Die Sitzverteilung im Europäischen Parlament erfolgt nach dem Verfahren von Sainte-Laguë, das in Deutschland meist als Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren bezeichnet wird. Dabei hat insbesondere das Abschneiden der kleinen Parteien einige Fragen über die Eignung des Verfahrens aufgeworfen, da diese wegen des
Der "Preis in Stimmen"
Das Problem besteht darin, dass die so ermittelten exakten Sitzzahlen keine ganzen Zahlen sind. Die CDU hätte beispielsweise demnach einen Anspruch auf exakt 28,82 Sitze, die PARTEI auf genau 0,60 Sitze. Die Lösung des Problems besteht in der Transformation der exakten Sitzzahlen in ganze Zahlen, sodass deren Summe der zu verteilenden Gesamtanzahl der Parlamentsmandate entspricht. Natürlich sollte jede Partei den ganzzahligen Sitzanteil der exakten Sitzzahl erhalten, es geht also um die Transformation der Restbruchzahlen hinter dem Komma. Diese summieren sich zu den Restmandaten auf, da es sich gewissermaßen um die Mandate handelt, die durch die ganzen Sitzzahlen noch nicht verteilt sind.
Abrunden und Aufrunden
Um diese Restmandate zu verteilen, gibt es verschiedene Verfahren. Das Sainte-Laguë-Verfahren greift bei der Transformation auf die naheliegende Lösung der natürlichen Rundung zurück: Restbruchteile hinter dem Komma größer und gleich 0,5 werden aufgerundet, Bruchteile kleiner als 0,5 abgerundet. Ausgehend von den exakt proportionalen Sitzzahlen allerdings würden so nur 94 Sitze verteilt.
Der "Preis in Stimmen", der im Wahlgesetz als Zuteilungsdivisor bezeichnet wird, muss deshalb so lange gesenkt werden, bis die gerundeten Sitzzahlen in der Summe die 96 Sitze ergeben, die Deutschland im Europaparlament besetzt. Ein "Preis in Stimmen", mit dem man auf die 96 gewünschten Sitze kommt, wäre zum Beispiel 298.700.
Durch die Rundungen erhalten die Parteien, die aufgerundet werden, mehr Sitze als ihnen zustehen, die Parteien, die abgerundet werden, hingegen weniger als ihnen zustehen. Grundsätzlich sind Rundungseffekte nicht zu vermeiden, um die Stellen nach dem Komma zu berücksichtigen.
Kleine Parteien genießen relativen, aber keinen absoluten Vorteil
Das Sainte-Laguë-Verfahren ist insofern sehr fair, weil im Mittel jede Partei genau die Sitzzahl erhält, die ihr zusteht. Der Grund dafür: Langfristig gleichen sich die Vor- und die Nachteile des Rundungseffekts aus. Anders ausgedrückt: Die Chance, zu den Gewinnern des Rundungseffekts zu zählen, ist genauso groß wie die Chance, bei den Verlierern zu sein. Man kann an den Ergebnissen der aktuellen Europawahl sehr gut erkennen, dass sich die exakten Sitzzahlen der sieben Parteien, die genau ein Mandat erhalten, relativ symmetrisch verteilen. Eine Partei erhält ziemlich genau das, was ihr zusteht (die NPD), drei Parteien werden abgerundet (Freie Wähler, Piraten und Tierschutzpartei) und drei Parteien werden aufgerundet (Familie, ÖDP und Die PARTEI).
Während sich die absolute Größe der Vorteile und Nachteile für alle Parteien, die großen und die kleinen, die Waage halten, ist der relative Vorteil einer kleinen Partei immer wesentlich größer als der einer großen Partei. Dies lässt sich mit einem Beispiel zeigen: Erhält eine Partei, die rechnerisch nur einen Anspruch auf 0,5 Sitze hätte, einen Sitz, dann zahlt sie sozusagen nur den halben "Preis in Stimmen" für einen Sitz. Anders sieht es für eine Partei aus, die mit einem Anspruch von knapp 1,5 Sitzen ebenfalls einen Sitz erhält: Sie zahlt für einen Sitz im Vergleich zur ersten Partei den dreifachen Preis.
Andere Verfahren denkbar
Man könnte daher der Ansicht sein, dass es gerechter wäre, die Restmandate denjenigen Parteien zu geben, deren relative Bevorteilung dadurch am geringsten ausfiele bzw. denjenigen, die dann für ihre Sitze den höchsten durchschnittlichen "Preis in Stimmen" zahlen würden. Diese Auktions-Logik entspräche dem ebenfalls weit verbreiteten d’Hondt-Verfahren. Beim d’Hondt-Verfahren wird die Sitzzahl kleiner Parteien daher fast niemals oder wenn überhaupt nur sehr gering aufgerundet. Tatsächlich erhielten die Familienpartei, die ÖDP und die PARTEI bei einer Verteilung der Mandate nach d’Hondt im Gegensatz zur Verteilung nach Sainte-Laguë keinen Sitz. Zwei dieser eingesparten Sitze gingen an die CDU, einer an die SPD. Die Sitzzahl der CDU würde also nicht nur auf die nächsthöhere ganze Zahl aufgerundet, sondern zusätzlich um zwei Sitze erhöht. Es besteht wegen dieses Effekts bei Wahlsystemexperten Konsens, dass d’Hondt zu einer unangemessenen Bevorzugung großer Parteien führt.
