Herr Kaeding, das Bundesverfassungsgericht hat die Drei-Prozent-Hürde für verfassungswidrig erklärt. Was bedeutet das Urteil konkret?
Michael Kaeding: Deutschland stellt nach der Wahl im kommenden Mai 96 Abgeordnete im Europaparlament. Das bedeutet, dass eine Partei rechnerisch 1,04 Prozent der Wählerstimmen benötigt, um einen Sitz zu bekommen. Schaut man sich die aktuellen Umfragen an, sieht man, dass mehr Parteien als bislang ins Parlament einziehen werden. Und zum ersten Mal in der deutschen Geschichte werden Parteien im Europaparlament vertreten sein, die keine Mandate im Bundestag haben. Dazu würden beispielsweise die FDP, die Alternative für Deutschland (AfD), die Freien Wähler, die Republikaner oder die NPD zählen. Auf Basis der aktuellen Umfragen ist mit zehn bis 15 Mandaten zu rechnen, die diese kleinen Parteien bekommen könnten. Diese Mandate werden den großen Parteien fehlen.
Wenn Sie auf die anderen Länder Europas blicken: Wie sieht es dort mit Sperrklauseln aus?
Deutschland geht nun einen Sonderweg. In der Mehrzahl der europäischen Länder gibt es gesetzliche Sperrklauseln. Und in den Staaten, die keine formalen Hürde haben, handelt es sich mehrheitlich um sehr kleine Länder, so dass es dort faktisch "natürliche" Sperrklauseln gibt, weil sie nur wenige Abgeordnete stellen. Schauen Sie zum Beispiel Dänemark an. Dort gibt es keine gesetzliche Sperrklausel. Dänemark entsendet aber nur dreizehn Abgeordnete ins Europaparlament, sodass eine Partei fast acht Prozent der Stimmen erreichen muss, um ein Mandat zu bekommen. In noch kleineren Ländern ist der Effekt noch deutlicher: In Luxemburg oder Zypern braucht eine Partei rechnerisch fast 17 Prozent, um einen Abgeordneten stellen zu können.
Wie deutlich wird sich der Wegfall der Drei-Prozent-Hürde auf die Wahlentscheidung der Bürger auswirken?
Ich glaube nicht, dass deutlich mehr Wähler als bisher kleinere Parteien wählen werden, weil sie wissen, dass deren Chancen nun größer sind. Allerdings gibt es bei Europawahlen immer den Trend, weniger strategisch als bei Bundestagswahlen zu wählen, dafür aber "mit dem Herzen". Das hat etwas damit zu tun, dass viele Wähler die Europawahlen als "Nebenwahlen" wahrnehmen, also als weniger wichtig als Bundestagswahlen. Wähler sind daher eher bereit, kleinere Parteien zu wählen. Dieser Trend gilt europaweit, nicht nur für Deutschland.
Meiner Meinung nach lenkt allerdings diese Debatte in Deutschland vom eigentlichen Problem ab: Seit 1979 ist es nicht gelungen, eine Verbindung zwischen den Wählern und Entscheidungsträgern herzustellen. Ein einheitliches europäisches Wahlsystem wäre hierfür allerdings die eleganteste Lösung. Vorschläge dafür liegen seit Jahren auf dem Tisch, aber vor allem die nationalen Regierungen stellen sich dagegen. Ein gemeinsames Wahlsystem mit grenzüberschreitenden Wahlkreisen würde dazu führen, dass europäische Themen ein stärkeres Gewicht im Wahlkampf bekommen würden, womit widerum die Wahl zum Europäischen Parlament aufgewertet würde. Das würde Wähler mobilisieren.
Wie viele Parteien sind eigentlich bislang im Europaparlament vertreten, haben aber „zu Hause“ keine Mandate im nationalen Parlament?
