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Die Parteien in Deutschland vor der Europawahl

Oskar Niedermayer

/ 6 Minuten zu lesen

Oskar Niedermayer skizziert die Entwicklung des deutschen Parteiensystems seit der letzten Europawahl 2019 und verdeutlicht, mit welchem Spitzenpersonal und welchen inhaltlichen Positionen die Parteien in den Wahlkampf gehen.

Eine Europa-Flagge, mit ihrem Kranz aus fünf goldenen fünfzackigen Sternen, hat sich in einer Statue am Reichstag in Berlin verfangen. (© picture-alliance, picture alliance / Geisler-Fotopress | Christoph Hardt/Geisler-Fotopres)

Die Entwicklung des deutschen Parteiensystems war seit der letzten Externer Link: Europawahl von 2019 durch externe Schocks geprägt, die gravierende Krisen auslösten. Hinzu kamen zunehmende koalitionsinterne Streitigkeiten der nach der Externer Link: Bundestagswahl vom September 2021 gebildeten Regierung aus SPD, Grünen und FDP.

Externe Schocks nützen denjenigen Parteien, deren Führungspersonal sich in den Augen der Bevölkerung als führungsstarke Manager mit Krisenbewältigungskompetenz profiliert haben (Niedermayer 2023). Dies zeigte sich in der ersten Phase der durch die Externer Link: Coronapandemie ab dem März 2020 ausgelösten Krise an einer deutlichen Steigerung der Wählerunterstützung für die CDU/CSU. Vom zweiten externen Schock, dem Externer Link: russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ab dem 24. Februar 2022, profitierten anfangs vor allem die Grünen und der dritte Schock, der Interner Link: Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, der durch die folgenden Demonstrationen Debatten über Interner Link: „importierten muslimischen Antisemitismus“ in den Vordergrund treten ließ, nützte kurzfristig der AfD. Die Entwicklungen zeigen aber auch, dass die hierdurch bewirkten Veränderungen der Größenrelationen der Parteien durch Erwartungsenttäuschungen infolge von empfundenem Missmanagement und die Überlagerung durch andere Themen konterkariert werden können. Deutlich wurde dies z. B. im letzten Jahr, als Dauerkonflikte zwischen den Ampelparteien und eine von der Mehrheit der Bevölkerung in wesentlichen Bereichen wie der Energie- und Migrationspolitik nicht mitgetragene Regierungspolitik in eine Vertrauenskrise mündeten, die insbesondere der AfD Wählerinnen und Wähler zuführte und Anfang Januar 2024 ihren Höhepunkt erreichte. Seither hat sich die Lage für die Ampelparteien wieder etwas gebessert, dennoch drohen vor allem den Grünen und der FDP bei der Europawahl nach jetziger Einschätzung im Vergleich zur letzten Wahl Stimmenverluste, während CDU/CSU und AfD mit Zugewinnen rechnen können.

Neben den im Bundestag vertretenen Parteien wird wohl auch das erst Anfang Januar 2024 gegründete „Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) für Vernunft und Gerechtigkeit“ in das Europäische Parlament (EP) einziehen. Zudem dürften auch bei dieser Wahl wieder mehrere Kleinparteien mit ein bis zwei Mandaten zum Zuge kommen, da das Bundesverfassungsgericht 2011 die bis dahin geltende Fünfprozenthürde für verfassungswidrig erklärt hat. Trotz mehrfacher Anläufe auf nationaler wie europäischer Ebene konnte bisher kein Gesetz mit einer neuen Sperrklausel verabschiedet werden. Bei der Wahl von 2019 genügte schon ein Ergebnis von 0,7 Prozent der Stimmen für das erste Mandat.

Die Spitzenkandidatinnen und -kandidaten der Parteien

Seit der Europawahl 2014 gibt es nicht nur die jeweiligen nationalen, sondern auch europaweite Interner Link: Spitzenkandidatinnen und -kandidaten. Sie werden von den Interner Link: "europäischen Parteien", also den europaweiten Zusammenschlüssen nationaler Mitgliedsparteien, aufgestellt und werden nach der Wahl in der Regel die Vorsitzenden ihrer Fraktionen im EP. Zudem erhebt die aus der Wahl als Siegerin hervorgehende Partei Anspruch auf den Vorsitz der EU-Kommission.

