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Zivilgesellschaft in Europa

Helmut K. Anheier

/ 9 Minuten zu lesen

Die Vielfalt Europas besteht wesentlich aus einem Mosaik verschiedener Zivilgesellschaften und Formen bürgerschaftlichen Engagements. In den letzten Jahren zeichnen sich Veränderungen in den Zivilgesellschaften Europas entlang wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Problemfelder ab, die mit einer Politisierung einhergehen. In Zügen deutet sich bereits eine paneuropäische Zivilgesellschaft an.

Die Zivilgesellschaften Europas treten zunehmend in das Licht der politischen Öffentlichkeit – so wie hier 2019 in Hamburg bei einer "Save the Internet"-Demonstration gegen die EU-Urheberrechtsreform. (© picture-alliance, xim.gs)

Zivilgesellschaftliche Vielfalt

Die Zivilgesellschaft ist ein hoch differenziertes Ensemble aus vielen verschiedenen Organisationen, die vom lokalen Vereinswesen bis hin zu großen NGOs wie Greenpeace oder Amnesty International reichen, von Interessenverbänden und humanitären Hilfsorganisationen bis hin zu philanthropischen Stiftungen. Hinzu kommen unterschiedliche Formen bürgerschaftlichen Engagements: in Bürgerbewegungen, für religiöse Zwecke in kirchlichen Einrichtungen, für Städtepartnerschaften oder auch für die freiwillige Feuerwehr und das Rote Kreuz.

Zivilgesellschaft ist keinesfalls isoliert zu denken. Sie hat vielfältige Verbindungen zu Wirtschaft, Staat, Kultur sowie den Medien. Zentral dabei ist einmal eine eher individualistische Perspektive, die individuelle Wertvorstellungen, Verhalten und die Teilhabe an der Öffentlichkeit betont, wobei bürgerschaftliches Engagement und soziale Partizipation in den Mittelpunkt rücken und durchaus politische Motive und Handlungen einschließen; dann ergibt sich die Perspektive auf Zivilgesellschaft als institutionell-organisatorische Ebene, wobei die Anzahl, die Strukturen und die Funktionen von zivilgesellschaftlichen Organisationen mit Begriffen wie Non-Profit oder Dritter Sektor zusammengefasst werden.

Selbstorganisation und Konfliktbewältigung

Beide Perspektiven verbindet der Bezug auf die soziale Selbstorganisation unterschiedlichster Interessen und Belange, die nach Beachtung, Einfluss und Verwirklichung suchen. Laut Ernest Gellner (1994) wird Zivilgesellschaft als eine zwischen Staat und Markt gelegene "Pufferzone" gesehen, als gesellschaftlicher Sektor, der stark genug ist, um die zwei anderen Sektoren balancierend unter Kontrolle zu halten und damit einer Dominanz vorzubeugen. Somit ist Zivilgesellschaft auch ein Gegengewicht zu Staat und Markt. Während die Zivilgesellschaft den Staat nicht daran hindert, die hoheitliche Rolle als Friedensbewahrer und Ordnungsmacht zwischen konkurrierenden gesellschaftlichen Interessen einzunehmen, vermag sie den Staat dennoch davon abzuhalten, die Gesellschaft als Ganzes zu dominieren. Gleichzeitig verhindert die Zivilgesellschaft eine Atomisierung der Gesellschaft durch Marktkräfte und eine Dominanz isolierter Einzelinteressen.

Europäische Zivilgesellschaften sind daher eben nicht isoliert vom Staat zu sehen. Beide stehen in einem spannungsgeladenen Verhältnis. Für John Keane (1998) ist die Zivilgesellschaft daher ein Feld für gesetzlich geschützte Organisationen, die gewaltfrei, selbstorganisierend und selbstreflexiv sind, und ständig miteinander und mit den staatlichen Institutionen im Spannungsfeld stehen. Der Staat hat die komplexe Aufgabe, einen gesetzlichen und regulativen Rahmen zu bilden, der gleichzeitig einschränkend und ermöglichend wirken muss. Zivilgesellschaftliche Akteure müssen wiederum den so gesetzten Rahmen achten und dafür sorgen, dass weder die Kakophonie der Einzelinteressen zu Lasten der Allgemeininteressen führt, noch dass durch Gewalt zivilgesellschaftliche Teilhabe und ein genuiner Interessenausgleich gefährdet wird.

Wenn Staat und Zivilgesellschaft ihren Rollen gerecht werden, so erhöht sich die Fähigkeit von Gesellschaften qua Selbstorganisation Potenziale für friedliche, wenn auch oft weiterhin umstrittene oder temporäre Lösungen für soziale, kulturelle und wirtschaftliche Probleme verschiedener Art zu realisieren. Dies ist der wesentliche Vorteil eines ausbalancierten Verhältnisses zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft.

