Zur Europawahl 2014 treten in vielen Ländern Parteien an, die der EU skeptisch gegenüberstehen, ihre europakritischen Positionen werden oft pauschal als populistisch abgetan. Widerspricht das nicht dem demokratischen Gebot, Kontroversen zu identifizieren und auszutragen?
Frank Decker: Der Populismusvorwurf wird in der Tat häufig als Argumentationskeule eingesetzt, um politische Gegner zu diskreditieren. Nicht jede europakritische oder -skeptische Position ist populistisch, auch wenn solche Positionen unter den Populisten stark verbreitet sind.
Was verstehen Sie denn unter Populismus und wie grenzen Sie ihn in der politikwissenschaftlichen Analyse von Extremismus ab?
Mit Populismus wird eine Haltung beschrieben, die für das sogenannte "einfache" Volk Partei ergreift und sich gegen die herrschenden gesellschaftlichen und politischen Eliten richtet. Sein Hauptwesensmerkmal ist also eine Anti-Establishment-Orientierung. Populistische Parteien können zugleich aber auch extremistisch sein, und zwar dann, wenn sie die Schwelle zur offenen Systemfeindlichkeit überschreiten. In Europa galt das bis vor einigen Jahren zum Beispiel für den französischen Front National. Der Mainstream des Rechtspopulismus – von Geert Wilders’ Freiheitspartei (PVV) in den Niederlanden über Silvio Berlusconis Forza Italia bis hin zur österreichischen FPÖ – ist nicht oder, wie die FPÖ, nur eingeschränkt extremistisch. Umgekehrt kann es extremistische Parteien geben, denen die typischen Elemente der populistischen Wähleransprache fehlen. Dies gilt etwa für die bundesdeutsche NPD.
Ist Populismus ein Phänomen, das in Gesellschaften auftritt, die krisenhafte Veränderungen durchlaufen?
Allgemein stellt Populismus eine Reaktion auf Modernisierungsprozesse dar. Er entsteht, wenn bestimmte Bevölkerungsgruppen durch raschen Wandel oder große Verwerfungen Wert- und Orientierungsverluste erleiden. Solche Verluste treten auch in Wohlstandsgesellschaften auf. Sie können ökonomische Ursachen haben, sind in der Regel jedoch kulturell vermittelt und gehen einher mit Statusangst, Zukunftsunsicherheit und politischen Entfremdungsgefühlen.
Wie sehen sich populistische Bewegungen selbst?
Ihrer Anti-Establishment-Orientierung entsprechend stilisieren sich populistische Parteien und Politiker als Vertreter des wahren Volkswillens. Dabei stellen sie sich auch selbst gerne als "Opfer" hin. Ihre Parteinahme für den "kleinen Mann" bedeutet aber nicht, dass immer nur Meinungen vertreten werden, die besonders populär sind. Ganz im Gegenteil verlangt die Abgrenzung von denen „da oben“ nach kalkulierten Entgleisungen, die an Tabus rühren und damit provozierend wirken. Gerade dadurch, dass die Populisten auf die Zustimmung größerer Bevölkerungsteile verzichten und sich als Außenseiter hinstellen, gewinnen sie Glaubwürdigkeit unter ihren Anhängern.
Welche weiteren Feindbilder, neben dem politischen Establishment, lassen sich identifizieren?
Die Vertreter des rechten Populismus grenzen "das Volk" zugleich von den vermeintlich Nicht-Zugehörigen anderer Nationen oder Kulturen ab. Auch Staatengruppen wie die EU oder einzelne Länder wie die USA können zum Feind werden. Populismus ist von daher immer eine Ausgrenzungsideologie. Wer zu den Ausgegrenzten gehört, unterscheidet sich von Land zu Land: Für die Lega Nord fallen darunter auch die Süditaliener, für die religiöse Rechte in den USA sind es die Träger liberaler Moralvorstellungen. Darüber hinaus können sich die Feindbilder auch im Laufe der Zeit ändern: In den 1980er- und 1990er- Jahren waren es überwiegend Asylbewerber, die sich den Attacken von Rechtsparteien ausgesetzt sahen. Heute ist es primär die Agitation gegen Muslime, der die Rechtspopulisten Wahlerfolge und mediale Resonanz verdanken. Islam und Islamismus werden dabei häufig gleichgesetzt.
Zur Person
Seit November 2001 ist Frank Decker Professor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Seine derzeitigen Forschungsschwerpunkte sind westliche Regierungssysteme, Parteien, Populismus, Föderalismus und Demokratiereform.
Wann und wo sind populistische Parteien erstmals erfolgreich gewesen?
