Lange Zeit schien es in Europa nur ein Thema zu geben: die Migration. Die Flüchtlingskrise 2015 und die darauffolgenden Diskussionen über den Umgang mit Migranten schien die EU beinahe zu zerreißen. Um Hauptankunftsländer wie Griechenland und Italien zu entlasten, wollte die EU-Kommission verpflichtende Verteilungsquoten einführen – das brachte Länder wie Ungarn, Polen, Tschechien, Slowakei, Rumänien aber auch Großbritannien auf. Sie weigerten sich, Flüchtlinge nach einem festen Quotenschlüssel oder überhaupt aufzunehmen.
War das Thema Migration in der öffentlichen Meinung seit 2015 laut Eurobarometer immer wieder eines der wichtigsten oder gar das wichtigste, wurde es seit 2017 wieder von anderen Themen eingeholt. 50 Prozent der befragten EU-Bürger halten in der Externer Link: jüngsten Eurobarometerumfrage vom März 2019 die wirtschaftliche Entwicklung der Union, 49 Prozent die Jugendarbeitslosigkeit für das wichtigste Thema. Migration kam mit 44 Prozent auf Platz drei. Auch der Klimawandel nimmt eine wachsende Bedeutung ein: In sieben Ländern wünscht sich die Bevölkerung, dass der Klimaschutz die höchste Priorität in der EU bekommt.
Abwanderung für einige Länder ein großes Problem
In einer Externer Link: Studie des Think Tanks European Council on Foreign Relations (ECFR) zu Beginn dieses Jahres zeigt sich, dass es noch ein weiteres Thema gibt, das Menschen in einigen EU-Ländern Sorge bereitet – in einigen sogar mehr als die Migration. Die Abwanderung von Bürgern des eigenen Landes hat besonders in Ost-Mittel- und Südeuropa in den vergangenen Jahren dramatische Ausmaße angenommen, was auch die Daheimgebliebenen zu spüren bekommen.
In Ungarn, Rumänien, Polen, Griechenland, Spanien und Italien – so fand das ECFR gemeinsam mit dem Umfrageinstitut YouGov heraus – sorgen sich mehr Menschen um die Abwanderung ihrer Landsleute als um Zuwanderung. Die Studie wurde in den 14 bevölkerungsreichsten Ländern der EU durchgeführt – mit Ausnahme Großbritanniens.
In der bulgarischen Tageszeitung Trud erklärt der Demografie-Experte Petar Iwanow, wie schwierig die Lage für sein Land ist: "Es klingt schrecklich, aber in Bulgarien läuten die Todesglocken. Das Land steckt im Moment in der schlimmsten demographischen Krise aller Zeiten. Es ist demographisch betrachtet schon tot. Wir schwinden schneller, als alle anderen Länder auf der Welt. Wir weisen die größte Sterblichkeit auf. In den vergangenen neun Jahren sind wir von Platz 19 auf den ersten Platz gerückt, noch vor Ländern wie Syrien und Afghanistan, wo Krieg herrscht."
Wie Ungarn versucht, die Geburtenrate zu steigern
In Ungarn hat die Regierung das Problem mittlerweile erkannt. Als Antwort auf Abwanderung und Geburtenrückgang setzt Premier Viktor Orbán allerdings weiterhin nicht auf Zuwanderung, sondern auf Versuche, die Ungarn Externer Link: mit finanziellen Anreizen zu mehr Kindern zu überreden. Jede Frau unter 40, die zum ersten Mal heiratet, soll einen Kredit von zehn Millionen Forint (rund 30.000 Euro) bekommen.
Während regierungstreue Medien diese Politik feiern, sehen Kritiker darin lediglich den Versuch, Frauen zurück an den Herd zu verbannen. So schreibt die schwedische Tageszeitung Aftonbladet: "Ungarn ist bereits für seine brutale Flüchtlingspolitik bekannt, für Muslimfeindlichkeit und für offenen Antisemitismus unter seinen Spitzenpolitikern. Genderstudien sind verboten worden, die Medien werden kontrolliert. Nun kommt der nächste Schritt: Nun wird die Rolle der Frauen verändert und die Uhr zurückgedreht." Magyar Hírlap aus Ungarn jubelt hingegen: "Heute werden bereits fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts für das wichtigste nationale Ziel - die Familienförderung - ausgegeben. Dies ist europaweit der höchste Wert. Das Ergebnis: Die Externer Link: Geburtenrate steigt wieder, ebenso die Zahl der Eheschließungen, während die Sterberate stagniert."
Problem der Migration bleibt ungelöst
Doch auch, wenn das Thema Migration bei den EU-Bürgern an Relevanz verloren hat, sollte die Politik es nicht vernachlässigen, fordert die Tageszeitung Externer Link: Die Welt: "Der Zorn vieler über die Unfähigkeit der EU, Immigration und Asylrecht einheitlich zu regeln, ist groß. Das alte Dublin-Verfahren ist tot. Die EU braucht einen stabilen, einheitlichen Weg für die legale Zuwanderung. Sie diskutiert darüber seit 25 Jahren. Wer hat die Kraft, jetzt diesen Knoten zu zerschlagen?"