
Einer der Hauptgründe, warum Frauen keine Kinder bekommen wollen, ist: Sie wollen die Isolation durch die Mutterschaft vermeiden, denn diese ist in Deutschland immer noch beklemmend. Der Spruch "Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen", also die selbstverständliche Arbeitsteilung und somit Entlastung der Eltern bei der Kinderbetreuung, ist in Deutschland nicht lebbar. Durch die Isolierung der Kleinfamilie haben wir gelernt, Kinder als Belästigung zu empfinden, statt als normalen Bestandteil unseres Alltags. Wir haben damit auch verlernt, füreinander Verantwortung und Fürsorge zu übernehmen. Stattdessen wird es kritisch beäugt, wenn andere Leute als die biologische Mutter sich ums Kind kümmern und aktuelle Versuche, soziale Elternschaft zu etablieren, werden reflexartig als unnatürlich und schlecht für das Kindeswohl dargestellt.
Soziale Elternschaft gilt als unnatürlich. Warum?
Aber ist die viel beklagte Vereinzelung in unserer Gesellschaft nicht Resultat dessen, dass Menschen nicht mehr in den altbackenen Formationen leben wollen, während neue Konzepte noch zu marginalisiert sind? Kinderlose stellen somit auch eine Art Resetknopf dar. Sie machen die Unzufriedenheit gegenüber den gängigen Familienkonzepten und Geschlechterverhältnissen deutlich und etablieren das Nachdenken über Alternativen, die auch wieder das Zusammenleben mit Kindern ermöglichen, auch wenn es nicht die eigenen biologischen sind.
In Kanada ist im vergangenen Jahr ein Gesetz verabschiedet worden, das es bis zu vier Personen erlaubt, Eltern eines Kindes zu sein, unabhängig von Heirat und Heterosexualität, dafür aber mit denselben Rechten und Pflichten wie biologische Eltern. Die Verantwortung für ein Kind liegt auf mehreren freundschaftlich verbundenen Schultern bestimmt nicht unsicherer als auf den oft brüchigen eines Liebespaares. Die hiesige Scheidungsrate zwischen 30 und 40 Prozent spricht dafür.
Viele Frauen werden sich der Kleinfamilie als goldenem Käfig weiter entziehen. In den vergangenen 50 Jahren fielen durch die Errungenschaften der Frauenbewegung viele ökonomische und soziale Zwänge für Frauen weg, die sie an die Kleinfamilie ketteten, denn sie können nun ohne Ehemann ökonomisch überleben. Also werden nun andere Druckmittel bedient, um an einem Frauenbild festzuhalten, dass sie weiterhin unbezahlte Fürsorgearbeit in der Kleinfamilie leisten sollen. In einem pseudowissenschaftlichen Aufwasch werden altbackene Vorstellungen von Biologie, Psychologie und "Natürlichkeit" bedient, um Frauen weiszumachen, dass ihr Leben sinnentleert ist und sie depressiv werden, wenn sie kein Kind bekommen. Dass sie es bereuen müssen, keine Familie gegründet zu haben. Die veralteten, aber derzeit wieder hervorgeholten Bindungstheorien und der Stillzwang tun dann ihr Übriges, damit Frauen akzeptieren, dass die Kinderbetreuung zu ihrer Hauptlast wird, mit allen Einbußen in ihren hart erkämpften Freiräumen.
Kinderlose Frauen gelten als tragisch – kinderlose Männer nicht
Fürsorglichkeit darf nicht länger als an ein Geschlecht gebunden dargestellt werden, sondern als allgemein menschliche Qualität. Frauen haben nicht mehr fürsorgliche Kompetenzen als Männer. Aber um an der geschlechtlichen Arbeitsteilung festzuhalten, werden Frauen andauernd auf die Dringlichkeit ihrer Familienplanung hingewiesen – die sie deshalb auch eher forcieren – während Männern nicht permanent vorgehalten wird, dass sie impotent werden, die Spermienzahl und -qualität zurückgeht, sie älter werden und zu erschöpft sind für Kinder. Dieser Mythos, dass Männer endlos Zeit mit der Familiengründung hätten, hält sich beständig, bestätigt sich aber nicht: Er hält sich nur in den Ausnahmefällen der Talkshows und Celebritymagazinen.
Die Mehrheit der Männer bekommt wie die Frauen auch keine Kinder mehr, wenn sie kinderlos die 40 überschritten haben. Der Vorteil scheint ein psychologischer zu sein und er wird benutzt, um Männern mehr emotionale Unabhängigkeit zu attestieren, dass sie ihrem Bedürfnis nach Selbstentfaltung in verschiedener Weise nachkommen und Kinderlosigkeit eher verkraften können. Die kinderlose Frau hingegen wird als tragisch und einsam gezeichnet. Ihr Drang nach Unabhängigkeit tut ihr angeblich nicht gut, wenn sie dafür ihren "natürlichen" Kinderwunsch aufgibt. Aus einer selbstbewussten Frau macht man somit ein Opfer der Frauenemanzipation, die ihre "natürlichen" Bedürfnisse nicht mehr sehen kann.
Das Mutterideal soll ablenken, erfüllen kann es ohnehin niemand
Da diese Rhetorik mit Projektionen auf Natur und Liebe emotional aufgeladen ist, fällt es vielen Frauen schwer zu durchschauen, wie manipulativ sie funktioniert. Das trifft sie umso mehr, wenn sie aus überfordernden Bedingungen neoliberaler Arbeitsverhältnisse und Doppelbelastung zurück in die häusliche Sphäre flüchten und als Rechtfertigung beginnen, diese als natürlich zu romantisieren. Eigener Nachwuchs wird emotional und ökonomisch als sinnstiftend für die bürgerliche Existenz dargestellt, er wird Teil der weiblichen Erfolgsbiografie in der Leistungsgesellschaft. Da Frauen immer noch weniger Anerkennung in der Öffentlichkeit – in der politischen Teilhabe wie im Berufsleben – bekommen als Männer, suchen sie diese wie gehabt in der Privatsphäre: in Liebesbeziehung und Mutterschaft.
Im privaten Raum wird der Kampf um Anerkennung auch zwischen den Frauen mit aller Härte ausgetragen. Doch das Mutterideal ist unrealistisch, es kann gar nicht erfüllt werden. So halten wir Müttern genüsslich ebenso vor, wenn sie sich nicht komplett aufopfern, wie wenn sie sich als Helikoptermutter zu sehr engagieren. Wenn alle auf einen einprügeln, weil man als Mutter nichts richtig macht, kann man sich nur aufwerten, in dem man andere Mütter abwertet: "Sieh da, die machen auch nichts richtig!" Dieser "Mütterkrieg" ist das perfekte Ablenkungsmanöver, um nicht analysieren zu müssen, was hinter der Idee des Mutterideals steckt, der alle Frauen unfrei macht. Es ist dringend an der Zeit, dass wir unsere Vorstellungen von "natürlichem Familienleben" hinterfragen, die uns daran hindern, neue Formen des solidarischen Zusammenlebens zu etablieren, nach dem sich viele Menschen sehnen.