Krisen als europäische Herausforderung Hoffnungsvoll hatte sie begonnen, die neue Legislaturperiode nach den Externer Link: Wahlen zum Europäischen Parlament 2019. Ihr Beginn war von Aufbruchstimmung geprägt. Eine neue EU-Kommission war gewählt, erstmals mit einer Frau an der Spitze (Ursula von der Leyen). Nach vorn wollte man blicken, nachdem die letzten Jahre in der EU vom Externer Link: Brexit, vergifteten Debatten darüber und den dadurch verschleppten Haushaltsverhandlungen geprägt waren.
Doch gleich nachdem die EU-Kommission den Startschuss für einen beispiellosen grünen Transformationsprozess gegeben hatte, wurde die ganze Welt durch einen Schock auf den Kopf gestellt. Am 30. Januar 2020 rief die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine internationale Gesundheitsnotlage aus
Es schien, als würden sich Gesellschaften und Wirtschaften nach der Corona-Krise wieder berappeln, da folgte der nächste Schock: Am Externer Link: 24. Februar 2022 griff Russland die Ukraine an und setzte seine Externer Link: 2014 auf der Krim begonnene Hegemonialpolitik mit gewaltsamen Mitteln fort. Dieser Krieg hat Schluss gemach mit lieb gewonnen Gewissheiten, wie, dass Europa ein Friedenskontinent oder die globale Verflechtung von Volkswirtschaften der beste Schutz gegen Krieg sei. Auch die hohe Zahl an Kriegsgeflüchteten aus der Ukraine verschärfte die ohnehin schon kontrovers geführte Debatte über Migration und die Aufnahme sowie Verteilung von Schutzsuchenden in der EU. Insbesondere mit der Überarbeitung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) sowie der zunehmenden Externalisierung der Asylpolitik durch Abkommen mit Drittstaaten hat die EU zuletzt ebenso tiefgreifende wie umstrittene Entscheidungen getroffen.
Die Bewältigung beider Schocks muss die EU im Einklang mit zwei großen, strukturellen Reformen meistern: Die sogenannte Externer Link: grüne Transformation zur Eindämmung der Folgen des Klimawandels und die innere Reform der EU, die schon lange von verschiedenen Akteuren - wie dem Europäischen Parlament und zivilgesellschaftlichen Organisationen - gefordert wird.
Die grüne Transformation: Klimaneutralität und Energiesicherheit, aber sozial gerecht
Die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen begann ihre Amtszeit mit einem Paukenschlag, dem europäischen Externer Link: Green Deal. „Deal“, das bedeutet Handel oder Geschäft und als solchen kommuniziert die EU seitdem die Anstrengungen, die notwendig sind, um das Fortschreiten des Klimawandels und seine Folgen möglichst weit einzudämmen. Ziel des europäischen Green Deals ist es, dass die Externer Link: EU bis 2050 treibhausgasneutral ist. Erreicht werden kann dies nur, wenn alle betroffenen Politikbereiche - Umwelt, Energie, Verkehr, Industrie, Landwirtschaft und Finanzwesen – aufeinander abgestimmt werden. Mit dem europäischen Green Deal legte die EU-Kommission umfangreiche Maßnahmenpakete vor, die systematisch in jedem dieser Bereiche die grüne Transformation angehen. Das zentrale Paket heißt Fit für 55 und übersetzt die Klimaziele in Rechtsakte. Es ist das größte und umfassendste Paket, welches die Kommission im Bereich Klima-Governance jemals vorgeschlagen hat.