Nationale Traditionen und Differenzierungen

In Europa zeigen sich charakteristische zivilgesellschaftliche Muster, die eng mit wohlfahrtsstaatlichen Traditionen und ordnungs- und wirtschaftspolitischen Grundeinstellungen verbunden sind. In den Ländern Skandinaviens hat bürgerschaftliches Engagement eine lange Tradition, die durch sozialdemokratische Politiken unterstützt wurde, und ist bis heute weitaus stärker vorhanden als in den süd- und osteuropäischen Ländern; die korporatistisch geprägten Länder wie Deutschland oder Frankreich liegen dazwischen. Die letzteren zeichnen sich aber durch eine höhere Dienstleisterrolle von Non-Profit-Organisationen in den wohlfahrtsstaatlichen Bereichen aus, typischerweise in den Bereichen Soziales, Gesundheit, Bildung und Kultur. Diese Funktion ist in den skandinavischen Ländern kaum ausgebildet.

Neben diesen Grundmustern finden sich länderspezifische Variationen, die wiederum eng mit den kulturellen und politischen Einbettungen und Entwicklungen der Zivilgesellschaft verknüpft sind. Im deutschen Kontext steht die Tradition der Subsidiarität im Mittelpunkt, die umfassende Rahmenbedingungen für die Beziehungen zwischen Staat und Drittem Sektor bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen bereitstellt. Sie hat zu einer herausragenden Rolle der freien Wohlfahrtsverbände geführt, wobei eine Betonung des Zivilengagements erst seit Ende der 1990er Jahre konsequenter von Politik und Verbänden verfolgt wird.

In Frankreich ist die Zivilgesellschaft untrennbar mit der Diskussion um das Konzept der "economie sociale" verbunden und betont ökonomische Aspekte, die mit Vorstellungen von sozialer Partizipation und Solidarität verbunden werden. In Schweden findet sich das Modell demokratisch konstituierter Mitgliedsorganisationen, die auf breiten sozialen Bewegungen basieren. Der zivilgesellschaftliche Schwerpunkt liegt dabei auf sozialer Partizipation und öffentlicher Teilhabe, weniger auf wohlfahrtsstaatlichen Dienstleistungen. In Großbritannien schließlich gilt weiterhin die Tradition privater Wohltätigkeit (charity) und des freiwilligen Engagements (volunteering). Sie konstituieren eine Sphäre von philanthropischen Einrichtungen einerseits und individueller sozialer Verantwortung andererseits, die für das öffentliche Wohl parallel zum System staatlicher Leistungen eine zunehmend wichtige Rolle spielen.

Neben nationalen Traditionen gilt es interne Differenzierungen in den europäischen Mitgliedsstaaten mit zu berücksichtigen, da diese eng mit der Unabhängigkeit und dem demokratischen Potential der Zivilgesellschaft verbunden sind. In einigen Ländern, so in Deutschland, Frankreich oder den Niederlanden, werden zivilgesellschaftliche Organisationen häufig und zum Teil erheblich durch staatliche Subventionen und Leistungsverträge unterstützt, so bei sozialen Diensten, im kulturellen Bereich, Umweltschutz oder auch in der Entwicklungszusammenarbeit. In Großbritannien, Irland und den osteuropäischen Staaten herrscht hingegen eine größere Marktorientierung vor, da selbsterwirtschaften Mitteln in der Finanzierung eine weitaus größere Bedeutung zukommt. So stellt sich einerseits die Frage, inwieweit zivilgesellschaftliche Organisationen ihrer ausgleichenden Funktion - wie von Gellner und Keane beschrieben - gerecht werden können, wenn sie zu sehr von staatlichen Mitteln abhängig sind. Andererseits stellt sich die Frage, ob nicht Abhängigkeiten von Markteinkommen die Unabhängigkeit ebenso beschneiden können.

Zivilgesellschaft ist Teil einer liberal-demokratischen Ordnung. Dies bedeutet aber nicht, dass alle Organisationen der Zivilgesellschaft demokratisch konstituiert sein müssen. Vereine sind in ihrer Governance einer internen demokratischen Verfasstheit am nächsten, da Vorstände von den Mitgliedern gewählt und ihnen gegenüber verantwortlich sind. Gemeinnützige Kapitalgesellschaften hingegen, wie die in Deutschland geläufige gGMBH, sind nach Kapital- und Risikoanteilen strukturiert. Stiftungen wiederum haben keine Organe, die eine interne demokratische Beteiligung oder Willensbildung vorsehen. Gleichwohl können Stiftungen durch ihre Fördermaßnahmen im In- und Ausland Demokratie unterstützen und entsprechende Programme durchführen. Transparenz ist dabei ein wichtiger legitimitätsstiftender Erfolgsfaktor.

In den letzten zwei Jahrzehnten haben sich neben diesen drei Formen der organisierten Zivilgesellschaft (Verein, Kapitalgesellschaft, Stiftung) internet-basierte Foren etabliert, die meist spezifische Themen und Anliegen aufgreifen, sei es Umweltschutz, Migration oder Finanzpolitik. Diese Foren sind oft international vernetzt, haben zumeist weder Mitglieder noch eine organisatorische Fassung, weisen aber ein hohes Mobilisierungspotenzial auf, was gerade auch im europäischen Kontext im Sinne pan-europäischer Bewegungen von großer Bedeutung ist. Der Begriff „cyber activism“ hat sich eingebürgert und beschreibt diesen Aspekt der zivilgesellschaftlichen Erschließung des Internets.

Neuere Entwicklungen

Heute, über 60 Jahre nach den Verträgen von Rom und im Zuge der europäischen Einigung und der fortschreitenden Globalisierung, treten die Zivilgesellschaften Europas zunehmend in das Licht der politischen Öffentlichkeit. Ging es in der Vergangenheit auf nationaler Ebene hauptsächlich um die Verteilung der Verantwortlichkeiten zwischen Staat und Markt auf der einen und Bürgern und Gesellschaft auf der anderen Seite, so zeichnet sich in den letzten Jahren bei der Auseinandersetzung um die Rolle der Zivilgesellschaft eine Europäisierung und zunehmende Politisierung ab.

Erste Tendenzen für diese Entwicklung gehen in die 1990er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurück, als sich mehr und mehr private Interessenverbände um die europäischen Institutionen herum ansiedelten. So bildete sich ein differenziertes Feld an Verbänden, Think-Tanks und Lobby-Gruppen unterschiedlichster Provenienz heraus, in dem Themen aus der jeweils nationalen und europäischen Sichtweise bearbeitet und in einer sich etablierenden europäischen politischen Öffentlichkeit diskutiert werden. Mit anderen Worten, durch zivilgesellschaftliche Einrichtungen werden nationale Anliegen und Interessen nach "Brüssel" geleitet und europäische Themen in die jeweiligen Mitgliedsländer getragen.

Eine weitere Entwicklung in Hinblick auf eine stärkere Politisierung zeichnete sich um die Wirtschafts- und Finanzkrise 2009-10 ab. Internet-basierte Bewegungen, dezentralisiert und nicht-hierarchisch strukturiert, bildeten sich in relativ kurzer Zeit heraus und vernetzten sich auf europäischer Ebene. Als Beispiel können die Occupy und Indignados Bewegungen aufgeführt werden, die Aktionen über Grenzen hinweg, aber dezentral, koordinierten. Die Protestformen nahmen dabei eine vielschichtige Gestalt an, von klassischen Protestmärschen und der Besetzung öffentlicher Plätze zunehmend hin zu Internet-basierten Aktionen, einschließlich "flash-mobs" und "swarms". Die Bewegung der "Gelben Westen", die seit 2018 vor allem in Frankreich vehement auf das politische System einwirken, stehen in dieser Tradition, wenn auch wesentlich gewaltbereiter.

Potenzielle Gewaltbereitschaft trifft auch auf ein weiteres Feld der Politisierung zu, die sich ab Mitte der 2010er Jahre abzeichnete. Meist rechtspopulistische Bewegungen wie Pegida in Deutschland oder identitäre Gruppierungen in Frankreich, den Niederlanden, Italien oder Österreich sind zwar anti-europäisch im Geiste, aber durchaus zunehmend europäisch in ihrer Vernetzung über nationale Grenzen hinweg. Neben diesen mehr oder weniger offen nationalistisch und rassistisch agierenden Bewegungen treten dezidiert pro-europäische Vereinigungen auf wie Pulse of Europe in Deutschland, den Niederlanden oder Frankreich oder Anti-Brexit Gruppen in Großbritannien.

Eine europäische Zivilgesellschaft?