Eine sanftere Lösung als d’Hondt, um die Hürde für die Kleinstparteien zur Erlangung des ersten Sitzes zu erhöhen, könnte daher die Einführung des modifizierten Sainte-Laguë-Verfahrens sein, wie es zum Beispiel in Norwegen und Schweden angewandt wird. Hierbei wird auf den ersten Sitz erst ab einem Bruchteil von 0,7 aufgerundet. Ansonsten bleibt es bei der natürlichen Rundung. Um auf diese Weise alle 96 Sitze zu verteilen, müsste der "Preis in Stimmen" noch einmal auf 289.500 gesenkt werden. In der Tat erhielten so weder die ÖDP noch die PARTEI einen Sitz, lediglich die Familienpartei würde gerade noch zu einem Sitz aufgerundet. Die zwei eingesparten Sitze gingen an die CDU und die SPD. Die CDU erhielte also 1,2 und die SPD erhielte sogar 1,8 Sitze mehr, als ihnen ihren Stimmen entsprechend eigentlich zustehen würden.
Keine ideale Lösung denkbar
Die Rundungen auf ganze Zahlen stellen bei jedem Verhältniswahlsystem eine Herausforderung dar, für die es grundsätzlich keine ideale Lösung gibt. Die Stimmen müssen in Mandate umgerechnet werden, dabei kann nie die exakte Proportionalität erreicht werden. Ein Vorteil bezüglich eines bestimmten Fairnesskriteriums kann nur in Form eines Nachteils im Sinne eines anderen Kriteriums erkauft werden. Letztlich muss es hier immer eine politische Entscheidung geben.
Man muss die Entscheidung für das Sainte-Laguë-System daher nicht zwangsläufig für die beste halten, aber in jedem Fall lässt sie sich mit guten Gründen verteidigen. Keine Partei hat einen moralisch gerechtfertigten Anspruch auf den halben zusätzlichen Sitz, den sie dabei im Extremfall durch die Rundung gewinnen kann, dies trifft auf größere Parteien genauso zu wie auf kleine. Es spricht daher nichts dagegen, alle Parteien in ihrem Status als politische Wettbewerber gleich zu behandeln, auch wenn die kleinen Parteien dadurch den relativ größten Gewinn erzielen können. Sie bezahlen dafür mit dem Risiko, auch die relativ größten Verluste zu erleiden.
Partei | Stimmen | Sainte-Laguë | D'Hondt | Modif. Sainte-Laguë | |||
---|---|---|---|---|---|---|---|
CDU | 8.807.500 | 28,82 | 29,49 | 29 | 31 | 30,42 | 30 |
SPD | 7.999.955 | 26,18 | 26,78 | 27 | 28 | 27,63 | 28 |
GRÜNE | 3.138.201 | 10,27 | 10,51 | 11 | 11 | 10,84 | 11 |
DIE LINKE | 2.167.641 | 7,09 | 7,26 | 7 | 7 | 7,49 | 7 |
AfD | 2.065.162 | 6,76 | 6,91 | 7 | 7 | 7,13 | 7 |
CSU | 1.567.258 | 5,13 | 5,25 | 5 | 5 | 5,41 | 5 |
FDP | 986.253 | 3,23 | 3,30 | 3 | 3 | 3,41 | 3 |
FREIE WÄHLER | 428.524 | 1,40 | 1,43 | 1 | 1 | 1,48 | 1 |
PIRATEN | 424.510 | 1,39 | 1,42 | 1 | 1 | 1,47 | 1 |
Tierschutzpartei | 366.303 | 1,20 | 1,23 | 1 | 1 | 1,27 | 1 |
NPD | 300.815 | 0,98 | 1,01 | 1 | 1 | 1,04 | 1 |
FAMILIE | 202.871 | 0,66 | 0,68 | 1 | 0 | 0,70 | 1 |
ÖDP | 185.119 | 0,61 | 0,62 | 1 | 0 | 0,64 | 0 |
Die PARTEI | 184.525 | 0,60 | 0,62 | 1 | 0 | 0,64 | 0 |
REP | 109.856 | 0,36 | 0,37 | 0 | 0 | 0,38 | 0 |
Volksabstimmung | 88.430 | 0,29 | 0,30 | 0 | 0 | 0,31 | 0 |
BP | 62.542 | 0,20 | 0,21 | 0 | 0 | 0,22 | 0 |
PBC | 55.377 | 0,18 | 0,19 | 0 | 0 | 0,19 | 0 |
ProNRW | 54.456 | 0,18 | 0,18 | 0 | 0 | 0,19 | 0 |
AUF | 51.048 | 0,17 | 0,17 | 0 | 0 | 0,18 | 0 |
CM | 30.124 | 0,10 | 0,10 | 0 | 0 | 0,10 | 0 |
DKP | 25.204 | 0,08 | 0,08 | 0 | 0 | 0,09 | 0 |
MLPD | 18.479 | 0,06 | 0,06 | 0 | 0 | 0,06 | 0 |
BüSo | 10.695 | 0,03 | 0,04 | 0 | 0 | 0,04 | 0 |
PSG | 9.852 | 0,03 | 0,03 | 0 | 0 | 0,03 | 0 |
Summe | 29.340.700 | 96 | 98,24 | 96 | 96 | 101,36 | 96 |