Wenn die Mitgliedstaaten die vorgesehenen Maßnahmen vollständig umsetzen, hat die EU gute Chancen, ihr Ziel der Treibhausgasneutralität zu erreichen. Der Green Deal wurde für die EU unüblich innerhalb von nur 15 Monaten nach Vorlage des Beschlusses von EU-Parlament und Rat der EU angenommen. Dies gelang der Kommission, weil sie den Green Deal in ein ganzheitliches Konzept einbettete und die Argumentation für eine notwendige grüne Transformation von Beginn an mit zentralen europäischen Grundprinzipien und Werten wie Solidarität und Inklusion verknüpfte. Sie schnürte den europäischen Green Deal als ein Gesamtpaket, das ökologische mit sozialen und wirtschaftlichen Vorteilen vereinte
Europäische Klimaziele unter Druck
Die EU ist auf einem guten Weg, könnte man meinen. Doch der Schein trügt. Wenn die Mitgliedstaaten in dem langsamen Tempo und in der geringen Intensität den europäischen Green Deal umsetzen wie bisher, wird die EU ihr Ziel, bis 2050 treibhausgasneutral zu sein, nicht erreichen. Um die Dramatik der Situation zu illustrieren, zieht der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Ottmar Edenhofer, die Badewanne als Vergleich heran: „Die Atmosphäre ist in dieser Metapher einer Badewanne vergleichbar. In die Badewanne wird kontinuierlich Wasser eingelassen, das jedoch nicht wieder abfließt. Soll ein Überlaufen verhindert werden, muss der Zufluss irgendwann im Saldo auf null gesenkt werden.“
Die Zahlen sprechen für sich. In ihrer jüngsten Analyse zum Umsetzungsstand in den Mitgliedstaaten kommt die Europäische Kommission zu einem ernüchternden Ergebnis : Zwar sänken die Netto-Treibhausgas-Emissionen, doch reiche dies nicht aus. Das Tempo der Emissionsverringerung müsse beschleunigt und die in den letzten zehn Jahren erreichte durchschnittliche jährliche Verringerung fast verdreifacht werden. Insbesondere die Gebäude- und Verkehrssektoren würden nicht genügend CO2 einsparen. Den „Mangel wesentlicher Fortschritte in den letzten Jahren“ in der Landwirtschaft bezeichnet die Kommission gar als „besorgniserregend“.
Wie konnte es dazu kommen? Dass die durch den europäischen Green Deal für die EU verbindlich angestoßene grüne Transformation schmerzen würde, war klar. Doch mit dem russischen Angriffskrieg wurden die Umsetzungsbedingungen weiter erschwert, denn plötzlich wurde durch die Kappung russischer Gaslieferungen der gesamte Externer Link: Energiemarkt der EU von heute auf morgen auf den Kopf gestellt. Mittelfristige Übergangsszenarien, die bei der Umstellung von Kohle auf erneuerbare Energien auf Gas als Übergangsenergieträger setzten, mussten plötzlich neu gedacht werden. Hinzu kamen Zweifel an der Sicherheit der Energieversorgung insbesondere in den Wintermonaten: So stimmte in Deutschland der Bundestag dafür, den ursprünglich für Ende 2022 geplanten Atomausstieg auszusetzen und die Laufzeiten der letzten drei Atomkraftwerke bis April 2023 zu verlängern. Andere europäische Länder setzen nach wie vor auf die zivile Nutzung von Atomenergie, darunter die 14 Mitglieder der 2023 gegründeten „Nuklear-Allianz“. Diese verfolgt das Ziel, Europa mithilfe von Atomenergie unabhängiger von fossilen Brennstoffen zu machen. Insbesondere Umweltverbände kritisieren jedoch die EU-weite Einstufung von Atomenergie als klimafreundlich und verweisen u.a. auf die Umweltschäden durch radioaktiven Atommüll.