Im Europaparlament sind insgesamt 161 Parteien vertreten. Nur 22 davon sind im Europaparlament, aber nicht im jeweiligen nationalen Parlament vertreten. Beispiele dafür sind die schwedische Piratenpartei oder die bulgarische National Movement for Stability and Progress. Auf der anderen Seite gibt es deutlich mehr Parteien, die in nationalen Parlamenten, aber nicht im Europaparlament vertreten sind, nämlich insgesamt 47. Dieser Befund ist überraschend, da er aus meiner Sicht im Widerspruch zur Begründung im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Drei-Prozent-Hürde steht: Wie bereits erwähnt verhindern die natürlichen Hürden in den kleinen Mitgliedstaaten und die formellen Sperrklauseln in den größeren Mitgliedsstaaten schon jetzt eine Zersplitterung des Parlaments. Der Wegfall der deutschen Sperrklausel wird jetzt paradoxerweise zu einer Zersplitterung beitragen, da die deutschen Mandate auf mindestens acht weitere Parteien verteilt sein werden, die widerum nicht im Bundestag vertreten sind.
Nun haben ja durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts kleinere Parteien bessere Chancen, Mandate zu erringen. Was bedeutet es eigentlich langfristig für eine Partei, wenn sie ins Europaparlament einzieht?
Machtpolitisch ist die alles entscheidende Frage, ob es den Abgeordneten dieser Splitterparteien gelingen wird, sich in eine der Fraktionen im Europaparlament zu integrieren. Man kann als Abgeordneter nur das Interesse der Wähler wirksam zur Geltung bringen, wenn man Mitglied einer Fraktion ist. Das ist wie im Bundestag: Ist ein Abgeordneter fraktionslos, ist er de facto nahezu einflusslos. Deshalb ist es entscheidend, den kleinen Parteien die Frage zu stellen, wie sie sich positionieren werden: Welche Partner wollen sie sich im Parlament suchen? Marine Le Pen von der rechtsextremen französischen Partei Front National ist beispielsweise bislang fraktionslos im Europaparlament. Sie hat keinerlei Einfluss im Europaparlament und ist deshalb auch so gut wie nie in Brüssel bzw. Straßburg. Auch deshalb ist sie ist jetzt in ganz Europa unterwegs, um Partner für eine Fraktion zu finden. Im Europaparlament sind mindestens 25 Abgeordnete, die aus wenigstens einem Viertel der Mitgliedsstaaten stammen müssen, erforderlich, um eine Fraktion zu bilden. Auch mit Blick auf die AfD wird das Thema der zukünftigen Fraktionszugehörigkeit eine wichtige Rolle spielen.
Und was verändert sich für eine kleine Partei im Hinblick auf ihre Ressourcen, wenn sie erstmals einen Abgeordneten im Europaparlament stellt?
Das verändert mit Blick auf die nationale Bühne nichts Entscheidendes. Das ist eher zu vernachlässigen.
Sie haben es angesprochen: Ohne Sperrklausel werden vermutlich mehr Parteien Deutschland im Europaparlament vertreten. Was bedeutet das für die Berücksichtigung deutscher Interessen in der Europapolitik?
Sicherlich wird dies die deutsche Position schwächen. Bislang war es ein Vorteil für Deutschland, dass sich die Abgeordneten nur auf wenige Parteien verteilt haben, denn dadurch war die Gruppe der deutschen Parlamentarier in den Fraktionen stets besonders groß. Im Europaparlament treffen traditionell die drei, manchmal die vier größten Fraktionen die Entscheidungen im Konsens. Mehr als 90 Prozent der Entscheidungen fallen so. Das ist ein Unterschied zum Bundestag: Weil die Abgeordneten keine Regierung wählen, gibt es im Europaparlament die klassische Gegenüberstellung von Fraktionen der Regierung und der Opposition nicht. Die kleineren Fraktionen spielen deshalb bei der Entscheidungsfindung im europäischen Parlament so gut wie nie eine gewichtige Rolle.
Zudem bin ich gespannt auf die Reaktionen der nicht-deutschen Öffentlichkeit, wenn sich am 25. Mai herausstellt, dass durch den Wegfall der Sperrklausel die deutsche Abgeordnetenriege in Brüssel und Straßburg neben Vertretern der fünf heutigen Parteien und der AfD auch noch den einen oder anderen Republikaner- und NPD-Parlamentarier umfassen wird.