Die dänische und die norwegische Fortschrittspartei feierten als Steuerrebellen schon in den 1970er-Jahren Erfolge. Die meisten der heute noch existierenden rechtspopulistischen Vertreter traten dann etwa zeitgleich ab Mitte der 1980er-Jahre auf den Plan – die italienische Lega Nord, der belgische Vlaams Blok, der Front National und die Haider-FPÖ. Anderswo entpuppten sich die Populisten als erfolgreiche Nachzügler, so etwa Pim Fortuyn und Geert Wilders in den Niederlanden. Und in den neuen Demokratien Mittelosteuropas sorgten die Folgen des Systemwandels und eine noch ungefestigte Parteienlandschaft schließlich dafür, dass populistische Parteien heute auch dort nahezu flächendeckend verbreitet sind.
Welche Besonderheiten beobachten Sie in den östlichen EU-Mitgliedstaaten?
Die gesellschaftlichen Konflikte sind hier durch eine noch größere Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern gekennzeichnet als in den westeuropäischen Ländern. Gleichzeitig drängen Nationalitätenprobleme und außenpolitische Fragen stärker in den Vordergrund. Das in Westeuropa dominierende Zuwanderungsthema bleibt dagegen nachrangig. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Vergangenheitspolitik, also der Umgang mit den untergegangenen kommunistischen Regimen.
Aber auch in Skandinavien haben populistische Parteien bei Wahlen zuletzt wiederholt deutliche Stimmenanteile gewonnen.
In Skandinavien gelingt es den Populisten vor allem, die Zuwanderungsfrage mit der Sorge um den Erhalt des Wohlfahrtsstaates zu verknüpfen, der dort traditionell stark ausgebaut ist. Dessen Segnungen sollen am liebsten der "einheimischen" Bevölkerung vorbehalten bleiben.
Woran liegt es, dass sich in Deutschland bislang keine ähnlich starke populistische Gruppierung dauerhaft etablieren konnte wie in anderen europäischen Ländern? Unter den Wählerinnen und Wählern scheint es durchaus ein gewisses Potenzial zu geben, hält man sich zeitweise Wahlerfolge verschiedener Parteien vor Augen.
Der wichtigste Grund liegt sicherlich in dem historisch kontaminierten Umfeld, in dem hierzulande nicht nur rechtsextreme, sondern auch rechtspopulistische Parteien agieren müssen. Dies erschwert zum einen ihren Zugang zu den Medien, die dem Populismus gegenüber Berührungsängste haben und ihm deshalb nicht unbefangen begegnen. Zum anderen führt es dazu, dass gerade die Vertreter, die sich selbst als gemäßigt verstehen, fürchten müssen, von radikaleren Kräften unterwandert zu werden. Weil diese die neu gegründeten Parteien als Trittbrett nutzen wollen, um aus ihrer Isolierung herauszutreten, drohen unweigerlich Richtungskonflikte, die das öffentliche Bild der Partei früher oder später ruinieren. Das kann man jetzt wieder bei der AfD beobachten.
Mit Blick auf die Europawahl haben sich zuletzt der französische Front National mit der Vorsitzenden Marine Le Pen und die niederländische PVV unter Geert Wilders einander angenähert – trotz ideologischer Differenzen. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Diese Entwicklung ist keineswegs neu. Viele rechtspopulistische Parteien verbindet trotz bestehender Differenzen so etwas wie ein ideologischer Kern, nämlich die Vorstellung einer möglichst homogenen nationalen Gemeinschaft, die es zu bewahren gelte. Dass es jetzt zu einer Verstärkung der Kooperation gekommen ist, hängt natürlich mit der gemeinsam geteilten Anti-Position zur Europäischen Union zusammen.
In Frankreich hat bei einer Umfrage im Herbst 2013 fast ein Viertel der Befragten angegeben, bei der Europawahl für den Front National stimmen zu wollen; und im Januar 2014 lag die britische United Kingdom Independence Party (UKIP) in Umfragen vor Konservativen und Labour. Sind die Umfrage-Höhenflüge bloßer Hype oder Ausdruck konkreter Stimmungen?
Die Europawahlen werden als eher nachrangig empfunden, wodurch das Protestwahlverhalten stark ausgeprägt ist. Die Rechtspopulisten werden daher mit einem großen Stimmenzuwachs rechnen können.
Was bedeutete es für das Europäische Parlament, wenn EU-Gegner nach der Europawahl eine signifikante Gruppe der Abgeordneten stellten?
Eine Stärkung der Rechtspopulisten wird die pro-europäischen Kräfte noch mehr in die Defensive drängen und die bereits jetzt angezeigten Tendenzen einer Renationalisierung der europäischen Politik befördern. Beherzte Vorstöße für eine Vertiefung der Integration aus dem Parlament heraus wären unter diesen Bedingungen in den nächsten Jahren kaum zu erwarten.
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