Das Wahlrecht zum Europäischen Parlament (EP) ist größtenteils national geregelt und damit häufig unterschiedlich in den einzelnen Ländern. Nur einige Eckwerte wurden in den bisherigen Gemeinschaftsverträgen festgeschrieben, vor allem die Zahl der Mitglieder des EP und ihre Verteilung auf die Mitgliedsländer. Für die Wahlen von 2019 gilt der Lissaboner Vertrag von 2007. Er legte die Zahl der Mitglieder des EP auf 751, die Höchstzahl der Abgeordneten eines Landes auf 96 und die Mindestvertretung eines Landes auf sechs Abgeordnete fest. Im Rahmen dieser Vorgaben erfolgt die Verteilung der Sitze auf die einzelnen EU-Länder nach der sog. degressiven Proportionalität: Nach Bevölkerung größere Länder erhalten absolut mehr, aber proportional im Verhältnis zur Bevölkerung weniger Sitze als kleinere Länder (siehe Tabelle). Die degressive Proportionalität ist mit dem Nachteil verbunden, dass sie ein gleiches Wahlrecht für alle EU-Bürger ausschließt, was vielfach als undemokratisch kritisiert wird. Sie ermöglicht es aber, die Mitgliederzahl des Parlaments in Grenzen zu halten, ohne die Zahl der Abgeordneten kleiner Länder derart zu dezimieren, dass deren Vertretung nicht mehr zählt.
Mehr heterogen als homogen
Im Wahlrecht zum EP lässt sich unterscheiden, was einheitlich und was national verschieden gestaltet ist. Große Einheitlichkeit herrscht im engeren Wahlrecht bei der aktiven Wahlberechtigung. Sie setzt mit der Ausnahme von Österreich (16 Jahre) und Griechenland (17) Jahre) überall mit 18 Jahren ein. Einheitlich ist seit dem Amsterdamer Vertrag von 1997 auch, dass alle Unionsbürger in allen EU-Ländern, in denen sie wohnhaft sind, das Wahlrecht besitzen. Beim passiven Wahlrecht gibt es Unterschiede in der Altersbedingung. Wie in anderen 14 Ländern kann sich in Deutschland jeder Wahlberechtigte bewerben, in zehn Ländern ist ein Alter von 21, in einem von 23 und in zwei von 25 Jahren vorgeschrieben. Wahlpflicht besteht in vier Ländern (Belgien Griechenland, Luxemburg und Zypern).
Beim Wahlsystem ist vor allem das Repräsentationsprinzip einheitlich. Das EP wird nach Verhältniswahl gewählt. Die politische Vertretung der Einzelstaaten im EP soll in etwa die parteipolitischen Präferenzen der Wählerschaft widerspiegeln. Einheitlich ist des Weiteren der Mehrpersonenwahlkreis mit unterschiedlich vielen Abgeordneten. Im Grunde wird somit das EP nach Verhältniswahl in Mehrpersonenwahlkreisen unterschiedlicher Größe gewählt.
Jenseits der genannten Merkmale ist vieles nach Ländern unterschiedlich, weshalb das Wahlsystem zum EP auch als polymorphe oder heterogene Verhältniswahl bezeichnet wird. So ist unterschiedlich, ob das nationale Wahlgebiet in mehrere Mehrpersonenwahlkreise aufgeteilt ist oder nicht, wie die Listen gestaltet sind, ob gesetzliche Sperrklauseln bestehen und welches Verrechnungsverfahren angewandt wird.
Schauen wir hier genauer auf die technischen Details, von denen natürlich politische Wirkungen ausgehen. Sie beeinflussen die Chancen der Parteien, Mandate zu erringen, insbesondere die Chancen von kleinen Parteien. Auch können sie den Bürgerinnen und Bürgern eine größere Auswahlmöglichkeit einräumen, etwa indem er nicht nur unter Parteien, sondern auch unter Personen innerhalb seiner Parteipräferenz auswählen kann.
Wahlkreise
In 22 EU-Ländern bildet das ganze Land einen einzigen Wahlkreis. In sechs Ländern ist das Wahlgebiet in Wahlkreise unterteilt. Kleine Abweichungen kommen hinzu. So können in Deutschland (in Bayern) und in Finnland einzelne Parteien auf subnationaler Ebene, das heißt in Teilen des Landes, zur Wahl antreten. Italien ist zwar in fünf Wahlkreise untergliedert, aber nur für Zwecke der Stimmabgabe. Die Mandate werden auch hier den Parteien auf nationaler Ebene nach Proporz zugeteilt. Ähnliches gilt für Polen (13 Wahlkreise), wo die national den Parteien nach Proporz zugewiesenen Mandate anschließend auf die Wahlkreise verteilt werden.