In Deutschland nehmen die CDU und die CSU mit Landeslisten an der Wahl teil, alle anderen Parteien mit einer Bundesliste. An die Spitze der bayerischen CSU-Liste wurde der Vorsitzende der Fraktion der Interner Link: Europäischen Volkspartei (EVP) im EP, Manfred Weber, gewählt. Die CDU-Landesverbände stellten ihr eigenes Spitzenpersonal auf, CDU und CSU deklarierten aber die amtierende EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die die Europäische Volkspartei in den Wahlkampf führt, auch als ihre Spitzenkandidatin und beschlossen ein gemeinsames Wahlprogramm. Spitzenkandidatin der SPD ist die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments und ehemalige Bundesjustizministerin Katarina Barley, zum europäischen Spitzenkandidaten der Interner Link: Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) wurde der Luxemburger Nicolas Schmit, derzeitiger EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte, gewählt. Die Grünen werden von der Co-Fraktionsvorsitzenden der Grünen/Europäischen Freie Allianz im EP Terry Reintke angeführt, die zusammen mit dem Vize-Fraktionsvorsitzenden Bas Eickhout auch das Spitzenduo der Interner Link: Europäischen Grünen Partei (EGP) bildet. Spitzenkandidatin der FDP ist die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Die europäischen Liberalen haben sich auf ein Trio geeinigt, das jede der drei Säulen ihrer politischen Familie verkörpert: Strack-Zimmermann von der Interner Link: Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) sowie die Europaabgeordneten Sandro Gozi von der Europäischen Demokratischen Partei (EDP) und die fraktionslose Valérie Hayer von Frankreichs Regierungspartei Renaissance. Spitzenkandidat der AfD ist der Europaabgeordnete Maximilian Krah, die europäische Identität und Demokratie Partei (IDP) geht ohne Spitzenkandidaten in die Wahl. Die Linkspartei wählte den Parteivorsitzenden und Co-Vorsitzenden der Fraktion Die Linke im Europäischen Parlament (GUE/NGL) Martin Schirdewan und die parteilose Flüchtlings- und Klimaaktivistin Carola Rackete zum Spitzenduo. Gemeinsamer Spitzenkandidat der Partei der Europäischen Linken (EL) ist ihr Vorsitzender Walter Baier von der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ). Das BSW tritt mit einem Duo an: dem ehemaligen Bundestagsabgeordneten der Linkspartei Fabio de Masi und dem früheren SPD-Oberbürgermeister von Düsseldorf Thomas Geisel.

Bedeutsame inhaltliche Gemeinsamkeiten und Differenzen

Die generelle Haltung zur Europäischen Union unterscheidet sich zwischen den Parteien gravierend: Während die Union, die SPD, die Grünen und die FDP ihre verschiedenen Reformvorstellungen, die vor allem eine verstärkte Parlamentarisierung umfassen, mit einer grundsätzlichen Bejahung der gegenwärtigen Vertragsgrundlagen verbinden, fordert die Linkspartei eine radikale Umgestaltung der EU durch einen Verfassungskonvent unter Einschluss von Nichtregierungsorganisationen. Auch das BSW übt fundamentale Kritik an der EU in ihrer jetzigen Form und fordert eine Stärkung der nationalen Ebene. Die AfD hält die EU für nicht reformierbar und strebt einen Bund europäischer Nationen in Form einer die Souveränität der Mitgliedstaaten wahrenden Wirtschafts- und Interessengemeinschaft an. Sollten sich die Vorstellungen ihrer Partei nicht verwirklichen lassen, sprach sich die Co-Vorsitzende Alice Weidel für eine Volksabstimmung über den EU-Austritt Deutschlands aus.

