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Wie aus den Stimmen Mandate im Europaparlament werden | Themen | bpb.de

Wie aus den Stimmen Mandate im Europaparlament werden

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Bei der Europawahl reichten der PARTEI knapp 185.000 Stimmen, um ein Mandat zu bekommen. Die Freien Wähler erhielten mit mehr als doppelt so vielen Stimmen ebenfalls einen Sitz. Grund dafür ist das Verrechnungsverfahren Sainte-Laguë/Schepers.

Wahlhelfer leeren eine Wahlurne nach der Europawahl 2014 in Berlin. (© picture-alliance/dpa)

Die Sitzverteilung im Europäischen Parlament erfolgt nach dem Verfahren von Sainte-Laguë, das in Deutschland meist als Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren bezeichnet wird. Dabei hat insbesondere das Abschneiden der kleinen Parteien einige Fragen über die Eignung des Verfahrens aufgeworfen, da diese wegen des Interner Link: Wegfalls der Drei-Prozent-Hürde nun schon mit sehr geringen Stimmanteilen einen Sitz erringen konnten, insgesamt Interner Link: 14 Parteien stellen die 96 deutschen Abgeordneten. So erhielt DIE PARTEI mit 184.525 Stimmen noch einen Sitz, dabei entsprachen die Stimmen gerade einmal einem Anteil von 0,63 Prozent der insgesamt 29.340.700 abgegebenen gültigen Stimmen. Auch die Freien Wähler erhielten einen Sitz, allerdings hatten sie 428.524 Stimmen erzielt, also das 2,3-fache der PARTEI. Dies wirft die Frage auf, ob das Verfahren nach Sainte-Laguë tatsächlich geeignet ist, wenn es keine gesetzliche Sperrklausel gibt. Schon die Frage zeigt bereits, dass es nicht möglich ist, über die Angemessenheit eines Wahlsystems zu urteilen, ohne auf Fairness- und Gerechtigkeitsargumente zurückzugreifen.

Der "Preis in Stimmen"

Interner Link: Die Europäerinnen und Europäer wählen das Parlament grundsätzlich nach Verhältniswahlen. Das Verhältniswahlsystem soll die zwischen den Stimmenzahlen der Parteien bestehenden Relationen möglichst exakt in entsprechende Relationen der Sitze im Parlament abbilden. Die Sitzzahl, die exakt dem Stimmenanteil entsprechen würde, berechnet man, indem man die Stimmenzahl durch die Hare-Quota dividiert. Die Hare-Quota ist der Quotient aus der Gesamtstimmenzahl und der Anzahl der zu verteilenden Sitze und kann als der "Preis in Stimmen" betrachtet werden, den man für einen Sitz im Durchschnitt bezahlen muss. Bei der Europawahl betrug die Hare-Quota in Deutschland 305.632,3 Stimmen (29.340.700 Stimmen : 96 Sitze für Deutschland).

Das Problem besteht darin, dass die so ermittelten exakten Sitzzahlen keine ganzen Zahlen sind. Die CDU hätte beispielsweise demnach einen Anspruch auf exakt 28,82 Sitze, die PARTEI auf genau 0,60 Sitze. Die Lösung des Problems besteht in der Transformation der exakten Sitzzahlen in ganze Zahlen, sodass deren Summe der zu verteilenden Gesamtanzahl der Parlamentsmandate entspricht. Natürlich sollte jede Partei den ganzzahligen Sitzanteil der exakten Sitzzahl erhalten, es geht also um die Transformation der Restbruchzahlen hinter dem Komma. Diese summieren sich zu den Restmandaten auf, da es sich gewissermaßen um die Mandate handelt, die durch die ganzen Sitzzahlen noch nicht verteilt sind.

Abrunden und Aufrunden

Um diese Restmandate zu verteilen, gibt es verschiedene Verfahren. Das Sainte-Laguë-Verfahren greift bei der Transformation auf die naheliegende Lösung der natürlichen Rundung zurück: Restbruchteile hinter dem Komma größer und gleich 0,5 werden aufgerundet, Bruchteile kleiner als 0,5 abgerundet. Ausgehend von den exakt proportionalen Sitzzahlen allerdings würden so nur 94 Sitze verteilt.