In gewisser Weise wird in den Zivilgesellschaften Europas die Zukunft des Projekts Europa verhandelt. Zudem trifft die gewachsene Rolle der europäischen Institutionen dabei auf ganz unterschiedliche zivilgesellschaftliche Strukturen, die, wie oben angedeutet, mehr oder weniger entwickelt, mal eher politisch, mal wohlfahrtsorientiert und auch beides sein können. Die Europäische Union tritt als Akteur auf, der auf der transnationalen Ebene den Prozess der europäischen Einigung lenkend vorantreibt bzw. vorantreiben möchte, ihn aber nicht dirigierend vorschreiben kann und in einigen Mitgliedsländern zunehmend auf Widerstand stößt. In den osteuropäischen Staaten wurden im Zuge der Beitrittsverhandlungen wichtige rechtliche Vorgaben gemacht, wie sich Staat und Zivilgesellschaft zueinander verhalten sollten. Dieser Prozess wurde aber nicht weiterführend begleitet, so dass sich unterschiedliche, aber meist fragile Staat-Gesellschaftsmuster etablieren konnten. Die illiberalen Tendenzen in Ungarn oder Polen sind ein Zeichen dieser institutionellen Schwächen, die sich stark gegen Europa richten.

Als Ergebnis dieser komplexen nationalen und transnationalen Entwicklungen kann wohl kaum erwartet werden, dass es als Teil des europäischen Einigungsprozesses neben gemeinsamen Märkten, rechtlichen und politischen Institutionen auch eine Angleichung der jeweiligen Zivilgesellschaften geben wird. Die zivilgesellschaftlichen Traditionen sind zu sehr in nationale Muster eingebettet, die Aspekte von Identität, Religion und Kultur implizieren.

Dies bedeutet aber nicht, dass Europa kein Thema ist oder sein wird. Im Gegenteil: Gerade in der nun zu Ende gehenden Dekade haben sich die europäischen Zivilgesellschaften politisiert und drücken Konflikte aus, die viel mit den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Problemen infolge des europäischen Einigungsprozesses zu tun haben (wie auch mit der Globalisierung allgemein). Denn: Wer gemeinsame Märkte und Institutionen schafft und nationale Grenzen abschafft, wird früher oder später auch die Zivilgesellschaft verändern.

Während die nationalen Zivilgesellschaften wohl weiterhin in ihren etablierten Mustern bleiben und sich eher langsam wandeln, wenn auch politischer geworden, zeigt sich parallel dazu die Herausbildung einer übergeordneten und fast paneuropäischen Zivilgesellschaft. Diese ist bereits vorhanden und wird verstärkt alte und neu entstehende Interessen auf der EU-Ebene verhandeln und weiterhin institutionalisierend wirken. "Brüssel" ist bereits heute zu dem geografischen Zentrum dieser paneuropäisch organisierten und professionellen Zivilgesellschaft geworden.

Diese europäische Zivilgesellschaft entwickelt sich aber nicht monolithisch, sondern ist vielschichtig mit nationalen und regionalen Zentren vernetzt. Somit bedeutet Zivilgesellschaft in Europa weniger eine Aufreihung nationaler Muster als zunehmend ein komplexes Miteinander und Gegeneinander auf der regionalen, nationalen und europäischen Ebene. Dies kann Europa gut anstehen. Dahrendorf (1995) wies schon vor Jahrzehnten darauf hin, dass liberal verfasste Gesellschaften mit einer agilen Zivilgesellschaft zwar konfliktanfällig seien, sie aber auch Konflikte besser beherrschen und daher widerstandsfähiger und innovativer als autokratische oder illiberale Systeme sind. Wenn dem so ist, könnte sich die konflikthafte Vermischung lokaler, nationaler und europäischer Zivilgesellschaften gerade auch in einem politisierten Kontext positiv auswirken.

Literatur

Dahrendorf, Ralf (1995), Economic Opportunity, Civil Society and Political Liberty, Externer Link: http://www.unrisd.org/80256B3C005BCCF9/(httpAuxPages)/AF2130DF646281DD80256B67005B66F9/$file/DP58.pdf UNRISD Discussion Paper 58

Gellner, Ernest (1995): Bedingungen der Freiheit: die Zivilgesellschaft und ihre Rivalen. Stuttgart.

Habermas, Jürgen (1962): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied.

Kaldor, Mary und Sabine Selchow, Hrsg. (2015): Subterranean Politics in Europe . Palgrave Macmillan.

Keane, J. (1998). Civil society: old images, new visions. Stanford University Press.

Kocka, Jürgen (2003): Zivilgesellschaft in historischer Perspektive. In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen. Jg. 16. Heft 2. S. 29-37.

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Helmut K. Anheier (Ph.D. Yale University) ist Professor für Soziologie an der Hertie School of Governance (Berlin), deren Präsident er von 2009 bis 2018 war, und Professor für Soziologie am Max-Weber-Institut der Universität Heidelberg, wo er als wissenschaftlicher Direktor des Centrums für soziale Investitionen und Innovationen fungiert.