Auch in Bezug auf die einzelnen Politikbereiche gibt es zwischen den Parteien erhebliche Unterschiede. Die unterschiedlichen Forderungen der Parteien für die europäische Ebene spiegeln dabei ihre Positionierung auf den beiden zentralen Konfliktlinien des nationalen Parteienwettbewerbs wider, wie am Beispiel der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik auf der einen Seite und der Migrationspolitik auf der anderen Seite gezeigt werden kann. Im sozioökonomischen Sozialstaatskonflikt bildet die Linkspartei den staatsinterventionistischen, umverteilungsorientierten Pol. Sie fordert, die Finanzmärkte und Banken zu entmachten, direkte Staatsbeteiligungen an Unternehmen europarechtlich zu ermöglichen, große Immobilienkonzerne zu vergesellschaften und europaweite soziale Mindeststandards einschließlich eines Mindesteinkommens und verbindlicher Mietobergrenzen einzuführen. Zudem soll der Interner Link: Stabilitäts- und Wachstumspakt reformiert werden, um öffentliche Investitionen von der Schuldengrenze auszunehmen. Letzteres wird auch von der SPD, den Grünen und dem BSW geteilt. Während jedoch SPD und Grüne eine Weiterentwicklung der Europäischen Union zu einer echten Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialunion mit eigenständigen Einnahmen fordern, lehnt das BSW die Einführung neuer Eigenmittel der EU ab. In der Steuerpolitik fordern alle vier Parteien eine möglichst einheitliche europäische (Mindest-)Unternehmensbesteuerung und die Einführung einer Interner Link: Finanztransaktionssteuer. Den Gegenpol bildet die FDP, die die Kräfte der Marktwirtschaft entfalten will, sich für eine konsequente Haushaltsdisziplin und wie die CDU/CSU gegen jegliche verstetigte Form von Schulden- und Transferunion sowie gegen einheitliche Steuern ausspricht. Am weitesten geht in diesem Bereich die AfD, die Steuerharmonisierungen und einheitliche soziale Mindeststandards ablehnt, sich für eine deutliche Verringerung des EU-Haushalts ausspricht und die Wiedereinführung nationaler Währungen fordert.

Auch in der sozio-kulturellen Konfliktlinie, konkretisiert an der Interner Link: Migrations- und Asylpolitik, bilden die Linkspartei und die AfD die beiden Pole. Die Linke steht für eine uneingeschränkt „solidarische und humane“ Migrations- und Asylpolitik ohne Abschottung. Sie lehnt daher jegliche Grenzkontrollen, Abschiebungen und die Auslagerung von Asylverfahren in Drittländer ab und fordert eine europäische Seenotrettungsmission sowie die uneingeschränkte Gewährleistung einer „menschenwürdigen Versorgung und Unterbringung von Schutzsuchenden“ und des Familiennachzugs. Zudem sollen Armuts-, Umwelt- und Klimaflüchtlinge verbindliche Flüchtlingsrechte bekommen. Die Grünen, die eine ähnlich migrationsfreundliche Haltung vertreten, legen Wert auf ein europäisches Asylsystem mit einem fairen und solidarischen Verteilungsmechanismus zwischen den EU-Staaten. Die AfD als Partei des autoritären Pols hingegen fordert eine „Festung Europa“, die die „irreguläre und illegale Masseneinwanderung aus kulturfremden Regionen“ beendet. Dazu gehören ein strikter Grenzschutz sowohl an den Außengrenzen durch physische Barrieren und die Abweisung aus Seenot geretteter Menschen als auch an der deutschen Grenze durch eine Reform des Interner Link: Schengen-Abkommens. Zudem sollen „Remigrationsprogramme auf- und ausgebaut“, Asylverfahren in Drittstaaten durchgeführt und sämtliche Bleiberechtsregelungen für Ausreisepflichtige abgeschafft werden. Auch das BSW fordert eine restriktive EU-Politik, die die „illegale Migration stoppt“. Gleichzeitig soll die EU mit ihrer Politik dazu beitragen, die Ursachen für Flucht und Migration zu bekämpfen und die Perspektiven der Menschen in ihren Heimatländern zu vergrößern.

Gravierende Differenzen zeigen sich auch in der Klimapolitik. Die Linkspartei und die Grünen fordern den Ausbau erneuerbarer Energien sowie die Festlegung verbindlicher Emissionsgrenzwerte hin zur Klimaneutralität, lehnen die Kernenergie ab und setzen sich für mehr Klimagerechtigkeit ein. Die AfD hingegen lehnt EU-Programme zum Klimaschutz und die Festlegung von Grenzwerten grundsätzlich ab und fordert, fossile Energiegewinnungsmethoden und die Kernenergie weiterhin zu unterstützen.

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Prof. Dr. Oskar Niedermayer ist emeritierter Professor und ehemaliger Leiter des Otto-Stammer-Zentrums an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Parteien und Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland.