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Europa vor der Wahl: Kontroverse Debatten, vielfältige Stimmen

Ulrike Schuler

/ 8 Minuten zu lesen

Bei dieser Wahl zum EU-Parlament in Zeiten von Kriegen, Klimawandel, großen sozial- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen und aufsteigendem Rechtspopulismus steht einiges auf dem Spiel. Wie spiegelt sich das in der Presse wider?

26.02.2024: Eine Projektion der ukrainischen Flagge an der Fassade des Gebäudes der EU-Kommission in Brüssel. (© picture-alliance, abaca)

Kriege und Krisen könnten die EU-Bürger im Juni verstärkt an die Wahlurnen treiben: Laut der Externer Link: Frühjahrs-Eurobarometer-Umfrage meinen 81 Prozent der Bürger, dass Wählen angesichts der aktuellen internationalen Lage noch wichtiger geworden sei. 60 Prozent interessieren sich für die EU-Parlamentswahl, das sind 11 Prozentpunkte mehr als zum gleichen Zeitpunkt vor der letzten Wahl im Mai 2019. Sogar in Kroatien, das bei der Externer Link: Wahlbeteiligung 2019 mit knapp 30 Prozent im Schlussfeld liegt, ist zumindest das Interesse für die Wahl um 24 Prozentpunkte auf 61 Prozent angestiegen. Auch in Tschechien, Litauen und Finnland wuchs die Aufmerksamkeit laut der Umfrage auffallend stark um rund 20 Prozentpunkte. Die tschechische Tageszeitung Externer Link: Lidové noviny hinterfragt diesen Trend: „Umfragen sagen zwar, dass auch in Tschechien mehr Menschen zur EU-Wahl gehen werden. Allerdings wird deren Zahl noch immer unter dem Unionsdurchschnitt liegen. Ein Drittel der tschechischen Wähler glaubt, dass die EU schwächelt. … Kurz gesagt, die Tschechen vertrauen der Union nicht.“ Auch die polnische Zeitung Externer Link: Polityka geht nach dem Externer Link: Machtwechsel in Warschau von einem eher mäßigen Interesse an der Europawahl aus: „Jetzt haben wir eine neue Regierung und neue Lokalverwaltungen und die Polen sehen im Großen und Ganzen nicht, was sonst noch bei der Europawahl auf dem Spiel stehen könnte.“

Der ehemalige Journalist und Europaabgeordnete Aurelio Juri richtet sich in Externer Link: Dnevnik besorgt insbesondere an jüngere Wähler: „Die Europawahl, die im Juni stattfinden wird, ist angesichts der bestehenden Kriege und der Gefahr, dass einer von ihnen zu einem nuklearen und globalen Krieg wird, die bisher wichtigste. Es geht um eure Zukunft, liebe junge Menschen.” Die spanische Tageszeitung Externer Link: El País sieht eine Schicksalswahl, bei der Überleben oder Zusammenbruch der EU auf dem Spiel stehe: „Die Wahl fällt mit einer derart entzündlichen internen und geostrategischen Lage zusammen, dass die EU wohl vor der folgenreichsten Wahl seit 1979 steht. ... Für Europa steht alles auf dem Spiel. … Die 360 Millionen Bürger haben die Wahl zwischen einem von ultranationalistischen Instinkten beherrschten, gespaltenen und verletzlichen Europa oder einem Europa, das den Werten der Integration, des gemeinsamen Wohlstands und der Achtung der Menschenrechte treu bleibt.“

Eine Abstimmung über nationale Regierungspolitik?