So sind letztlich nur Belgien (4 Wahlkreise), Frankreich (8), das Vereinige Königreich (12) und Irland (4) in Mehrpersonenwahlkreise eingeteilt, in denen tatsächlich die Mandatsverteilung stattfindet. Besonders in Belgien (mit Flandern, Wallonien, der deutschsprachigen Region und Brüssel), aber auch im Vereinigten Königreich (mit neun Wahlkreisen für England und je einem für Schottland, Wales und Nordirland) wurde bei der Wahlkreiseinteilung die regional-kulturelle Untergliederung des Landes berücksichtigt.
Wahlbewerbung und Stimmgebung
Bei der Wahlbewerbung spielt zunehmend eine Rolle, ob und wie für eine Gleichstellung der Frauen in der politischen Repräsentation jenseits aller positiven Bekundungen in den Wahlsystemen Sorge getragen wird. In acht Ländern (Belgien, Frankreich, Griechenland, Irland, Polen, Portugal, Slowenien, Spanien) ist inzwischen eine Genderquote gesetzlich vorgeschrieben, die in Höhe und die Parität sichernden Bestimmungen jeweils unterschiedlich ausfällt. In 15 Ländern, darunter Deutschland, sind verschiedene Parteien in unterschiedlichen Quotenregelungen freiwillige Verpflichtungen eingegangen, den Anteil der Frauen in den Parlamenten aller Ebenen zu heben.
Bei Wahlbewerbung und Stimmgebungsverfahren fällt für die EP-Wahlen die häufige Verwendung der lose gebundenen Liste auf, auch Präferenzstimmgebung genannt, auf. Wählerinnen und Wähler können in zwölf Ländern für einen Kandidaten oder eine Kandidatin stimmen und mit ihrer Präferenzstimme deren Reihenfolge auf den Parteilisten verändern. In zwei Ländern (Irland und Luxemburg) und einer Region (Nordirland) sind die Listen sogar frei. In Luxemburg haben die Wählerinnen und Wähler so viele Stimmen, wie Mandate zu vergeben sind, und sie können panaschieren, d.h. ihre Stimmen auf Kandidaten verschiedener Listen verteilen. In Irland, Malta und Nordirland wird im System der übertragbaren Einzelstimmgebung (single transferable vote) von den Wählerinnen und Wählern auf dem Stimmzettel per Nummerierung angegeben, in welcher Reihenfolge sie die Bewerberinnen und Bewerber gewählt sehen möchten. In 13 Ländern, u.a. Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Polen und Spanien, sind die Listen starr. Die Wählerinnen und Wähler sind an die Vorgaben der Parteien gebunden. Sie kreuzen eine Parteiliste an, können die Reihenfolge auf ihr aber nicht ändern.
Sitzzuteilungsverfahren
Die größte Vielfalt herrscht in der polymorphen Verhältniswahl zum EP bei den Verrechnungsverfahren. Sie dienen dazu, Stimmen in Mandate zu übertragen. Ihre Bedeutung liegt darin, dass sie kleinere Parteien proportional benachteiligen oder gleichstellen können. In den meisten Ländern (15) werden das Höchstzahlverfahren d´Hondt oder Varianten (z.B. Hare plus d´Hondt) angewandt. Beim d'Hondtschen Verfahren, das kleinere Parteien eher benachteiligt, werden durch Division der auf die Parteien entfallenen Stimmen durch die Zahlreihe 1, 2, 3, etc. Quotienten gebildet, nach deren Höhe die Mandate vergeben werden. Die Methoden Sainte-Laguë und modifizierter Sainte-Laguë sind ebenfalls Höchstzahlverfahren, allerdings mit unterschiedlichen Divisorenreihen (1, 3, 5 etc. bzw. 1.4, 3, 5 etc.). Sie wirken proportional ausgewogener und werden in drei Ländern angewandt. Beim Verfahre Hare-Niemeyer errechnet sich der Quotient folgendermaßen: Zahl der Stimmen für eine Partei multipliziert mit der Zahl der zu vergebenden Mandate, dividiert durch die Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen. In seiner Wirkung proportionaler als d'Hondt, wird es ebenfalls in drei Ländern angewandt.
Nur wenige Länder verwenden Wahlzahlverfahren (Hare, Hare-Niemeyer, Droop; siehe Tabelle), bei denen durch Division der insgesamt abgegebenen Stimmen durch die Zahl der zur Verfügung stehenden Mandate eine Wahlzahl entsteht. Sie bildet den Divisor, der zur Berechnung der den Parteien zustehenden Mandate auf Grund der auf sie abgegebenen Stimmen dient. Die einfache Wahlzahl (Verfahren Hare) kann man um eins erhöhen (dann handelt es sich um das Verfahren Droop) und die damit erfolgende Division mit eins addieren (dann heißt das Verfahren Droop/STV). Wahlzahlverfahren wirken in der Regel proportionaler als das Verfahren d’Hondt. Es bleiben aber Restmandate übrig. Um sie zu vergeben wird meistens die Methode des größten Überrests angewandt. Von der Wahl des Verfahrens zur Vergabe von Restmandaten hängt ebenfalls die proportionale Auswirkung eines Wahlzahlverfahrens ab.
Deutschland hat bisher drei Verrechnungsverfahren zur Wahl seiner EU-Abgeordneten angewandt: zunächst die Methode d’Hondt, also das zur Wahl des EP meist genutzte Verfahren, dann das Hare/Niemeyer-Verfahren, seit 2008 das Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren. Mit den Reformen wurde versucht, den bestmöglichen Proporz herzustellen, freilich ohne Rücksicht auf die in den Gemeinschaftsverträgen angestrebte Vereinheitlichung des EP-Wahlsystems. Sainte-Laguë/Schepers gilt als exakt proportionales Verfahren. Es lässt sich am einfachsten als Höchstzahlverfahren mit der Divisorenreihe 1,3,5, etc. beschreiben.
Sperrklauseln
Gesetzliche Sperrklauseln bestehen in 14 Ländern (in 13 von ihnen national, in Frankreich in den Wahlkreisen), deren Höhe mehrheitlich fünf Prozent, in Österreich, Italien und Schweden vier, in Griechenland drei und in Zypern 1,8 Prozent beträgt. In Deutschland galt bis zu den Europawahlen von 2009 eine Fünfprozentklausel. Sie wurde im November 2011 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt. Das gleiche Schicksal erlitt im Februar 2014 die Dreiprozentklausel, die der Bundestag zwischenzeitlich beschlossen hatte. Die Begründung lautete jeweils, dass der Gleichheitsgrundsatz im Wahlrecht nicht nur die Zählwertgleichheit, sondern auch die Erfolgswertgleichheit der Stimmen erfordere, das heißt, dass jede Stimme die gleiche Chance haben müsse, die Zusammensetzung des Parlaments zu beeinflussen. Die Erfolgswertgleichheit könne nur durch funktionale Erfordernisse eingeschränkt werden, im parlamentarischen System durch das Erfordernis der Mehrheitsbildung und einer stabilen Regierung. Aus dem EP gehe jedoch keine Regierung hervor, weshalb eine Einschränkung des Proporzes verfassungswidrig sei.
Das Bundesverfassungsgericht verweist auch darauf, dass es in einigen anderen Mitgliedsländern ebenfalls keine Sperrklausel gebe. Es verkennt dabei, dass aufgrund der begrenzten Zahl der den Ländern zustehenden Mandate faktisch überall natürliche Sperrklauseln bestehen. Je kleiner die Wahlkreise, desto höher die natürliche Sperrklausel. Diese natürliche Hürde liegt in den Ländern, die keine gesetzliche Sperrklausel kennen, in 14 Fällen über fünf Prozent und in zwei Fällen um die drei Prozent. In Wahrheit ging Deutschland mit der Abschaffung der gesetzlichen Sperrklausel einen Sonderweg in Europa. Mit der Einführung einer Sperrklausel von 2 bis 5%, die der Europäische Rat Juli 2018 für die Wahlen ab 2024 beschloss, dürfte wieder ein Mehr an Einheitlichkeit erreicht werden.
Einigkeit in der Verhältniswahl
Trotz aller Variationsvielfalt in den technischen Details der Wahlsysteme lässt sich feststellen, dass die Verhältniswahl in den einzelnen Ländern so gestaltet ist, dass das Verhältnis von Stimmen und Mandaten recht proportional ist, auch wenn Länder mit eher kleinen und mittelgroßen Wahlkreisen (etwa Luxemburg und Malta) im Proporzgrad der Wahlergebnisse nicht an Länder mit großen Wahlkreisen (Deutschland und Spanien) heranreichen. Aber der unterschiedliche Grad an Proportionalität von Stimmen und Mandaten lässt ohnehin keinen Schluss auf die Struktur der Parteiensysteme zu. Nach reinem Proporz wird 2019 nur in Deutschland gewählt. In allen anderen Ländern wirkt entweder die Wahlkreisgröße oder die gesetzliche Sperrklausel einer exakten Entsprechung von Stimmen und Mandaten entgegen.
Die polymorphe Verhältniswahl zum Europäischen Parlament
Land | Zahl der Mandate (a) | Wahlkreise | Form der Liste | Verrechnungsverfahren | Sperrklausel | |
---|---|---|---|---|---|---|
Belgien | 21 | 21 | 4 | lose geb. Liste | d'Hondt | keine |
Bulgarien | 17 | 17 | nat. WK | starre Liste | Hare/Niemeyer | keine |
Dänemark | 14 | 13 | nat. WK | lose geb. Liste | d'Hondt | keine |
Deutschland | 96 | 96 | nat. WK | starre Länder- oder Bundesliste | Sainte-Laguë/Schepers | keine |
Estland | 7 | 6 | nat. WK | starre Liste | d'Hondt | keine |
Finnland | 14 | 13 | nat. WK | lose geb. Liste | d'Hondt | keine |
Frankreich | 79 | 74 | 8 | starre Liste | Hare/d'Hondt | 5% (im WK) |
Griechenland | 21 | 21 | nat. WK | starre Liste | Droop/größter Überrest | 3% |
Irland | 13 | 11 | 4 | freie Liste/STV | Droop/STV | keine |
Italien | 76 | 73 | 5/nat. WK | lose geb. Liste | Hare/größter Überrest | 4% |
Kroatien | 12 | 11 | nat. WK | lose geb. Liste | d'Hondt | 5% |
Lettland | 8 | 8 | nat. WK | lose geb. Liste | Sainte-Laguë | 5% |
Litauen | 11 | 11 | nat. WK | lose geb. Liste | Hare-Niemeyer | 5% |
Luxemburg | 6 | 6 | nat. WK | freie Liste | Droop | keine |
Malta | 6 | 6 | nat. WK | freie Liste/STV | Droop/STV | keine |
Niederlande | 29 | 26 | nat. WK | lose geb. Liste | Hare/d'Hondt | keine |
Österreich | 19 | 18 | nat. WK | lose geb. Liste | d'Hondt | 4% |
Polen | 52 | 51 | 13/nat. WK | starre Liste | d'Hondt (b) | 5% |
Portugal | 21 | 21 | nat. WK | starre Liste | d'Hondt | keine |
Rumänien | 33 | 32 | nat. WK | starre Liste | d'Hondt | 5% |
Schweden | 21 | 20 | nat. WK | lose geb. Liste | mod. St.-Laguë | 4% |
Slowakei | 14 | 13 | nat. WK | lose geb. Liste | Droop | 5% |
Slowenien | 8 | 8 | nat. WK | lose geb. Liste | d'Hondt | 4% |
Spanien | 59 | 54 | nat. WK | starre Liste | d'Hondt | keine |
Tschech. Republik | 21 | 21 | nat. WK | starre Liste | d'Hondt | 5% |
Ungarn | 21 | 21 | nat. WK | starre Liste | d'Hondt | 5% |
Vereinigtes Königreich | - | 73 | 12 (c) | starre Liste | d'Hondt | keine |
Zypern | 6 | 6 | nat. WK | starre Liste | Droop/größter Überrest | keine |
Quelle: Nohlen 2014: 457, ergänzt
Literatur
Wilhelm Lehmann: The European Elections: EU Legislation, National Provisions, and Civic Participation, Policy Department, European Parliament, Brüssel 2009.
Dieter Nohlen: Wahlrecht und Parteiensystem, 7. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Opladen & Toronto , 2014 (UTB 1527)