In vielen Staaten schwankt die Wahlbeteiligung bei Europawahlen im Verlauf der Jahre nicht stark, sondern liegt meist auf einem ähnlichen Level. Bedeutet das, dass kurzfristige Effekte wie etwa die Wahlkämpfe oder die Personen der Kandidaten unwichtig für die Wahlbeteiligung sind?
Zwischen verschiedenen Ländern bestehen systematische und langfristig stabile Unterschiede in der Wahlbeteiligung, die sich bei Wahlen auf allen Ebenen in ähnlicher Weise zeigen. Ein guter Prädiktor der Wahlbeteiligung bei Europawahlen ist daher stets das Niveau der Wahlbeteiligung bei nationalen Parlamentswahlen.
Die zwischen verschiedenen Ländern bestehenden Niveauunterschiede der Wahlbeteiligung hängen von einem ganzen Bündel von Ursachen ab. Eine große Rolle kommt Unterschieden der politischen Institutionen zu, die unterschiedliche Anreizstrukturen für die Beteiligung setzen. Wenig überraschend ist die Wahlbeteiligung besonders hoch in Ländern, in denen Wahlpflicht besteht (zum Beispiel in Belgien). Zwar sind die Sanktionen gering, wenn man der Wahlpflicht nicht nachkommt, aber vielen Wahlberechtigten ist das nicht bekannt. Die Modalitäten der Wählerregistrierung sind ebenfalls sehr wichtig. Wenn sich die Wähler selbst bemühen müssen, um sich ins Wählerregister eintragen zu lassen, bedeutet das eine erhebliche Hürde, insbesondere für weniger gebildete und sozioökomisch schlechter gestellte Bürger. Selbst der Wochentag, an dem Wahlen stattfinden, spielt eine Rolle: In Ländern, in denen an Werktagen gewählt wird, ist die Wahlbeteiligung geringer als in Ländern, in denen am arbeitsfreien Sonntag gewählt wird.
Darüber hinaus spielen die Wahlsysteme eine Rolle: In Ländern mit Verhältniswahlsystem (wie beispielsweise Deutschland) ist die Wahlbeteiligung höher als in Ländern mit Mehrheitswahlsystem (wie beispielsweise Großbritannien). Der Grund: Weniger Wähler haben das Gefühl, ihre Stimme quasi zu "verschwenden", indem sie sie einer Partei (oder einem Kandidaten) geben, die ohne Chance auf ein Parlamentsmandat ist. In Verhältniswahlsystemen, vor allem wenn sie keine Sperrklausel wie die deutsche
Da Systemmerkmale wie diese sehr stabil sind, erzeugen sie langfristig ziemlich konstante, aber zwischen den Ländern stark variierende Niveaus der Wahlbeteiligung. Diese verändern sich von Wahl zu Wahl vergleichsweise wenig und nie in einem solchen Maße, dass die Niveauunterschiede zwischen den Ländern ausgeglichen würden. Kurzfristige Faktoren wie die Art und Weise, wie Wahlkämpfe geführt werden, etwa der Grad ihrer Polarisierung oder die Persönlichkeiten der Spitzenkandidaten, fallen demgegenüber allenfalls schwach ins Gewicht.
In Staaten, die neu der EU beigetreten sind, ist die Wahlbeteiligung bei ihrer ersten Wahl meist weder besonders hoch noch besonders niedrig. Was bedeutet das?
Die Wahlbeteiligung wird von mehreren Faktoren beeinflusst. Das ländertypische Niveau wird in erster Linie von stabilen Grundmerkmalen des politischen Systems geprägt. Diese Grundkonstellation definiert ein Basisniveau für die Wahlbeteiligung, das auch durch besondere Ereignisse wie die erstmalige Wahlberechtigung für einen bestimmten Typ von Wahlen nicht außer Kraft gesetzt wird. Allenfalls ist eine leichte Erhöhung gegenüber dieses Basisniveaus zu erwarten, und auch das nur, wenn das Ereignis auf breite öffentliche Beachtung und große Zustimmung in der Bevölkerung stößt.
In vielen osteuropäischen Staaten ist die Wahlbeteiligung im europäischen Vergleich besonders niedrig. Was ist der Grund dafür?
Die Antwort ist in unterschiedlichen Basisniveaus der Wahlbeteiligung zu suchen. Die Wahlbeteiligung ist in den Ländern Zentral- und Osteuropas nicht nur bei Europawahlen im Schnitt niedriger als in den etablierten Demokratien des (mittleren und nördlichen) Westens, sondern auch bei nationalen Hauptwahlen. Hatte der Enthusiasmus über die gerade vollzogene Demokratisierung bei den Gründungswahlen 1989/90 noch für eine sehr hohe Wahlbeteiligung gesorgt, so ist diese aus einer Reihe von Gründen überall bei den nachfolgenden Urnengängen stark gesunken. Hierin drückt sich durchaus auch aus, dass die Bürger die neue Freiheit, sich nicht zu beteiligen, genutzt haben. Viele sahen das nach der forcierten Massenmobilisierung des sozialistischen Autoritarismus als Errungenschaft an.
Die andauernden ökonomischen Schwierigkeiten, die um sich greifende Unzufriedenheit mit den Leistungen der jeweiligen nationalen Regierung und die daraus resultierende Enttäuschung der großen Hoffnungen, die sich mit der Demokratisierung verbunden hatten, entfremdeten viele Bürger und hielten sie von der Urne fern. Erschwerend kommt hinzu, dass Bürger osteuropäischer neuer Demokratien stärker als jene im Westen dazu neigen, Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie im eigenen Land in eine Wahlenthaltung bei Europawahlen zu übersetzen. Die schwachen nationalen Parteiensysteme mit kaum in der Gesellschaft verwurzelten Parteien sind nicht ausreichend mobilisierungsfähig, um diesen negativen Entwicklungen entgegenzuwirken.
In Großbritannien liegt die Wahlbeteiligung traditionell deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Ist das Ausdruck einer verbreiteten EU-Skepsis?
In Großbritannien ist es in den vergangenen Jahrzehnten auch bei Unterhauswahlen zu einem starken Rückgang der Wahlbeteiligung gekommen. Die inzwischen vergleichsweise geringe Wahlneigung der Briten zeigt sich auch bei Europawahlen. Vergleichende Studien haben gezeigt, dass neben den allgemeinen Faktoren, welche die Wahlbeteiligung auf allen Ebenen des politischen Systems beeinflussen, auch Sonderfaktoren eine Rolle spielen, die nur mit Europawahlen zu tun haben. Die Unterstützung der Europäischen Union gehört zu diesen Faktoren. Grundsätzlich gilt: Die Wahlbeteiligung bei Europawahlen ist dort eher hoch, wo die Bevölkerung der EU vergleichsweise positiv gegenüber steht, und dort vergleichsweise gering, wo EU-Skepsis vorherrscht. Umfragen haben gezeigt, dass Großbritannien zu letzteren Ländern gehört. Freilich ist die EU-Skepsis unter den Bürgern der britischen Insel nicht so ausgeprägt, wie man angesichts der Rhetorik mancher Parteien erwarten könnte. In den südeuropäischen Ländern ist die EU derzeit noch schlechter angesehen.
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