Gleichzeitig beobachten europäische Kommentatoren, dass für manch einen Wähler eher nationale Themen im Vordergrund stehen. Externer Link: Hospodářské noviny aus Prag meint, die Tschechen hätten noch immer keine Beziehung zur EU: „Kurz gesagt, sie wissen nicht, was sie ankreuzen sollen, also stimmen sie über die eigene aktuelle Regierung ab.“ Auch Externer Link: El Periódico de Catalunya urteilt, die Spanier neigten dazu, die Europawahl zu nutzen, um mit der innenpolitischen Situation abzurechnen. Obwohl es Europawahl heiße, handele es sich in Wahrheit um nationale Wahlen in 27 Mitgliedstaaten, kommentiert die kroatische Tageszeitung Externer Link: Jutarnji list. Die italienische Tageszeitung Externer Link: Avvenire löst den Widerspruch auf: „Man kann Europa lieben, aber Angst vor Brüssel haben. Man kann von einem Kontinent der Soft Power träumen, aber nationalistische und regionalistische Impulse tolerieren; sich vereint fühlen, aber dennoch zu unterschiedlich; supranationale Regeln anstreben, aber zögern, das gemeinsame Gebäude zu vollenden; den Binnenmarkt schätzen, aber dem Euro misstrauen. … Die Europäer waren vielleicht noch nie so unschlüssig wie heute.“

Kräfteverhältnisse könnten sich drastisch verschieben

Die Frage danach, was der in Externer Link: Umfragen vorhergesagte starke Zuwachs des Rechtsaußen-Lagers für Europa bedeutet, hat in den Kommentarspalten zuletzt großen Raum eingenommen. Legen die rechtsnationale Fraktion Identität und Demokratie (ID) und die Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) zu, könnten gewohnte Mehrheitsfindungen des Mitte-Lagers aus EVP und Sozialdemokraten und Liberalen nicht mehr erreichbar sein. Die eine zweite Amtszeit anstrebende Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen deutete laut dem Externer Link: Spiegel bereits eine Offenheit für Kooperationen mit der EKR an. Auch der Externer Link: Ausschluss der AfD aus der ID-Fraktion wurde vor allem vor dem Hintergrund neuer Lagerbildungen debattiert, zumal noch weitere Kräfteverschiebungen anstehen könnten: Der nationalkonservative Fidesz von Viktor Orbán könnte nach der Wahl die EKR verstärken, während die liberal-zentristische Renew-Europe-Fraktion der niederländischen VVD nach ihrer Externer Link: Regierungsbildung mit Externer Link: der rechtspopulistischen PVV einen Ausschluss androhte. Die italienische Tageszeitung Externer Link: La Repubblica schlussfolgert: „Der Zusammenschluss der europäischen Rechten ist ein gemeinsames Projekt für Marine Le Pen und für Giorgia Meloni. … Mit der Aussicht auf eine neue gemeinsame Fraktion mit Orbán und dem ziemlich ehrgeizigen Ziel, zusammen entscheidend für den Aufbau einer neuen Mehrheit in Brüssel zu werden. Das ist es, was hinter den Schritten zur Isolierung der AfD steckt.“ Die dänische Zeitung Externer Link: Politiken ist allerdings der Ansicht, dass vorhandene Gegensätze einen monolithischen neuen Block verhindern könnten: „Giorgia Meloni hat zu keinem Zeitpunkt geschwankt in ihrer Unterstützung der Ukraine, während Marine Le Pen eine eher unklare, reformierte Putin-Freundin ist.“

Eine Gefahr für die EU und ihre Werte durch erstarkte, in der Regel europaskeptische Rechtspopulisten, beschreibt die Externer Link: taz: „Nicht raus aus der EU, sondern die Union von innen umkrempeln, heißt die neue Devise. Das macht Europas Rechte nicht weniger gefährlich – eher im Gegenteil.“ Ähnlich sieht es der Externer Link: bulgarische Dienst der Deutschen Welle: „Auf dem Papier akzeptieren sie die Strukturen und Regeln der EU und nutzen sie, um sie von innen heraus zu zerstören – unter dem Vorwand, dass man es besser machen will.“ Die slowenische Tageszeitung Externer Link: Večer formuliert es noch drastischer: „Eine Stimme für die Populisten ist eine Stimme für den langsamen Tod der europäischen Idee.“ Das griechische Webportal Externer Link: In bemängelt eine Lücke im politischen Angebot: „Solange in Europa nicht wieder eine linke und fortschrittliche Volkspartei aufgebaut wird, die in der Lage ist, die Radikalität des dringend notwendigen Wandels in einer Zeit vielfältiger Krisen mit Realismus und effektivem Regieren zu verbinden, sodass die Mittelschichten und die Arbeiterklasse einen Bezugspunkt erhalten, wird die Krise der europäischen Idee weitergehen und die extreme Rechte wird weiter an Boden gewinnen.“

Wie könnte ein Europa der Zukunft aussehen?

