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Wie wählt Europa 2024?

Florian Grotz

/ 6 Minuten zu lesen

Vom 6. Juni bis zum 9. Juni 2024 wird das Europäische Parlament zum zehnten Mal seit 1979 direkt gewählt. Es ist somit das einzige Organ der Europäischen Union (EU), das über eine unmittelbare demokratische Legitimation verfügt. Da es für die Europawahlen nur wenige unionsweite Regelungen gibt, sind Wahlrecht und Wahlsystem in den 27 Mit-gliedstaaten unterschiedlich ausgestaltet.

Belgien: Logo des Europäischen Parlament an dessen Fassade in Brüssel (© picture-alliance, picture alliance / Daniel Kalker | Daniel Kalker)

Nach Art. 14 des Interner Link: Vertrags über die Europäische Union (EUV) wird das Interner Link: Europäische Parlament alle fünf Jahre in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl gewählt. Das Zeitfenster der Wahl wird vom Interner Link: Rat der EU festgelegt. Innerhalb dessen bestimmen die nationalen Regierungen den Wahltag für ihr Land. In Deutschland ist es diesmal der 9. Juni 2024.

Das Europäische Parlament besteht aus maximal 751 Abgeordneten. 2024 werden nur 720 Mandate vergeben, um noch Platz für künftige EU-Mitglieder freizuhalten. Jeder Mitgliedstaat erhält mindestens sechs und höchstens 96 Mandate. Diese national kontingentierte Mandatszuteilung geht zu Lasten der größeren Mitgliedstaaten: Während in Deutschland auf einen Europaabgeordneten rund 867.000 Einwohner entfallen, sind es in Malta nur 87.000 (eigene Berechnung nach Eurostat-Daten von 2023). Die ungleiche Repräsentation der Unionsbürgerinnen und -bürger im Europäischen Parlament ergibt sich indirekt aus zwei weiteren Anforderungen, die an seine Mandatsstruktur gestellt werden. Zum einen soll auch in kleineren Mitgliedstaaten eine pluralistische Interessenvertretung durch mehrere Parteien möglich sein, was bei weniger als sechs Mandaten kaum der Fall wäre. Zum anderen soll die Arbeitsfähigkeit des Europäischen Parlaments gewährleistet bleiben, was bei einer Größe von weit über 1000 Mandaten, die sich aus einem vollständig proportionalen Repräsentationsschlüssel ergäbe, fraglich wäre. Die „degressiv proportionale“ Mandatszuteilung spiegelt somit einen institutionellen Kompromiss zwischen dem föderalen Staatenprinzip und der Funktionalität des europäischen Regierungssystems wider.

Wer darf wählen?

Bei der Europawahl besitzt „jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat […] das aktive und passive Wahlrecht“ (Art. 22 Abs. 2 AEUV). Auch Personen mit zwei EU-Staatsangehörigkeiten haben nur eine Stimme und müssen sich daher entscheiden, wo sie diese abgeben. Verstöße dagegen müssen die Mitgliedstaaten effektiv ahnden (Beschluss (EU, Euratom) 2018/994 des Rates). Die weiteren Regelungen zum individuellen Wahlrecht unterliegen der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Wie bei nationalen Parlamentswahlen beträgt das Wahlalter in den meisten Ländern 18 Jahre (siehe Tabelle). In Deutschland wurde es im November 2022 durch die Ampelkoalition auf 16 Jahre gesenkt. Damit zählt die Bundesrepublik zu den insgesamt fünf Ländern mit geringerem Wahlalter (16 Jahre: Belgien, Malta und Österreich; 17 Jahre: Griechenland). In Belgien, Bulgarien, Luxemburg, Zypern und Griechenland besteht darüber hinaus Wahlpflicht.

Wer steht zur Wahl?