In den nächsten Jahren muss die EU, und hier sind vor allen Dingen ihre Mitgliedstaaten gemeint, ins Tun kommen. Die Strom-, Industrie-, Verkehrs- und Gebäudesektoren müssen dringend transformiert werden. Dazu gehören beispielsweise eine nachhaltige Aufforstung, der Ausbau von Bioenergie sowie die Förderung der Kreislaufwirtschaft. Gleichzeitig müssen die Energienetze EU-weit ausgebaut werden, denn es bringt wenig, viel nachhaltigen Strom zu produzieren, wenn dieser nicht über leistungsfähige Netze zu den Nutzer/-innen transportiert werden kann. Doch CO2-Einsparungen, die mit diesen Maßnahmen erzielt werden sollen, reichen allein nicht aus. Es wird notwendig sein, der Atmosphäre zusätzlich aktiv CO2 zu entziehen - debattiert wird in diesem Zusammenhang beispielsweise die Einlagerung im geologischen Untergrund
Nachdenken über die Zukunft Europas
Zum zweiten Mal kam Aufbruchstimmung in der Legislaturperiode 2019-2024 mit der Externer Link: Konferenz über die Zukunft Europas auf, die auf eine Anregung des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron zurückgeht
„Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg war Europa so wichtig. Und doch war Europa noch nie in so großer Gefahr.“, warnte Macron in seinem politischen Vorstoß für die Konferenz. Er traf damit einen Nerv. Der Brexit, und mit ihm die starke Ablehnung der EU durch über 17 Mio. Brit/-innen
Die Notwendigkeit, die EU, ihre Daseinsberechtigung und ihre Funktionsweise neu zu denken, fand einen breiten Konsens. Auch das Europäische Parlament hatte den Rat zuvor regelmäßig zu Reformen aufgefordert.
Ein Jahr lang, von April 2021 bis Mai 2022, diskutierten über 700.000 Bürger/-innen aus der ganzen EU in Foren und Veranstaltungen über ihre Sorgen und Wünsche an die Zukunft der EU. Zusätzlich gab es die Möglichkeit, Ideen und Anregungen auf einer mehrsprachigen Online-Plattform einzustellen. Über 18.000 Ideen wurden so zusammengetragen, die - gebündelt zu 49 Vorschlägen unter anderem zu den Themen Klimawandel, Migration, soziale Gerechtigkeit, Stärkung der Wirtschaft, Bildung sowie digitaler Wandel - dem Europäischen Parlament, dem Rat der EU und der Europäischen Kommission zur weiteren Umsetzung übergeben wurden.
Die Konferenz zur Zukunft Europas hat viele Bürger/-innen angeregt, sich mit der EU, ihrer Rolle und ihrer Zukunft auseinanderzusetzen. Die Verfahren waren demokratisch strukturiert und ermöglichtem tatsächlich jeder und jedem, sich einzubringen. Doch was bleibt von den vielen Gedanken, die sich die Bürger/-innen gemacht haben? Der Rat veröffentlicht auf einer Website regelmäßig, welche der Vorschläge adressiert wurden. Dieser Umsetzungsprozess oder „Follow-Up“, wie es in der EU genannt wird, ist im Vergleich zur fulminanten Ankündigung der Konferenz über die Zukunft Europas jedoch sehr ernüchternd. Wo sind die großen Reformvorschläge des Rates? Welche Reaktionen kommen aus den Mitgliedstaaten? Mit diesen und anderen zentralen Fragen werden sich das neue EU-Parlament und die neue EU-Kommission nach den Wahlen auseinandersetzen müssen.
Ausblick auf 2024-2029
In ihrer Rede zur Lage der Union 2022 adressierte Kommissionspräsidentin von der Leyen die Konferenz zur Zukunft Europas und verlautbarte, dass "die Zeit für einen Europäischen Konvent gekommen ist". Darunter verstand sie einen europaweit ausgetragenen Diskussionsprozess, an dessen Ende eine grundlegende Reform der EU und ihrer Verträge steht. Die Forderung nach Reformen hatten EU-Parlament und zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen in der Vergangenheit bereits eindringlich an Entscheidungsträger gerichtet.
Eine zentrale Reformforderung des Europäischen Parlaments betrifft die Abschaffung des Externer Link: Einstimmigkeitsprinzips im Rat. Dies gilt für Angelegenheiten, die von den Mitgliedsstaaten als sensibel eingestuft werden. In einer Gemeinschaft mit 27 Mitgliedstaaten kann die Möglichkeit zur Blockade einzelner Mitgliedstaaten zu einem Stillstand führen. So fordert das EU-Parlament regelmäßig, die Bereiche, in denen einstimmig im Rat entschieden wird, zu reduzieren, insbesondere bei allen außenpolitischen Entscheidungen (ausgenommen militärische Operationen), bei Antidiskriminierungsmaßnahmen und in der Sozialpolitik. Hier soll das Mehrheitsprinzip „so bald wie möglich in der nächsten Legislaturperiode“ genutzt werden.