Die Frage, in welche Richtung Europa sich entwickeln sollte, beschäftigt die europäische Presse in etlichen Bereichen. Angesichts des russischen Kriegs gegen die Externer Link: Ukraine hat das Thema EU-Erweiterung und damit zusammenhängend die Frage von institutionellen Veränderungen Platz in den Kommentarspalten gefunden. Ein EU-Gipfel hatte im Dezember 2023 für die Ukraine den Weg zu Beitrittsverhandlungen frei gemacht, nachdem Ungarn, das lange blockiert hatte, bei der entscheidenden Abstimmung nicht anwesend war. Die dänische Tageszeitung Externer Link: Jyllands-Posten betont, die Entscheidung der EU, dass die Ukraine zu Europa gehöre, sei für die Ukrainer moralisch und politisch immer noch Gold wert. Externer Link: Weitere Beitrittskandidaten sind Albanien, Montenegro, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Moldau, Nordmazedonien, die Türkei und Georgien.

Georgien, das seit Dezember 2023 EU-Beitrittskandidat ist, scheint zerrissen zwischen West- und Ostorientierung. Externer Link: Im Mai verabschiedete das Parlament trotz monatelanger Massenproteste ein Gesetz, nach dem Medien und NGOs, die zu 20 Prozent oder mehr aus dem Ausland finanziert werden, einer verschärften staatlichen Überprüfung unterzogen werden. Das Gesetz scheint stark an russische Maßnahmen gegen sogenannte Externer Link: ausländische Agenten angelehnt. Externer Link: Brüssel übte scharfe Kritik: Das Gesetz verstoße gegen Grundprinzipien und Werte der EU und führe in mehreren Bereichen, die für den EU-Beitrittsprozess wichtig seien, zu Rückschritten. Die Externer Link: Tagesschau konstatiert: „Wenn es in diese Richtung weiter geht, wird es keine Beitrittsverhandlungen geben.“ Das portugiesische Wochenmagazin Externer Link: Visão betont hingegen die Rolle der proeuropäischen Demonstrierenden: „Die anhaltenden Proteste der Georgier gegen die erzwungene Annäherung ihres Landes an Russland und für die Beibehaltung ihres Wegs in ein vereintes Europa sind derzeit einer der größten Beweise für das Vertrauen in die Richtigkeit des europäischen Projekts.“

Die griechische Tageszeitung Externer Link: Naftemporiki hat grundsätzliche Vorbehalte gegen eine Erweiterung: „Stellen Sie sich vor, dass der Gemeinschaftsclub in Zukunft bis zu 36 Mitglieder mit mehr als 500 Millionen Einwohnern haben wird: Es wird ein noch heterogenerer 'Club' sein. … Einstimmige Entscheidungen – ohnehin schon oft eine schwierige Sache – würden fast unmöglich.“ Die Externer Link: Neue Zürcher Zeitung kritisiert die Langwierigkeit von Beitrittsprozessen: „Von den acht Ländern, denen vor zwanzig Jahren der Beitritt in Aussicht gestellt wurde, sind heute nur Slowenien (2004) und Kroatien (2013) Mitglieder. Bei den übrigen herrscht Stillstand.“ Eine Erweiterung liege im Interesse Europas, meint die estnische Zeitung Externer Link: Eesti Päevaleht, aber die EU müsse sich intern anpassen: „Es muss viel weniger Bereiche geben, in denen das Veto eines Landes den Fortschritt aller anderen verhindert. … Nur eine flexible und gut funktionierende EU kann (zusammen mit der Nato) das Überleben unseres Landes mit größtmöglicher Sicherheit gewährleisten.“

Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der Externer Link: Osterweiterung am 1. Mai, bei der Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern 2004 auf einen Schlag in die EU eingetreten sind, zieht Externer Link: Lidové noviny eine positive Bilanz: „Eine Bestandsaufnahme dieser zwanzig Jahre ist überraschend einfach. Der große Erfolg der tschechischen EU-Mitgliedschaft ist durch all das gekennzeichnet, was mit Freiheit zusammenhängt.“ Man habe eine gemeinsame europäische Identität entwickelt, urteilt die lettische Tageszeitung Externer Link: Diena: Die Entscheidung, der EU beizutreten, habe dazu geführt, dass das Land nicht in der Mitte zwischen Ost und West steckengeblieben sei.