Der "Preis in Stimmen", der im Wahlgesetz als Zuteilungsdivisor bezeichnet wird, muss deshalb so lange gesenkt werden, bis die gerundeten Sitzzahlen in der Summe die 96 Sitze ergeben, die Deutschland im Europaparlament besetzt. Ein "Preis in Stimmen", mit dem man auf die 96 gewünschten Sitze kommt, wäre zum Beispiel 298.700.

Durch die Rundungen erhalten die Parteien, die aufgerundet werden, mehr Sitze als ihnen zustehen, die Parteien, die abgerundet werden, hingegen weniger als ihnen zustehen. Grundsätzlich sind Rundungseffekte nicht zu vermeiden, um die Stellen nach dem Komma zu berücksichtigen.

Kleine Parteien genießen relativen, aber keinen absoluten Vorteil

Das Sainte-Laguë-Verfahren ist insofern sehr fair, weil im Mittel jede Partei genau die Sitzzahl erhält, die ihr zusteht. Der Grund dafür: Langfristig gleichen sich die Vor- und die Nachteile des Rundungseffekts aus. Anders ausgedrückt: Die Chance, zu den Gewinnern des Rundungseffekts zu zählen, ist genauso groß wie die Chance, bei den Verlierern zu sein. Man kann an den Ergebnissen der aktuellen Europawahl sehr gut erkennen, dass sich die exakten Sitzzahlen der sieben Parteien, die genau ein Mandat erhalten, relativ symmetrisch verteilen. Eine Partei erhält ziemlich genau das, was ihr zusteht (die NPD), drei Parteien werden abgerundet (Freie Wähler, Piraten und Tierschutzpartei) und drei Parteien werden aufgerundet (Familie, ÖDP und Die PARTEI).

Während sich die absolute Größe der Vorteile und Nachteile für alle Parteien, die großen und die kleinen, die Waage halten, ist der relative Vorteil einer kleinen Partei immer wesentlich größer als der einer großen Partei. Dies lässt sich mit einem Beispiel zeigen: Erhält eine Partei, die rechnerisch nur einen Anspruch auf 0,5 Sitze hätte, einen Sitz, dann zahlt sie sozusagen nur den halben "Preis in Stimmen" für einen Sitz. Anders sieht es für eine Partei aus, die mit einem Anspruch von knapp 1,5 Sitzen ebenfalls einen Sitz erhält: Sie zahlt für einen Sitz im Vergleich zur ersten Partei den dreifachen Preis.

Andere Verfahren denkbar

Man könnte daher der Ansicht sein, dass es gerechter wäre, die Restmandate denjenigen Parteien zu geben, deren relative Bevorteilung dadurch am geringsten ausfiele bzw. denjenigen, die dann für ihre Sitze den höchsten durchschnittlichen "Preis in Stimmen" zahlen würden. Diese Auktions-Logik entspräche dem ebenfalls weit verbreiteten d’Hondt-Verfahren. Beim d’Hondt-Verfahren wird die Sitzzahl kleiner Parteien daher fast niemals oder wenn überhaupt nur sehr gering aufgerundet. Tatsächlich erhielten die Familienpartei, die ÖDP und die PARTEI bei einer Verteilung der Mandate nach d’Hondt im Gegensatz zur Verteilung nach Sainte-Laguë keinen Sitz. Zwei dieser eingesparten Sitze gingen an die CDU, einer an die SPD. Die Sitzzahl der CDU würde also nicht nur auf die nächsthöhere ganze Zahl aufgerundet, sondern zusätzlich um zwei Sitze erhöht. Es besteht wegen dieses Effekts bei Wahlsystemexperten Konsens, dass d’Hondt zu einer unangemessenen Bevorzugung großer Parteien führt.

