Was passiert konkret in den Parteien bei der Kandidatensuche? Zunächst ist ein Blick auf das Wahlsystem als wesentliche Rahmenbedingung zu werfen: Europawahlen sind Verhältniswahlen. Gewählt werden können nur nationale Parteien, das heißt weder europäische Parteien noch einzelne Personen. Von den
Weitgehend parteienübergreifend gilt bei den Kandidatenaufstellungen für das EP ebenso wie für den Bundestag die Regel: Wer drin ist, bleibt drin; zumindest solange ein Abgeordneter nicht von selbst "abdankt" oder sich keine größeren Verfehlungen zu Schulden kommen lassen hat. So können die Fraktionen ein hohes Niveau an Professionalität gewährleisten. Zugleich aber besteht die Gefahr der Innovationshemmnis. Nach der EP-Wahl 2009 waren ungefähr 60 Prozent der gewählten Parlamentarier "alte Hasen", das heißt sie hatten sich erneut aufstellen lassen.
Interesse an Europamandaten gestiegen
Von besonderer Bedeutung sind die Kandidaten auf den Spitzenplätzen. Sie sind das Aushängeschild der Parteien. Diese richten ihre Wahlkampagnen vermehrt auf sie aus. Diese Personalisierung geht Hand in Hand mit den Erfordernissen medialer Politikvermittlung. Seit der ersten Europawahl im Jahr 1979 setzen die Parteien immer wieder auch auf verdiente und erfahrene Parteipromis auf den vorderen Plätzen. Anders als vor 35 Jahren geht die Funktion der heutigen Listenanführer aber viel stärker über den nationalen Rahmen hinaus. So ist beispielsweise der EP-Abgeordnete Martin Schulz nicht nur Spitzenkandidat der SPD, sondern auch der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE).
Diese Aufwertung der Spitzenkandidaturen ist eine Folge der Machtzuwächse des EP, zuletzt mit dem 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon. Diese haben zudem erheblich dazu beigetragen, dass die Nachfrage nach einem Europamandat deutlich gestiegen ist. Inzwischen gehört das EP- neben dem Bundestagsmandat in der Wahrnehmung der Parteimitglieder zu den attraktivsten parlamentarischen Positionen. Zunehmend werfen ehrgeizige Parteimitglieder ihren Hut in den Ring, die in erster Linie europäische Politik und eben nicht Landes- oder Bundespolitik gestalten wollen. Dieser neuere Typus – man kann ihn als "europäischen Karrieristen" bezeichnen – hat in den vergangenen Jahren an Verbreitung und Einfluss bei den EP-Kandidatenaufstellungen gewonnen.
"Parteipolitisches Kapital" als entscheidende Ressource
Damit ist ein zentrales Rekrutierungskriterium angesprochen: die Motivation. Sicherlich spielen auf dem Weg ins Parlament viele Faktoren eine Rolle – manchmal muss man einfach nur zur richtigen Zeit am rechten Ort sein. Umso wichtiger sind aber die Motivation und der Wille, eines Tages legislative Politik mitgestalten zu wollen. Sie sind der Antrieb für den individuellen "politischen Kapitalerwerb", anders ausgedrückt für die "Ochsentour" in einer Partei, wie das karriereorientierte, jahrelange innerparteiliche Engagement auch genannt wird.
Die Europaabgeordneten haben ihre politische Karriere typischerweise in der Jugendorganisation ihrer Partei begonnen. Später haben sie Ämter und Führungspositionen in der Partei übernommen. Dabei dehnten sie ihr Engagement schrittweise von der lokalen auf die regionale, die Landes- und schließlich die Bundesebene aus. Neben die ehrenamtliche Parteiarbeit trat irgendwann die berufliche, beispielweise als Mitarbeiter in einem Abgeordnetenbüro. So erlernen die Politiker das Handwerk der Parteipolitik von der Pike auf, vergrößern ihre Macht in der Partei und erarbeiten sich ein belastbares innerparteiliches Netzwerk. Bei den aussichtsreich platzierten Europakandidaten kommen als Nominierungsvoraussetzungen oftmals noch eine vorherige Bewährung als Abgeordneter eines Landesparlaments oder des Bundestages und verstärkt auch eine europapolitische Profilierung, beispielsweise durch die Mitarbeit in einem EU-Fachgremium der Partei, hinzu.
Unterschiede zwischen den Parteien
Fast alle Parteien stellen die Bewerber auf einer Bundesliste auf.
Die Verteilung der Bewerber auf die einzelnen Listenplätze ist zumeist Ausdruck von zuvor getroffenen Übereinkünften zentraler Entscheider der Parteien. Dabei werden vielfältige innerparteiliche Personal- sowie persönliche Karriereinteressen ausgelotet. Hierbei ist für die großen Parteien CDU, CSU und SPD der Regionalproporz sehr wichtig. Sie tarieren ihre Listen primär nach Regionen bzw. Bezirks- oder Landesverbänden aus. Auch die anderen Parteien streben eine regionale Ausgewogenheit an. Daneben ringen parteiinterne Strömungen, Flügel oder Gruppierungen um die Präsenz ihrer Kandidaten auf der jeweiligen Liste. Nicht zu vergessen sind schließlich die Quoten für Frauen. So muss bei den Parteien Grüne und Linke mindestens die Hälfte der Plätze weiblich besetzt sein.
Eine erfolgversprechende Kandidatur hat also eine lange Vorlaufzeit: Bis zur Nominierung auf einem aussichtsreichen Listenplatz müssen die Politiker die "Ochsentour" absolvieren – und die dauert oft viele Jahre.