Mehr Zusammenarbeit, mehr Investitionen, mehr Schwung

Im Bereich der Wirtschafts- und Verteidigungspolitik ist Frankreichs Präsident Emmanuel Macron einer derjenigen, die mit besonderer Vehemenz Reformen in der EU fordern. Europa brauche einen Investitionsschock, sagte er Externer Link: bei seinem Besuch in Deutschland im Mai. Die Verteidigungsfähigkeit Europas müsse gestärkt, die europäische Rüstungspolitik mehr unterstützt werden. Die Externer Link: Süddeutsche Zeitung ist skeptisch, was Vorschläge zu mehr öffentlichen Ausgaben für eine gemeinsame Industriepolitik angeht: „Ausgerechnet in Frankreich, wo seit jeher am lautesten nach Subventionen für die Industrie gerufen wird, gibt es kaum finanziellen Spielraum. Präsident Emmanuel Macron treibt die Schulden in gefährliche Höhen.“ Und Externer Link: Lidové noviny beobachtet: „Während der französische Präsident immer wieder betont, dass die EU-Länder wirtschaftlich und militärisch unabhängiger von den USA werden müssen, ist Bundeskanzler Scholz deutlich vorsichtiger.“ Angesichts hoher Staatssubventionen auf chinesische Produkte und milliardenschwerer Subventionen im Rahmen des „Inflation Reduction Act“ für US-Unternehmen, sieht sich Externer Link: Europa unter verstärktem Handlungsdruck. Im April beschloss der Europäische Rat das Ziel eines Externer Link: "New European Competitiveness Deal" zur Verbesserung der Externer Link: Wettbewerbsfähigkeit der EU. Investitionen sollten mehr Bedeutung bekommen und Abhängigkeiten der EU in kritischen Sektoren wie Energie und Biotechnologie verringert werden.

Bei der Sicherheitspolitik hat Macron in EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen eine Verbündete gefunden, die seit Jahren für Schritte hin zu einer Externer Link: europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion plädiert. „Es gibt heute kein wichtigeres Ziel, auf das sich die europäischen Staats- und Regierungschefs, einschließlich der polnischen Regierung, konzentrieren sollten“, urteilt Externer Link: Polityka. Externer Link: La Repubblica ist skeptisch: „Unvermeidliche Interessenskonflikte werden den Marsch in Richtung einer gemeinsamen Verteidigung bremsen.“

Externer Link: Les Echos fasst zusammen, wie die EU fit für die Zukunft werden sollte: „Drei Bereiche haben Priorität. Zunächst sollte ein Klima der Motivation und der Freiheit wiederhergestellt werden. Es ist wichtig, die Bürokratie sowie die EU-Regeln abzubauen, die auf nationaler Ebene oft noch verschärft werden. … Dann muss die Vereinigung des Binnenmarkts vorangetrieben werden, denn er ist ein großer kollektiver Vorteil. … Und schließlich ist die Vereinheitlichung unserer Kapitalmärkte ein zentrales Ziel, um die reichlich vorhandenen privaten Ersparnisse zu mobilisieren und sie in den Dienst privater Projekte zu stellen, vor allem wenn wir unsere Energiewende beschleunigen und vollständig in das digitale Zeitalter eintreten wollen.“ Und Externer Link: Le Quotidien wünscht sich neuen Schwung für Europa durch die Wahlen: „Es geht nicht um eine nationale Wahl. Das Thema ist und bleibt Europa. Es liegt an uns, es zu schützen und ihm den alten Glanz zurückzugeben.“

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