Eine sanftere Lösung als d’Hondt, um die Hürde für die Kleinstparteien zur Erlangung des ersten Sitzes zu erhöhen, könnte daher die Einführung des modifizierten Sainte-Laguë-Verfahrens sein, wie es zum Beispiel in Norwegen und Schweden angewandt wird. Hierbei wird auf den ersten Sitz erst ab einem Bruchteil von 0,7 aufgerundet. Ansonsten bleibt es bei der natürlichen Rundung. Um auf diese Weise alle 96 Sitze zu verteilen, müsste der "Preis in Stimmen" noch einmal auf 289.500 gesenkt werden. In der Tat erhielten so weder die ÖDP noch die PARTEI einen Sitz, lediglich die Familienpartei würde gerade noch zu einem Sitz aufgerundet. Die zwei eingesparten Sitze gingen an die CDU und die SPD. Die CDU erhielte also 1,2 und die SPD erhielte sogar 1,8 Sitze mehr, als ihnen ihren Stimmen entsprechend eigentlich zustehen würden.

Keine ideale Lösung denkbar

Die Rundungen auf ganze Zahlen stellen bei jedem Verhältniswahlsystem eine Herausforderung dar, für die es grundsätzlich keine ideale Lösung gibt. Die Stimmen müssen in Mandate umgerechnet werden, dabei kann nie die exakte Proportionalität erreicht werden. Ein Vorteil bezüglich eines bestimmten Fairnesskriteriums kann nur in Form eines Nachteils im Sinne eines anderen Kriteriums erkauft werden. Letztlich muss es hier immer eine politische Entscheidung geben.

Man muss die Entscheidung für das Sainte-Laguë-System daher nicht zwangsläufig für die beste halten, aber in jedem Fall lässt sie sich mit guten Gründen verteidigen. Keine Partei hat einen moralisch gerechtfertigten Anspruch auf den halben zusätzlichen Sitz, den sie dabei im Extremfall durch die Rundung gewinnen kann, dies trifft auf größere Parteien genauso zu wie auf kleine. Es spricht daher nichts dagegen, alle Parteien in ihrem Status als politische Wettbewerber gleich zu behandeln, auch wenn die kleinen Parteien dadurch den relativ größten Gewinn erzielen können. Sie bezahlen dafür mit dem Risiko, auch die relativ größten Verluste zu erleiden.

Partei Stimmen Sainte-Laguë D'Hondt Modif. Sainte-Laguë
CDU 8.807.500 28,82 29,49 29 31 30,42 30
SPD 7.999.955 26,18 26,78 27 28 27,63 28
GRÜNE 3.138.201 10,27 10,51 11 11 10,84 11
DIE LINKE 2.167.641 7,09 7,26 7 7 7,49 7
AfD 2.065.162 6,76 6,91 7 7 7,13 7
CSU 1.567.258 5,13 5,25 5 5 5,41 5
FDP 986.253 3,23 3,30 3 3 3,41 3
FREIE WÄHLER 428.524 1,40 1,43 1 1 1,48 1
PIRATEN 424.510 1,39 1,42 1 1 1,47 1
Tierschutzpartei 366.303 1,20 1,23 1 1 1,27 1
NPD 300.815 0,98 1,01 1 1 1,04 1
FAMILIE 202.871 0,66 0,68 1 0 0,70 1
ÖDP 185.119 0,61 0,62 1 0 0,64 0
Die PARTEI 184.525 0,60 0,62 1 0 0,64 0
REP 109.856 0,36 0,37 0 0 0,38 0
Volksabstimmung 88.430 0,29 0,30 0 0 0,31 0
BP 62.542 0,20 0,21 0 0 0,22 0
PBC 55.377 0,18 0,19 0 0 0,19 0
ProNRW 54.456 0,18 0,18 0 0 0,19 0
AUF 51.048 0,17 0,17 0 0 0,18 0
CM 30.124 0,10 0,10 0 0 0,10 0
DKP 25.204 0,08 0,08 0 0 0,09 0
MLPD 18.479 0,06 0,06 0 0 0,06 0
BüSo 10.695 0,03 0,04 0 0 0,04 0
PSG 9.852 0,03 0,03 0 0 0,03 0
Summe 29.340.700 96 98,24 96 96 101,36 96