Eine Reform der EU bedingt auch die Frage nach ihrer Größe und zukünftigen Mitgliedern. Zehn Staaten möchten gerne der EU beitreten: Albanien, Bosnien und Herzegowina, Georgien, Moldau, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien, die Türkei, Kosovo und jüngst auch die Ukraine. Mit Ausnahme Kosovos haben alle Genannten einen sogenannten Kandidatenstatus, d.h. mit ihnen führt die EU Beitrittsverhandlungen. Dies bedeutet, dass die Kandidatenstaaten ihre Rechts- und Politiksysteme teils umfassend reformieren und an die EU-Regelungen (man spricht auch vom gemeinschaftlichen Besitzstand) anpassen müssen. Die Reformergebnisse werden regemäßig von der EU-Kommission bewertet. Welcher Staat wann der EU beitritt, ist noch nicht klar, doch es ist gut möglich, dass einige von ihnen innerhalb der nächsten Jahre bereit sind. Ein weiteres Anwachsen der aktuell 27-Mitglieder starken EU würde zweifellos die Konsensfindung erschweren, insbesondere wenn die Abstimmung mittels qualifizierter Mehrheit im Rat nicht ausgedehnt wird. Darüber hinaus hätte der Beitritt auch Auswirkungen auf den Haushalt der EU. Keiner der Beitrittskandidaten ist wirtschaftlich so stark, dass er ein „Nettozahler“ wird. Stattdessen wird sich der Verteilungskampf um das Budget verschärfen.
Der Haushalt der EU wird unabhängig von der Legislaturperiode des Parlaments für einen siebenjährigen Zeitraum festgelegt. Die Verhandlungen für den nächsten Haushaltszeitraum („Mehrjähriger Finanzrahmen“) ab 2028 sind bereits im Gange und werden erwartungsgemäß mit dem neuen Parlament und der neuen Kommission ab Ende 2024 an Fahrt aufnehmen. Budgetverhandlungen sind immer herausfordernd, doch das neue Budget für den Zeitraum ab 2028 stellt die EU-Staaten vor ein großes Dilemma, denn die Forderungen werden steigen, aber das Budget wird vermutlich kleiner. Mit dem Wegfall des Vereinigten Königreichs hat die EU ihren zweitgrößten Nettozahler verloren. Hinzu kommen die immensen Belastungen durch die Bewältigung der Corona-Krise 2019-2021 und die durch den russischen Angriffskrieg ausgelöste Energiekrise. Erstmals in ihrer Geschichte hat die EU Kredite aufgenommen. Dieser Vorschlag geht zurück auf Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Macron
Und dann ist da noch die große Baustelle der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP), die entscheidenden Anteil daran hat, wie sich die EU in Zukunft entwickeln wird. Immer schwerer fällt es der EU und ihren Mitgliedern, mit einer Stimme zu sprechen und eine gemeinsame Linie mit Nachdruck umzusetzen. Die Schwächen der GASP, sowohl institutioneller als auch machtpolitischer und finanzieller Art, hat der russische Angriffskrieg offen zur Schau gebracht. Neben dem unsäglichen Leid, den dieser Krieg über die Ukraine und alle Betroffenen bringt, stellt er die EU vor viele Belastungsproben: Wie sollen die EU-Staaten ihre Energiepolitik nach der Reduzierung der russischen Gas-Importe gestalten? Wie steht es um zukünftige Waffenlieferungen an die Ukraine? Soll die Ukraine in die EU aufgenommen werden? Dies sind nur einige der zentralen Fragen, denen die EU sich stellt und die ihre Grundfesten und Werte ins Wanken bringen könnten. Der innere Zusammenhalt der EU wird zudem durch Cyberattacken, Fake News, oder auch reale Ereignisse, mit denen die EU-Staaten und Organe gegeneinander ausgespielt werden, regelmäßig auf den Prüfstand gestellt. Sich nicht beirren lassen und geschlossen Haltung zeigen, sei es in der grünen Transformation oder auf der internationalen Bühne, dies wird sicher die größte Herausforderung der EU in den nächsten Jahren sein.