Beim passiven Wahlrecht liegt das Mindestalter in 14 EU-Staaten ebenfalls bei 18 Jahren. In den anderen gilt eine höhere Altersgrenze (siehe Tabelle): In zehn Ländern liegt sie bei 21 Jahren, in Rumänien bei 23 Jahren und in Griechenland und Italien bei jeweils 25 Jahren. Alle Kandidatinnen und Kandidaten treten in den einzelnen Ländern auf nationalen oder subnationalen Listen an. Elf Staaten haben eine gesetzliche Geschlechterquote (EPRS; Stand: Mitte 2023): Belgien, Frankreich, Italien und Luxemburg schreiben eine paritätische Listenbesetzung von Frauen und Männern vor (50 Prozent), Griechenland, Kroatien, Portugal, Slowenien und Spanien haben eine Mindestquote für jedes Geschlecht von 40 Prozent, Polen von 35 Prozent. Das rumänische Wahlgesetz verlangt eine ausgeglichene Repräsentation beider Geschlechter ohne ein spezifisches Quorum. Auch in den Staaten ohne gesetzliche Quotenregelungen haben sich Parteien freiwillig auf eine paritätische Listenzusammensetzung verpflichtet, wie z. B. Externer Link: Bündnis 90/Die Grünen in Deutschland.

Seit 2014 wird bei Europawahlen ein Interner Link: „Spitzenkandidatenmodell“ praktiziert, das in ähnlicher Form auch bei vielen nationalen Wahlen zur Anwendung kommt. Dabei bestimmen die großen Interner Link: europäischen Parteien jeweils eine Person, die im Falle eines Wahlsiegs das Amt des Kommissionspräsidenten übernehmen soll. Auf diese Weise wird ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Wählervotum und der Besetzung der EU-Exekutivspitze konstruiert, was den Europawahlen zusätzliche Bedeutung verleihen soll. Dieser Zusammenhang ist jedoch nicht rechtlich verbindlich. Zwar muss der Interner Link: Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs, der dem Europäischen Parlament die Kandidatin oder den Kandidaten für die Wahl des Kommissionspräsidenten vorschlägt, bei dieser Nominierung das Ergebnis der Europawahl „berücksichtigen“ (Art. 17 Abs. 7 EUV). Er ist jedoch nicht verpflichtet, sich für einen Spitzenkandidaten einer Partei zu entscheiden. So einigten sich die Staats- und Regierungschefs nach der Europawahl 2019 auf Ursula von der Leyen, die zwar aus den Reihen der elektoral erfolgreichsten Partei stammte, aber nicht deren Spitzenkandidatin war. Die Nominierung und Wahl von der Leyens löste eine kontroverse Debatte aus, inwieweit das Spitzenkandidatenmodell unter den gegebenen institutionellen Rahmenbedingungen die demokratische Qualität der EU stärkt oder schwächt. Letztlich spiegeln sich darin grundlegende Auffassungsunterschiede, ob die Legitimation der EU-Exekutive eher auf der unionsweiten Direktwahl des Europäischen Parlaments oder auf den demokratisch gewählten Regierungen der Mitgliedstaaten beruht.

Wie werden die Stimmen vergeben und die Mandate ermittelt?

Nach dem Interner Link: Direktwahlakt, der einheitliche Grundsätze für die Europawahlen definiert, werden die Mandate in allen Mitgliedstaaten nach Verhältniswahl vergeben. Darüber hinaus können die einzelnen Staaten auch subnationale Wahlkreise einrichten und eine Sperrklausel festsetzen, die fünf Prozent der Stimmen nicht überschreiten darf. Diese Spielräume zur Ausgestaltung des Wahlsystems nutzen die EU-Staaten in unterschiedlicher Weise (siehe Tabelle). Fast alle vergeben ihre Mandate in einem nationalen Wahlkreis. Dazu zählen auch Deutschland, Italien und Polen, wo die national ermittelten Mandate der einzelnen Parteien proportional auf regionale Listen verteilt werden. Nur zwei Staaten sehen eine rein subnationale Mandatsvergabe vor: Belgien, das jeweils einen Wahlkreis für die drei Sprachgemeinschaften eingerichtet hat, und Irland, das sein traditionelles Wahlsystem der übertragbaren Einzelstimmgebung (single transferable vote, STV) in drei regionalen Wahlkreisen anwendet. Hierbei können Wählerinnen und Wählern auf dem Stimmzettel per Nummerierung angegeben, in welcher Reihenfolge sie die Bewerberinnen und Bewerber gewählt sehen möchten.

Etwas mehr als die Hälfte der Mitgliedstaaten (14) haben eine Sperrklausel zwischen drei Prozent und fünf Prozent eingeführt. Ebenso viele wenden als Verrechnungsformel das Höchstzahlverfahren nach Interner Link: d’Hondt an, das tendenziell größere Parteien begünstigt, während die restlichen Staaten andere Höchstzahlverfahren nach Interner Link: Sainte-Laguë oder Wahlzahlverfahren nach Interner Link: Hare oder Droop mit je spezifischen Formeln für die Vergabe der Restmandate vorsehen. In zwölf Staaten können die Wählerinnen und Wähler die Listenreihenfolge nicht verändern (starre Listen), in zwölf weiteren können sie Präferenzen für einzelne Kandidatinnen und Kandidaten innerhalb einer Liste vergeben (lose gebundene Listen) und in drei Staaten können sie ein bestimmtes Stimmenkontingent frei auf verschiedene Listen verteilen (offene Listen).

Aufgrund des Zusammenspiels dieser Wahlsystemregeln variiert die Proportionalität zwischen Stimmen- und Mandatsanteilen erheblich. Am größten ist die Disproportionalität in den kleinsten Mitgliedstaaten, wo die geringe Anzahl der zu vergebenden Mandate eine hohe „natürliche Hürde“ bildet, die deutlich über dem europarechtlich zulässigen Maximum der gesetzlichen Sperrklausel liegt. So benötigen Parteien in Malta, Luxemburg und Zypern mindestens rund 10,7 Prozent der Stimmen, um ein Mandat zu gewinnen (Grotz und Weber 2016). Selbst in kleineren Staaten wie Lettland, in denen eine Fünf-Prozent-Klausel besteht, liegt die natürliche Hürde noch darüber (ca. 7,5 Prozent). In den größeren Mitgliedstaaten wird dagegen die tatsächliche Repräsentationsschwelle von der jeweiligen Sperrklausel bestimmt: In Frankreich und Polen liegt sie bei fünf Prozent und in Italien bei vier Prozent; in Spanien, wo es keine gesetzliche Hürde gibt, beträgt die faktische Schwelle dagegen nur rund 1,2 Prozent.

Nachdem das Bundesverfassungsgericht 2011 die zuvor bestehende Fünf-Prozent-Klausel bei Europawahlen für verfassungswidrig erklärt und dieses Urteil 2014 auch für eine Drei-Prozent-Klausel bestätigt hat, gilt in Deutschland keine gesetzliche Hürde mehr. Daher hat die Bundesrepublik mit rund 0,8 Prozent die europaweit geringste Repräsentationsschwelle. 2019 sind daherInterner Link: 14 deutsche Parteien ins Europäische Parlament eingezogen. Um einer solchen Zersplitterung künftig entgegenzuwirken, wurde eine Reform des Direktwahlaktes initiiert, die eine gesetzliche Sperrklausel zwischen zwei Prozent und fünf Prozent für Mitgliedstaaten mit mehr als 35 Mandaten verbindlich vorschreibt. Deutschland müsste demnach wieder eine entsprechende Sperrklausel einführen. Da der Reformentwurf jedoch nicht mehr rechtzeitig ratifiziert werden konnte, gibt es auch für die Europawahl 2024 keine gesetzliche Mindestschwelle, was wieder zu einer starken Fragmentierung des deutschen Mandatskontingents führen dürfte.

In Vielfalt geeint?

Insgesamt unterscheiden sich die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Europawahlen in den 27 Mitgliedstaaten zum Teil erheblich. Gleichzeitig sind sie deutlich homogener als die Wahlsysteme zu den nationalen Parlamenten. Zudem werden seit längerem Reformoptionen diskutiert, die zu einer weiteren Vereinheitlichung des Europawahlrechts führen sollen, wie die Einführung Interner Link: transnationaler Wahlkreise bzw. Listen. Solange aber die wichtigsten politischen Parteien überwiegend national organisiert sind, wird sich die gegenwärtige Balance zwischen Vielfalt und Einheit wohl auch bei künftigen Europawahlen nicht grundlegend ändern.

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Prof. Dr. Florian Grotz ist Professor für Politikwissenschaft an der Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr in Hamburg.